Erdogan ignoriert Manipulationsvorwürfe – und erklärt sich zum Wahlsieger: Jetzt will er die Todesstrafe

Opposition will Ergebnis anfechten und fordert Neu-Auszählung ++ Proteste in Istanbul ++ Angeblich 51,4 Prozent Ja-Stimmen

Die Türkei hat gewählt! Und sich dabei für ein Präsidialsystem entschieden.

Die türkische Wahlkommission hat das „Ja“-Lager nach dem vorläufigen Abstimmungsergebnis zum Sieger des Referendums über die Einführung eines Präsidialsystems erklärt. Nach dem vorläufigen Resultat habe das „Ja“-Lager gewonnen, sagte Kommissionschef Sadi Güven am Sonntagabend in einer im Fernsehen übertragenen Erklärung.

Die staatliche Nachrichtenagentur „Anadolu“ hatte zuvor eine Zustimmung von 51,4 Prozent gemeldet. 48,6 Prozent der Wähler hatten sich demnach gegen die Verfassungsänderung ausgesprochen.

► Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte sich am Abend zum Sieger! Nach Informationen aus dem Präsidialamt hat er der Regierung zum Ausgang des Referendums gratuliert. Das Ergebnis sei für ihn klar.

Er sprach von einer „historischen Entscheidung“, die zu einem neuen Regierungssystem führen werde. Jetzt werde es den Übergang zum Präsidialsystem geben. Seine Behauptung: Rund 25 Millionen Türken hätten bei dem Referendum mit „Ja“ gestimmt, Damit lägen die Befürworter um 1,3 Millionen Stimmen vor den „Nein“-Sagern. 

Und Erdogan kündigte an: Das Thema Todesstrafe komme jetzt schnell auf die Tagesordnung! Das werde eine seiner ersten Aufgaben sein. Er werde das mit allen Parteien besprechen. „Und wenn wir so ein Gesetzt vorliegt, bin ich bereit, es zu unterschreiben“, so der türkische Präsident.

An Europa gerichtet sagte er: „Der Westen hat uns angegriffen aber ihr habt die richtige Antwort gegeben. Mit euch haben wir noch zu tun“.

Auch Ministerpräsident Yildirim sprach am Abend vor Anhängern von einem Wahlsieg. „Das türkische Volk hat mit Ja gestimmt“, so Yildirim. Damit eröffne die Türkei ein neues Kapitel in ihrer Geschichte. Er bedankte sich bei den Wählern – insbesondere bei Erstwählern und den Auslandstürken – und ergänzte: „Ein ganz besonderer Dank geht an unseren Präsidenten Erdogan!" Bei dem Referendum gebe es „keine Verlierer, sondern nur Gewinner. Jetzt ist die Zeit, dass wir eine starke Türkei werden", so Yildirim. 

Vorwurf der Wahlmanipulation

► Das Ergebnis wird von der größten Oppositionspartei CHP angezweifelt. Sie werde rund 60 Prozent der Stimmzettel anfechten, verkündete sie am Sonntagabend. Grund: Stimmzettel, auf denen weder „Ja“ noch „Nein“ vermerkt war, wurden demnach als „Ja“-Stimmen gewertet.

► Kritik gibt es auch an der staatlichen Nachrichtenagentur „Anadolu“, die die Zahlen verbreitet. Während diese Quelle von mehr als 90 Prozent ausgezählter Stimmen spreche, seien real eigentlich erst rund 60 Prozent der Stimmen ausgezählt, so der stellvertretende CHP-Vorsitzende Öztürk Yilmaz zu BILD.

Woher „Anadolu“ die Zahlen hat, ist tatsächlich unklar. Unabhängige Medien waren in der Türkei in den letzten Monaten geschlossen oder unter Zwangsverwaltung gestellt worden.

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► Auch Mithat Sancar von der kurdischen Oppositionspartei HDP sagte zu BILD: „Aktuell sehen wir in der Auszählung die Nein-Stimmen vorne.“ Die von „Anadolu“ verbreiteten Zahlen zweifelte er ganz klar an. Das Ergebnis müsse daher von unabhängiger Seite überprüft werden, so Sancar.

► Zuvor hatte es auch schon in der Wahlkommission Streit gegeben. Die Kommission hatte kurzfristig auch nicht von ihr verifizierte Stimmzettel zugelassen. Noch während der laufenden Abstimmung am Sonntag erklärte die Kommission auf ihrer Website, dass auch nicht von ihr gekennzeichnete Stimmzettel und Umschläge als gültig gezählt würden. Normalerweise werden diese von der Kommission gestempelt um sicherzustellen, dass keine Zettel oder Umschläge von außen verwendet werden.

Mehmet Hadimi Yakupoglu, Vertreter der größten Oppositionspartei CHP, kritisierte die Entscheidung und sagte, er sei in der Kommission überstimmt worden.

Bis 16 Uhr deutscher Zeit waren die 55,3 Millionen Türken dazu aufgerufen, für oder gegen die Einführung eines Präsidialsystems, eine deutliche Machtausweitung von Präsident Recep Tayyip Erdogan, zu stimmen. Im Ausland – wo zusätzlich 2,9 Millionen wahlberechtigte Türken registriert sind – war schon vorher abgestimmt worden.

