Politik

Fakten und Vorurteile Woher kommen all die Flüchtlinge?

Am vergangenen Freitag vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales: Die Flüchtlinge mussten im Freien campieren, konnten sich aber immerhin abkühlen.

Am vergangenen Freitag vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales: Die Flüchtlinge mussten im Freien campieren, konnten sich aber immerhin abkühlen.

(Foto: dpa)

Nach Deutschland kommen vor allem Flüchtlinge aus sicheren Herkunftsländern, die meisten Flüchtlinge sind Männer und gering qualifiziert. Stimmt das? n-tv.de überprüft acht gängige Vorurteile auf ihren Wahrheitsgehalt.

"Die meisten Flüchtlinge kommen aus sicheren Herkunftsländern."

Das stimmt nicht. Im aktuellen Ranking der Herkunftsländer steht Syrien an erster Stelle, gefolgt von Albanien, Afghanistan, dem Irak, Serbien, dem Kosovo, Eritrea, Mazedonien, Pakistan und Montenegro.

Asyl-Anträge im Juni 2015 nach Herkunftsländern (Quelle: BAMF).

Asyl-Anträge im Juni 2015 nach Herkunftsländern (Quelle: BAMF).

Aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und Pakistan fliehen die Menschen vor Bürgerkrieg und Terror, aus Eritrea fliehen sie vor massiver Unterdrückung – das Land am Roten Meer gilt als das "Nordkorea Afrikas". Die Flüchtlinge aus diesen Ländern machten im Juni mehr als 40 Prozent aller Asylbewerber aus. Aus Balkanländern kamen 31,8 Prozent.

Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina waren im vergangenen Jahr als "sichere Herkunftsstaaten" eingestuft worden, die Union und Teile der SPD wollen auch Albanien, das Kosovo und Montenegro in diese Liste aufnehmen. Linke und Grüne lehnen dies ab: In diesen Staaten gebe es "rassistische Verfolgung", die sich vor allem gegen Roma richte, sagt Linken-Chef Bernd Riexinger. Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sieht das ähnlich: "Einstufungen bestimmter Länder auf dem Papier ändern nichts. Das ist armselige Symbolpolitik."

Insgesamt haben von Januar bis Juni 2015 knapp 180.000 Menschen einen Antrag auf Asyl in Deutschland gestellt. Das sind nur 20.000 weniger als im gesamten Vorjahr. Allgemein wird erwartet, dass die Zahl am Ende des Jahres höher sein wird als 1992. Damals, während der Jugoslawienkriege, beantragten knapp 440.000 Menschen in Deutschland Asyl, so viele wie in bisher keinem anderen Jahr.

"Ganz Afrika kommt nach Europa."

Der britische Außenminister Philip Hammon warnt bereits vor "marodierenden Migranten" und sagt, solange es einen Kluft im Lebensstandard zwischen Europa und Afrika gebe, werde es immer "Millionen von Afrikanern" geben, die aus wirtschaftlichen Gründen versuchen würden, nach Europa zu gelangen.

Bereits ein flüchtiger Blick auf die Top Ten der Herkunftsländer zeigt, dass diese Befürchtung Unsinn ist. Auch Afrikaner verlassen ihre Heimat vor allem, um vor Krieg und massiver Unterdrückung zu fliehen. Nur gehen sie meist nicht in Richtung Europa, sondern bleiben auf ihrem Kontinent: Nirgends sind so viele Menschen auf der Flucht wie in Afrika. Vor allem südlich der Sahara: Dort gibt es nach Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks 15 Millionen Flüchtlinge. Die meisten von ihnen kommen aus Burundi, Nigeria, Südsudan, Kongo, Somalia oder der Zentralafrikanischen Republik.

"Das Boot ist voll."

Mit Blick auf die Unterbringung von Flüchtlingen scheint dies in einigen Städten zu stimmen. Beispiel Berlin, das Muster einer Stadt, die unter Wohnraum-Mangel, knappen Kassen und einer zusammengesparten Verwaltung leidet: Die Stadt muss derzeit täglich rund 400 neue Flüchtlinge unterbringen. Nach Stellenkürzungen in den vergangenen Jahren ist das zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales heillos überfordert. Auf dem Gelände des Lageso im Stadtteil Moabit campierten in der vergangenen Woche mehr als tausend Flüchtlinge – sogar die Wasserversorgung wurde knapp. Andere schliefen auf der Straße, weil sie angesichts der Touristensaison mit den Hostel-Gutscheinen nichts anfangen konnten.

Allerdings stellt sich die Frage, warum Bundesländer und Kommunen überhaupt für die Unterbringung von Flüchtlingen zahlen müssen. Denn bislang beteiligt sich der Bund nur zu einem Teil an den Kosten. Brandenburg etwa, rechnet der "Tagesspiegel" vor, bekommt vom Bund in diesem Jahr 15 Millionen Euro, erwartet aber Kosten für Flüchtlinge in Höhe von 200 Millionen Euro.

Dennoch: Die Probleme bei der Unterbringung sind kein Hinweis auf räumliche oder finanzielle Engpässe, sondern auf politisches Versagen. Deutschland hat mehr als 80 Millionen Einwohner. Zwischen 1990 und 2014 stellten 3,2 Millionen Menschen einen Asylantrag. Sicherlich ist das eine gewisse logistische Herausforderung, keinesfalls jedoch eine Überforderung.

"Einwanderung gleicht den Geburtenrückgang in Deutschland aus."

Das stimmt nur zum Teil. Migration – ob von Flüchtlingen oder aus EU-Ländern – kann den Bevölkerungsrückgang ausgleichen und den Rückgang der Erwerbsbevölkerung abfedern. Die Überalterung der Gesellschaft kann Einwanderung aber nicht kompensieren.

