95 Prozent Passquote! Bei Real Madrid wird Toni Kroos für diese hohen Werte gefeiert. Doch was sagen solche Fußball-Statistiken wirklich aus? Die aktuellen Datenanalysen sind längst nicht gut genug, um brauchbare Ergebnisse zu erzielen.
Im Rahmen der Berichterstattung des Champions-League Halbfinals Juventus Turin gegen Real Madrid wird wieder intensiv im TV-Expertenkreis diskutiert und analysiert. Auf Grundlage diverser Statistiken wurden nach dem Hinspiel die vermeintlichen Stärken und Schwächen einzelner Spieler sowie einzelner Mannschaftsteile besprochen.
Kovac widerspricht schwärmendem Moderator
Einer der Experten war Niko Kovac, Ex-Bundesliga-Profi und Trainer der kroatischen Nationalmannschaft. Als die fußballerischen Fähigkeiten von Toni Kroos besprochen wurden, geriet der Moderator ins Schwärmen. Denn gemäß Statistik weist der deutsche Spieler von Real Madrid eine Passquote von fast 95 Prozent auf. Das bedeutet: 95 Prozent seiner Zuspiele erreichen einen Mitspieler.
Kovac jedoch konnte sich den Lobeshymnen nicht anschließen und entgegnete, dass die Passquote allein nicht aussagekräftig sei, da auch der Ort, die Distanz und der Winkel des Zuspiels zu berücksichtigen sei, um eine wirklich verlässliche Aussage über den Passgeber Kroos machen zu können.
Getty ImagesToni Kroos im Spiel gegen Juventus Turin
Die weiteren Experten gaben ihm eher halbherzig Recht, ohne jedoch weiter in die Tiefe zu gehen.
Die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Statistiken
Niko Kovac hat hier einen sehr wunden Punkt der mit Statistiken geradezu überfrachteten Fußball-Berichterstattung getroffen. Viele der präsentierten Zahlen, Daten und Fakten sind nur bedingt oder überhaupt nicht aussagekräftig. Losgelöst vom Spieler Kroos ist die Frage sehr wohl erlaubt, ob ein Spieler, der zumeist nur Querpässe über wenige Meter auf Höhe der Mittellinie spielt, tatsächlich für eine hohe Passquote gelobt werden soll.
Diashow: Die Champions-League-Saison der Bundesligisten
Bongarts/Getty ImagesBild 1/32 - 12. Mai, Halbfinal-Rückspiel: Das letzte Spiel einer deutschen Mannschaft in Europa in dieser Saison gewinnt der FC Bayern - 3:2 gegen Barcelona. Trotzdem reicht es nach der deutlichen Pleite nicht fürs Endspiel.
Getty imagesBild 2/32 - 06. Mai, Halbfinal-Hinspiel: FC Barcelona - FC Bayern 3:0. Lionel Messi schockt die Münchner mit einem Doppelpack binnen drei Minuten. Neymar legt nach. Das Finale in Berlin ist in weiter Ferne.
dpaBild 3/32 - 21. April, Viertelfinal-Rückspiel: FC Bayern - FC Porto 6:1. Die Bayern rächen sich für die Pleite im Hinspiel und stürmen ins Halbfinale der Champions League.
Getty ImagesBild 4/32 - 15. April, Viertelfinal-Hinspiel: FC Porto - FC Bayern 3:1. Die Münchner leisten sich drei schwere Abwehrpatzer, die Portugiesen schlagen gnadenlos zu.
Getty imagesBild 5/32 - Achtelfinale, 17. März, Borussia Dortmund - Juventus Turin 0:3. Das war's für den BVB! In Dortmund wird's auf absehbare Zeit keine Champions League geben. Im Rückspiel ist das Team von Jürgen Klopp (r.) chancenlos. Bei Juve überragt Carlos Tevez.
dpaBild 6/32 - 17. März, Atlético Madrid - Bayer Leverkusen 3:2 n.E. (1:0). Wendell (M.) und Bayer scheitern denkbar knapp am spanischen Meister um Mario Mandzukic (l.). Stefan Kießling vergibt den entscheidenden Elfmeter - das Aus im Achtelfinale.