Streit eskaliert im Wahllokal

Überschattet wurde das Referendum von einem blutigen Zwischenfall: Im Dorf Yabanardi in der mehrheitlich kurdischen Provinz Diyabarkir gab es bei einer Schießerei im Wahllokal, das sich in dem Gebäude einer Schule befindet, drei Tote.

Nach Angaben der türkischen Zeitung Hürriyet feuerte der Sohn des Bürgermeisters auf die Opfer. Er wurde von Sicherheitskräften festgenommen. Zwei Männer starben nach der Schießerei auf dem Weg ins Krankenhaus, ein weiterer erlag später seinen schweren Verletzungen.

Zuvor soll es eine Diskussion um das Referendum gegeben haben, die dann eskalierte. Die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu berichtet dagegen von einer Fehde zwischen verfeindeten Familien.

Kritik am Referendum

Mitarbeiter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sind an zwölf Orten als Wahlbeobachter im Einsatz. Sie sollen auf die Durchführung des Referendums nach demokratischen Grundsätzen achten.

Vor den Wahllokalen bildeten sich lange Schlangen

Vor den Wahllokalen bildeten sich lange Schlangen

Foto: Erhan Ortac / Getty Images

Auch der Grünen-Politiker Özcan Mutlu befindet sich aktuell in der Türkei und macht sich ein Bild vom Referendum.

Özcan Mutlu zu BILD: „Die Stimmung im Vorfeld des Referendums ist sehr entspannt. Beide Lager, sowohl die Befürworter als auch die Gegner, haben bis in die letzten Stunden ihr bestes gegeben. In den letzten Tagen des Wahlkampfes herrschte in Istanbul eine regelrechte Festtagsstimmung. In der Partnerstadt von Berlin haben die Bürgerinnen und Bürger heute früh um 8 Uhr bei wunderschönem Wetter angefangen ihre Stimmen abzugeben. Eine erstaunlich gute Stimmung herrscht in den Wahllokalen, und die Wahlbeteiligung wird vermutlich sehr hoch sein.“

„Als ehemaliger OSZE-Wahlbeobachter in der Türkei hoffe ich, dass sich die gute Stimmung auch auf das Wahlergebnis auswirkt und die Türkei den Weg der Demokratie nicht verlässt. Ein Ja zum Verfassungsreferendum kommt einer Abschaffung der parlamentarischen Demokratie sowie der Gewaltenteilung gleich. Eine solche Türkei würde kaum Platz in der Europäischen Union finden. Deshalb hoffe ich, dass Bürgerinnen und Bürger der Türkei heute mit Nein stimmen und die Demokratie in ihrem Land stärken“, erklärte Grünen-Politiker Mutlu.

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Doch nicht überall lief es reibungslos, wie Mutlu sagt: „Allerdings ist die Stimmung in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei angespannt. Nach Berichten von Kollegen der HDP aus dem türkischen Parlament werden dort Wählerinnen und Wähler sowie Wahlbeobachter der Opposition schikaniert und von der Arbeit abgehalten. Das ist nicht akzeptabel!“

Was soll jetzt geändert werden?

Mit der Einführung eines Präsidialsystems wollen Erdogan und seine AKP die Machtbefugnisse des Präsidenten deutlich ausbauen. Der Entwurf sieht unter anderem folgende Änderungen vor:

► Der Präsident wird nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten entfällt.

► Der Präsident darf künftig einer Partei angehören.

► Der Präsident kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, die mit Veröffentlichung im Amtsblatt in Kraft treten. Eine nachträgliche Zustimmung durch das Parlament (wie im derzeit geltenden Ausnahmezustand) ist in dem Entwurf nicht vorgesehen.

► Der Präsident bekommt auch mehr Einfluss auf die Justiz: Im Rat der Richter und Staatsanwälte kann er künftig vier der 13 Mitglieder bestimmen, das Parlament drei weitere. Bislang bestimmen Richter und Staatsanwälte selbst die Mehrheit der (derzeit noch 22) Mitglieder des Rates.

Gegner des Präsidialsystems befürchten eine Ein-Mann-Herrschaft.

Ein Sieg Erdogans wird nach dessen Worten den Weg für die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei ebnen.

„Meine Brüder, meine Entscheidung über die Todesstrafe ist offensichtlich“, sagte er am letzten Wahlkampftag vor dem Verfassungsreferendum vor jubelnden Anhängern in Istanbul. „Wenn das Parlament sie verabschiedet und sie mir vorliegt, werde ich zustimmen und die Angelegenheit beenden. Wenn das nicht geschieht, werden wir ein weiteres Referendum darüber abhalten und die Nation wird entscheiden.“ Der Staatschef fügte hinzu: „Die Entscheidung morgen wird den Weg dafür öffnen.“ Erdogan plante am letzten Wahlkampftag vier Auftritte in Istanbul.

Die EU hat deutlich gemacht, dass der Beitrittsprozess der Türkei beendet würde, sollte Ankara die Todesstrafe wieder einführen.

Erdogan sagte am Samstag, auch mit Blick auf die Beziehungen zur EU sei das Referendum am Sonntag ein „Wendepunkt“. Er kritisierte erneut: „Sie halten uns seit 54 Jahren hin.“

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