Es sind drei Zahlen, die das Unglück beschreiben. 21, 500 und 10.000. 21 Menschen starben im Gedränge. Weit mehr als 500 wurden körperlich und mehrere 10.000 seelisch schwer verletzt. So steht es auf der Gedenktafel gleich neben der steilen Treppe. Begreifbar machen, was geschehen ist, können die Zahlen nicht.

Vor zehn Jahren ereignete sich die Loveparade-Katastrophe in Duisburg. Zu viele Menschen auf zu engem Raum, ein mangelhaftes Sicherheitskonzept, Fehler in der Planung und Versagen der Kommunikation bei den Sicherheitskräften führten zu einem unerträglichen Gedränge am Ein- und Ausgang, der viel zu klein, viel zu eng war. Eine halbe Million Menschen sollte an diesem Tag das Gelände über eine einzelne Rampe und einen Tunnel betreten und wieder verlassen. 21 Menschen verließen ihn nie wieder.

Lisa Köhler hat überlebt, doch sie gehört zu den 10.000, die auf der Gedenktafel erwähnt werden. Zu den seelisch Schwerverletzten. Sie ist 15 Jahre alt, als sie mit zwei Freunden und einer Freundin den Zug von Bottrop zum Duisburger Hauptbahnhof nimmt. Gegen 14 Uhr kommen sie an, da ist die Stadt längst voller Menschen. Von dort zum Festivalgelände sind es eigentlich bloß zehn Minuten Fußweg. Schon unterwegs wird es bedrohlich eng, es geht nur langsam voran. 

Als sie am Tunnel zum Eingang angelangen, kommt ihnen eine junge Frau entgegen. "Sie hatte Dreck im Gesicht und am ganzen Körper. Sie schrie: 'Geht nicht weiter, hier sterben Menschen.' Wir dachten, sie hätte vielleicht zu viel getrunken oder Drogen genommen", erinnert sich Köhler heute. Ab da verschwimmt manches in ihrer Erinnerung. Aber wie es im Tunnel riecht damals, das weiß sie noch genau: nach Schweiß und Erbrochenem. Sie weiß noch, dass sie einem jungen Mann, der leblos am Boden liegt, Wasser ins Gesicht kippt, versucht zu helfen. Später sieht sie einen Rettungssanitäter, der den Mann mit einer Silberfolie bedeckt.

Lange spricht Köhler fast gar nicht darüber, was sie gesehen und erlebt hat. Wochen später bekommt sie Bauchschmerzen, schläft schlecht, aber traumlos. Die Ärzte checken sie durch, ergebnislos. An eine Verbindung zur Loveparade denkt zunächst niemand. Sie schaltet den Fernseher ab, wenn ein Bericht über die Katastrophe läuft, blättert um, wenn etwas in der Zeitung steht. Sie will nichts davon wissen. Mit ihren Eltern redet sie kaum, weil sie nicht will, dass die sich Vorwürfe machen. Köhler hat Schuldgefühle. "Ich habe mich oft gefragt: Hätte ich mehr tun können?"

Erst, als sie noch Wochen später einmal schreiend aus dem Schlaf hochschreckt, bekommt ihr Vater das mit, ahnt etwas. Er spricht sie auf die Loveparade an, auf die Katastrophe. Dann spricht der Hausarzt mit ihr. Danach würde er sie am liebsten stationär aufnehmen lassen. Aber Köhler hat gerade eine Ausbildung angefangen bei der Sparkasse. Da will sie nicht so lange fehlen. Also geht sie zur ambulanten Therapie, jeden Freitag nach der Arbeit für 50 Minuten. Manchmal spricht sie mit ihrer Therapeutin über den Tag und wie sie damit umgeht, manchmal nur über Probleme mit Freunden oder darüber, wie die Woche so lief. Ihre Freundin, die in Duisburg dabei war, probiert es auch, bricht die Behandlung jedoch ab.

Lisa Köhler war 15, als sie die Loveparade besuchte. © Maximilian Mann für ZEIT ONLINE

Der 24. Juli 2010 hätte für Lisa Köhler ein schöner Tag werden sollen, für das Ruhrgebiet eines der Highlights des Jahres in einer Region, die sonst selten durch Highlights auffällt. Kohle und Stahl bringen längst kein Geld mehr, das endgültige Zechenende war drei Jahre zuvor beschlossen worden. Die Arbeitslosigkeit in Duisburg ist fast doppelt so hoch wie im Bundesdurchschnitt, der Stadtteil Marxloh gern genommen für Blaulichtreportagen und politische Parolen. Viel ist vom Strukturwandel die Rede, was auch dazu dient, der Strukturschwäche ein bisschen Hoffnung beizumischen.

Das ist wichtig, um zu verstehen, wie es zu dem Unglück kommen konnte. Die Metropole Ruhr ist 2010 europäische Kulturhauptstadt, die Loveparade soll eines der größten und jüngsten Events in diesem Jahr werden, soll etwas von der Sogkraft mitbringen, die sie in Berlin seit den Neunzigern entfaltete. Sie ist Teil einer riesigen, dringend benötigten Imagekampagne fürs Revier.

In Essen 2007 und in Dortmund 2008 hatte es bereits eine Loveparade gegeben. Schon dort gab es Gedränge und Engpässe um die Hauptbahnhöfe. Bochum hatte 2009 die Veranstaltung abgesagt, weil der damalige Polizeipräsident das Sicherheitskonzept anzweifelte. Monate später musste er seinen Posten räumen. Die Städte im Ruhrgebiet sind eine missgünstige Schicksalsgemeinschaft. Eine Pleite wie in Bochum wollte man in Duisburg unbedingt vermeiden. Die Veranstaltung war politisch und wirtschaftlich unbedingt gewollt. Es war ein Glücksspiel, der Einsatz waren Menschenleben. Und die Stadt hatte sich verzockt.