Bongarts/Getty ImagesBild 7/32 - 11. März, FC Bayern München - Schachtjor Donezk 7:0. Franck Ribéry feiert einen Treffer beim Rekordsieg des FC Bayern gegen Schachtjor Donezk. Die Münchner sind damit erster deutscher Viertelfinalist.
dpaBild 8/32 - 10. März, Real Madrid - FC Schalke 04 3:4. Schalke jubelt, Reals Sami Khedira (l.) hadert. Der FC Schalke 04 schafft einen nicht erwarteten Auswärtssieg beim Titelverteidiger Real Madrid, scheitert am Ende jedoch trotzdem unglücklich im Achtelfinale.
Bongarts/Getty ImagesBild 9/32 - 25. Februar, Bayer Leverkusen - Atletico Madrid 1:0. Dank einer bärenstarken Leistung gewinnt Bayer Leverkusen gegen die favorisierten Gäste. Das Tor des Tages macht Hakan Calhanoglu mit einem Gewaltschuss unter die Latte.
AFPBild 10/32 - 24. Februar, Juventus - Borussia Dortmund 2:1. Marco Reus (l.) traf für den BVB zum zwischenzeitlichen 1:1. Am Ende gewannen Paul Pogbas Turiner dennoch knapp
dpaBild 11/32 - 24. Februar, Manchester City - FC Barcelona 1:2. Luis Suarez bringt die Katalanen mit zwei Toren auf Viertelfinal-Kurs
Bongarts/Getty ImagesBild 12/32 - 17. Februar, Schachtjor Donezk - FC Bayern München 0:0. Schiedsrichter Mallenco zeigt Alonso (Mitte, hinten) im Achtelfinal-Hinspiel die Gelb-Rote Karte.
Bongarts/Getty ImagesBild 13/32 - 10. Dezember, FC Bayern München - ZSKA Moskau 3:0. Die Bayern feiern den Achtelfinal-Einzug. Standesgemäß fertigt der Gruppenerste den Letzten Moskau ab.
Bongarts/Getty ImagesBild 14/32 - NK Maribor - FC Schalke 04 0:1. Max Meyer (l.) jubelt über den entscheidenden Treffer. Der Eingewechselte beschert S04 im letzten Gruppenspiel das Weiterkommen.
dpaBild 15/32 - 9. Dezember, Borussia Dortmund - RSC Anderlecht 1:1. Ciro Immobile erlöst sich selbst und trifft für den BVB, kurz vor Schluss gleicht Anderlechts Mitrovic aus. Der BVB zeigt sich aber verbessert und wird Gruppenerster.
Bongarts/Getty ImagesBild 16/32 - Benfica Lissabon - Bayer Leverkusen 0:0. Ein schwaches Spiel beider Teams findet keinen Sieger. Ömer Toprak sieht in Minute 90 Gelb-Rot und fehlt im Achtelfinale. Zu allem Überfluss schenkt Bayer damit den Gruppensieg her.
Getty ImagesBild 17/32 - 26. November, FC Arsenal - Borussia Dortmund 2:0. Sanogo trifft schon nach 72 Sekunden zum 1:0. Dortmund hat kaum Möglichkeiten und verliert durch ein weiteres Tor von Alexis Sanchez sogar noch höher.
Getty ImagesBild 18/32 - 25. November, Manchester City - FC Bayern 3:2. Benatia sieht nach dem Foul an Agüero Rot. Der Gefoulte verwandelt, dann drehen Alonso und Lewandowski die Partie zu Zehnt. Kurz vor Ende schlägt Agüero noch zweimal zu.
Bongarts/Getty ImagesBild 19/32 - 5. November 2014, FC Bayern - AS Rom 2:0. Locker zum Gruppensieg. Mario Götze traf artistisch zum 2:0, Ribéry erzielte den zweiten Treffer für hochüberlegene Münchner.
Bongarts/Getty ImagesBild 20/32 - Sporting Lissabon - FC Schalke 4:2. Schalke führt, ist dann aber defensiv erschreckend schwach. Max Meyer beschwert sich über einen nichtgegebenen Elfmeter. Sporting macht durch Sarr, Jefferson, Nani und Slimani kurzen Prozess.
dpaBild 21/32 - 4. November 2014, Borussia Dortmund - Galatasaray 4:1. Marco Reus (r.) schiebt zum ersten Dortmunder Treffer ein. Der BVB gewinnt souverän und erreicht das Achtelfinale - das Spiel wird von Pyro-Ausschreitungen im Gästeblock überschattet.
dpaBild 22/32 - Zenit St. Petersburg - Bayer Leverkusen 1:2. Der Pfosten und Bernd Leno retten Bayer in die Halbzeit. Dann schnürt Heung-Min Son binnen fünf Minuten einen Doppelpack. Das 1:2 der Russen durch Rondon kommt zu spät.