Studien darüber, wie viele Einwanderer eine Gesellschaft problemlos integrieren kann, gibt es übrigens nicht. Eine solche Fragestellung wäre auch unseriös, sagt Frank Swiaczny, Leiter der Forschungsgruppe Demografischer Wandel und Weltbevölkerung am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. "Das hängt von zu vielen Faktoren ab – beispielsweise vom sprachlichen und kulturellen Hintergrund der Migranten, aber natürlich auch von der Bereitschaft der Aufnahmegesellschaft, Zuwanderer aufzunehmen und zu integrieren."

"Die meisten Flüchtlinge sind gering qualifiziert."

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erfasst nicht systematisch, welchen Bildungsabschluss ein Asylbewerber hat. Wer Asyl beantragt, kann Auskunft über seine Ausbildung geben, muss dies aber nicht tun. Den vorliegenden Zahlen zufolge hatten 15 Prozent der Asylbewerber des vergangenen Jahres eine Hochschule besucht. Das gilt vor allem für Syrer: Laut BAMF geben etwa 21 Prozent der syrischen Flüchtlinge an, eine Fachhochschule oder Universität besucht zu haben.

Mit Blick auf alle Zuwanderer sagt Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, am oberen Ende seien sie klar besser qualifiziert als die Deutschen. "Was uns ein bisschen fehlt, ist die Mitte, also die klassischen Facharbeiterqualifikationen."

In einigen Bundesländern will die Bundesagentur für Arbeit jetzt Mitarbeiter in Erstaufnahmeeinrichtungen schicken, um geeignete Job-Bewerber zu suchen. Zudem hat die Bundesregierung den Zugang zum Arbeitsmarkt für Flüchtlinge erleichtert. Grundsätzlich jedoch sind die Wege zu Asyl und Arbeitsvisum in Deutschland strikt getrennt.

"Die meisten Flüchtlinge sind junge Männer."

Das stimmt. 2014 wurden 66,6 Prozent der Erstanträge auf Asyl von Männern gestellt. 70,5 Prozent der Asylbewerber waren jünger als 30 Jahre.

Anteil von Frauen und Männern an den Asylanträgen 2014 (Quelle: BAMF).

Anteil von Frauen und Männern an den Asylanträgen 2014 (Quelle: BAMF).

Interessant ist aber ein Blick auf die Unterschiede je nach Herkunftsland. Auffallend ist, dass vor allem aus den Bürgerkriegsländern mehr Männer als Frauen kommen. Von den syrischen Asylanträgen wurden im vergangenen Jahr 71 Prozent von Männern eingereicht – bei den Serben waren es dagegen nur 51,4 Prozent Männer. Die Anträge von Personen aus Eritrea kamen sogar zu fast 80 Prozent von Männern. Damit ist klar: Je weiter und damit gefährlicher die Reise nach Deutschland, umso geringer ist der Anteil von Frauen.

Unter den Kindern bis 16 Jahren, die immerhin 28 Prozent der Asylbewerber ausmachen, ist das Verhältnis von Jungen und Mädchen fast ausgeglichen.

"Wer die Schlepper bekämpft, hilft den Flüchtlingen."

Diese Aussage ist so verlogen wie das europäische Asylrecht. Die Syrer, die es mit Fluchthelfern über das Mittelmeer an einen europäischen Strand und schließlich nach Deutschland geschafft haben, gelten hierzulande als "gute" Flüchtlinge. Ihre Landsleute, die noch in der Türkei, im Libanon oder in Ägypten auf ihre Chance zur Überfahrt warten, gehören zum unerwünschten Strom der illegalen Einwanderer, der mit grenzpolizeilichen Maßnahmen abgewehrt wird.

"Auch abgelehnte Asylbewerber bleiben in Deutschland."

Stimmt – nicht mehr. "Menschen, deren Asylantrag in Deutschland abgelehnt wurde und die auch sonst kein Aufenthaltsrecht in Deutschland erhalten, müssen das Land nach den Vorschriften deutscher Gesetze wieder verlassen", heißt es in einem Film, mit dem das Bundesinnenministerium potenzielle Asylbewerber vom Balkan abschrecken will. "Die hohen Kosten der Abschiebung von meist vielen tausend Euro werden dann dem Abgeschobenen in Rechnung gestellt und können noch nach vielen Jahren eingefordert werden."

Der Film soll eine Trendwende markieren: Bis vor kurzem konnten abgelehnte Asylbewerber darauf hoffen, nicht abgeschoben, sondern "geduldet" zu werden. Derzeit gibt es rund 125.000 Geduldete in Deutschland. Beim Flüchtlingsgipfel im Juni einigten sich Bund und Länder, künftig schneller und konsequenter abzuschieben.

Die Zahl der Abschiebungen steigt allerdings bereits seit 2014. Im vergangenen Jahr wurden 10.884 Menschen abgeschoben, so viele wie seit 2006 nicht mehr. Im ersten Halbjahr 2015 waren es 8178. Freiwillig kehrten von Januar bis Juni mehr als 12.600 Menschen in ihre Heimat zurück. 85 Prozent von ihnen stammten aus Balkan-Staaten.

Übrigens: Dass Deutschland "ausländischer" wird, liegt auch an der Abwanderung. Seit Jahren wandern mehr Deutsche aus, als wieder zurückkehren. Per Saldo verliert die Bundesrepublik pro Jahr rund 25.000 deutsche Staatsbürger.

Quelle: ntv.de, mit dpa/rts

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