Der Fluch der absoluten Pünktlichkeit

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In Amagasaki raste ein Zug in ein Wohnhaus.

In Amagasaki raste ein Zug in ein Wohnhaus.

Japans Lokführer werden drastisch bestraft, wenn ihre Bahnen zu spät kommen.

Tokio - Noch immer trauern Menschen, beten, legen Blumen nieder an der Stelle, wo im japanischen Amagasaki eine S-Bahn in ein Wohnhaus raste und 107 Passagiere in den Tod riss. Sechs Wochen nach dem schweren japanischen Eisenbahnunglück ist die Betreibergesellschaft JR West in Erklärungsnot. Stets neue Vorwürfe über fehlende Sicherheitssysteme und den ungeheuren Stress der Fahrer werden laut. „Im Wettbewerb mit anderen Betreibern sind unsere Fahrpläne extrem eng, wir haben uns zu sehr darauf konzentriert, die Ankunftszeit eines Zuges zu verkürzen“, gestand der Chef von JR West, Takeshi Kakiuchi, jetzt ein.

Die Zugführer hätten kaum eine Chance, einen Fehler gutzumachen. Am vorläufigen Ende der Untersuchungen ist klar: Der Bahnführer Ryujiro Takami, der am 25. April mit überhöhter Geschwindigkeit in eine Kurve raste, hatte schlicht Angst vor einer harten Bestrafung. Der 23-Jährige wollte eine Verspätung von 90 Sekunden aufholen. Bei dem riskanten Manöver kippte der Zug aus den Schienen und schleuderte gegen einen Wohnblock. Der Stolz der Japaner, Weltmeister bei der Pünktlichkeit zu sein, wird nun in Frage gestellt. Die Ermittlungen von Amagasaki zeigen, dass dieses Unglück nicht der Hektik eines einzelnen jungen Fahrers zuzuschreiben ist, sondern dass ähnliche Katastrophen täglich möglich wären.

Geschockt diskutiert Japans Öffentlichkeit die „fatale Obsession für Pünktlichkeit“. In der Kritik stehen dabei besonders die Arbeitsbedingungen bei der JR West. Das Unternehmen - so berichteten Gewerkschaftsführer - setze Zugführer mit „einem Klima der Angst“ zur Einhaltung der Fahrpläne unter Druck. Verspätungen von mehr als 45 Sekunden gelten intern als „Verrat am Vertrauen der Fahrgäste“. Fahrer würden schon wegen kleiner Fehler bestraft und demütigenden Schulungen ausgesetzt. Diese „Erziehung“ kann 30 bis 40 Tage dauern, in denen die Betroffenen vom Dienst suspendiert werden und in langen Aufsätzen beschreiben müssen, was sie falsch gemacht und der Gesellschaft und den Passagieren angetan haben. Dabei werden sie von Instruktoren angebrüllt und beleidigt. Es gibt auch Berichte, JR-Angestellte müssten zur Strafe Unkraut jäten, Fenster putzen oder Gebäude anstreichen. Fahrer mussten sich auf Bahnsteigen den ganzen Tag vor Ankommenden verneigen und sich entschuldigen. Während dieser „Erziehungszeit“ erhalten sie nur einen Minimallohn. Diese Disziplinierung endet zuweilen tragisch. Vor vier Jahren beging ein Zugführer nach einer solchen Sondererziehung Selbstmord. Schon damals hatte sein Vater gemahnt: „Es ist notwendig, ein Arbeitsklima zu schaffen, in dem die Fahrer sich auf die Sicherheit konzentrieren, anstatt sich um Verspätungen zu sorgen“. Aber erst nach der Katastrophe von Amagasaki wird diese Debatte nun geführt.

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