Bongarts/Getty ImagesBild 23/32 - Zenit St. Petersburg - Bayer Leverkusen 0:2. Bayer rennt gegen den russischen Abwehr-Wall an. Dann erlöst der Italiener Donati die Werkself. Papadopoulos macht schließlich alles klar.
Bongarts/Getty ImagesBild 24/32 - 21. Oktober 2014, AS Rom - FC Bayern 1:7. Zweimal Robben, Götze, Lewandowski, Müller, Ribéry und Shaqiri erlegen die Römer. Es ist der höchste Auswärtssieg einer deutschen Mannschaft im Europapokal.
Bongarts/Getty ImagesBild 25/32 - FC Schalke 04 - Sporting Lissabon 4:3. Sporting ist nach 33 Minuten zu zehnt. Schalke dreht einen Rückstand in ein 3:1, dann steht es 3:3. Choupo-Moting verwandelt einen geschenkten Handelfmeter in der Nachspielzeit.
dpaBild 26/32 - 1. Oktober 2014, RSC Anderlecht - Borussia Dortmund 0:3. Dortmunds Adrian Ramos trifft doppelt, der BVB gewinnt auch sein zweites Gruppenspiel souverän.
Bongarts/Getty ImagesBild 27/32 - Bayer Leverkusen - Benfica Lissabon 3:1. Für Bayer treffen Stefan Kießling, Heung-Min Son (Foto) und Hakan Calhanoglu per Elfmeter. Endlich die ersten Punkte!
Bongarts/Getty ImagesBild 28/32 - 30. September 2014, FC Schalke 04 - NK Maribor 1:1. Die Gastgeber wachen erst in der zweiten Halbzeit auf, als Maribor bereits führt. Trotz des Ausgleichs bleibt am Ende nur Frust für Schalke.
Bongarts/Getty ImagesBild 29/32 - ZSKA Moskau - FC Bayern München 0:1. Ein Elfmeter von Thomas Müller bringt den Münchnern den zweiten Sieg im zweiten Spiel. Wegen einer Uefa-Sperre gegen Moskau müssen die Fans draußen bleiben.
Bongarts/Getty ImagesBild 30/32 - 17. September 2014, FC Bayern - Manchester City 1:0. Bayern drückt und hat das ganze Spiel über viele Chancen. In der 90. Minute legt Götze dann für Boateng ab, der den Ball in die lange Ecke knallt - und sein Team zur Jubel-Ekstase treibt.
dpaBild 31/32 - 16. September 2014, Borussia Dortmund - FC Arsenal 2:0. Traumstart für den BVB in die Champions-League-Saison, trotz vieler Verletzter kontrolliert Dortmund die Londoner fast die ganze Spielzeit, die Stürmer Immobile und Aubameyang schießen die Tore.
AFPBild 32/32 - AS Monaco - Bayer Leverkusen 1:0. Ganz bitter für Bayer, die Leverkusener vergeben beste Chancen in der ersten Halbzeit, doch ständig schießt man am Tor vorbei. Das wird bestraft, einfach ärgerlich.
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Muss nicht viel mehr Berücksichtigung finden, wie viele der Pässe im Angriffsdrittel gespielt wurden und wie viele Pässe davon vertikal in die „Spitze“? Wirklich aussagekräftige Fakten über die Stärke eines Spielers lassen sich erst dann treffen, wenn die gemessenen (also existierenden!) Werte miteinander gekreuzt werden. Wie Kovac bereits andeutete: Resultat des Zuspiels und auch dessen Ort und Winkel sind entscheidend.
Ist ein zweikampfstarker auch ein guter Verteidiger?
Der Ort des Geschehens ist auch bei der differenzierten Analyse von Zweikampfwerten von Relevanz. Bei der sogenannten Zweikampfquote (X % gewonnene Zweikämpfe) eines Verteidigers wäre es zunächst sinnvoll, einen Zweikampf in der Defensive (z.B. im eigenen Drittel) stärker zu gewichten als einen Zweikampf in der gegnerischen Hälfte, den man unter „sonstige Zweikämpfe“ subsummieren könnte. Viel spannender aber ist die Frage, ob ein Verteidiger, der viele Zweikämpfe führt, auch tatsächlich ein guter Verteidiger ist?
dpaBayerns Verteidiger Jerome Boateng (r.) und Marco Reus von Dortmund kämpfen um den Ball
Weltklasseverteidiger - wie zum Beispiel Jerome Boateng - sind häufig in der Lage, mittels einer Passunterbrechung den Ball zu erobern, bevor überhaupt ein Zweikampf entsteht. Über Antizipation und entsprechendes Stellungsspiel zu Ball und Gegner gelingt die Balleroberung ohne Zweikampf.
Und wenn dann ein Zweikampf ansteht, ist er oftmals mit höherem Risiko verbunden als bei einem Verteidiger, der primär über die Zweikämpfe kommt. Leider kommen auch solche Zusammenhänge bei der medialen Aufarbeitung viel zu kurz.
Stattdessen werden über den Split-Screen sogenannte Heatmaps eingeblendet, deren tieferen Sinn kaum ein Fußballexperte ergründet hat.
Warum hat Brasilien gegen Deutschland so deutlich verloren?
Bei der WM 2014 gab es für Brasilien im Halbfinale eine denkwürdige 1:7 Niederlage gegen den späteren Weltmeister Deutschland. Der Blick auf einige statistische Werte dieses Spiels wirft ebenfalls Fragen auf. Brasilien hatte u.a. im Spiel mehr Torschüsse als Deutschland, dazu mehr Pässe im Angriffsdrittel und eine insgesamt höhere Passquote. Aber warum verlieren die dann - und dann auch noch in dieser Höhe?
Video: Deutschland schlägt Brasilien 7:1
So deklassierte Deutschland den WM-Gastgeber Brasilien
FOCUS OnlineSo deklassierte Deutschland den WM-Gastgeber Brasilien
Nun, wenn ein Team schnell in Führung geht, zieht es sich zumeist zurück und der Gegner greift vermehrt an. Folglich mehr Spiel im Angriffsdrittel der Brasilianer, daraus folgend auch mehr Torschüsse als die Deutschen, die in diesem Spiel zudem eine sehr effiziente Chancenverwertung hatten.
Unterm Strich heißt das aber, dass der jeweils aktuelle bei der Datenanalyse ein wichtiger Faktor ist, der entsprechend gewichtet werden sollte.
Analysen sind zu oberflächlich
Grundsätzlich werden in den europäischen Topligen in jedem Spiel zig Millionen Daten gesammelt. Dazu gibt es längst leistungsfähige IT-Systeme, um diese gesammelten Daten zu verdichten, zu analysieren und auszuwerten.
Leider werden die Analysen, das zeigen die hier erwähnten Beispiele klar, zu oberflächlich betrieben. Es verlangt geradezu nach umfassenden, differenzierten Analysen, beispielsweise mittels Berücksichtigung mehrerer Variablen zur gleichen Zeit.
Der wirkliche Mehrwert fehlt noch
Würden sich Statistiker, IT-Spezialisten, Sportwissenschaftler und Fußballexperten zusammenschließen, um einen fundamentalen Beitrag zur Systematisierung des professionellen Fußballs zu liefern, hätten davon nicht nur die Trainerstäbe, sondern auch die Berichterstatter und deren Kunden – die Fans - einen wirklichen Mehrwert.
Videoanalysen sind spektakulär, haben aber nur qualitativen Charakter. Der Weg zur Identifizierung von belastbaren Aussagen über Spielerfolgsfaktoren und spezifische Spielerstärken, für das Scouting, zur Spielvor- und Nachbereitung und Gegneranalyse, führt aber nur über quantitative, ganzheitliche Datenanalyen.
Lippenleserin enthüllt: Was Müller Richtung Guradiola schrie (Video)
Über den Experten
Thomas Fricke lebt in Dortmund. Als Organisator der Fußball-WM 2006 gelang ihm die Symbiose aus der Profession Projektmanagement und der Passion Fußball. Seitdem ist er als Speaker, Managercoach, Buchautor und Universitätsdozent tätig. Im Hochschulumfeld hat sich das Fußballmanagement als Spezialisierung herauskristallisiert. Fricke ist Mitglied des Netzwerkes Fußballanalytik.