Panorama

Rätsel um steigende Fallzahlen Treiben Kinder die dritte Corona-Welle an?

Mehr als ein Jahr steckten junge Menschen zurück, um Ältere zu schützen.

Mehr als ein Jahr steckten junge Menschen zurück, um Ältere zu schützen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Seit Wochen steigen die Infektionszahlen bei Kindern und Jugendlichen rasant an. Schulschließungen sieht die Regierung als einzige Lösung. Doch sind die Jüngsten tatsächlich Pandemietreiber - oder gibt es womöglich einen anderen Grund für die hohen Fallzahlen?

Zu Beginn der Pandemie ist man davon ausgegangen, dass Kinder und Jugendliche kaum von Corona-Infektionen betroffen sind und das Virus auch nicht übertragen. Doch mit dem Aufkommen der zweiten Welle im vergangenen Herbst ändert sich die Sichtweise. Die Rolle von Kindern als Pandemietreiber sorgt für Streit unter Politikern, Wissenschaftlern und Experten. Heute steht zumindest fest: Kinder und Jugendliche können sich sehr wohl mit Sars-CoV-2 infizieren und das Virus auch weitergeben. Doch wie viel tragen sie tatsächlich zum aktuellen Infektionsgeschehen bei?

Laut den neusten Daten des Robert-Koch-Instituts steigen die Infektionszahlen unter Kindern und Jugendlichen seit Februar rasant an. Aktuell liegt die 7-Tage-Inzidenz der unter 15-Jährigen bei fast 200. Zum Vergleich: Anfang Februar lag sie noch bei 36 und mitten in der zweiten Welle vor Weihnachten bei immerhin knapp der Hälfte des jetzigen Wertes mit einem damaligen Höchststand von 117.

"Kinder und Jugendliche werden zum Zentrum der Pandemie", schrieb Epidemiologe und SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach vor wenigen Tagen auf Twitter. "Daher sind Schulschließungen jetzt besonders wichtig, weil sonst in wenigen Wochen viele Familien schwer erkranken", prognostiziert er. Vermutet wird, dass die derzeit voll belegten Intensivbetten zum Teil auch mit den hohen Infektionszahlen bei den jungen Altersklassen zusammenhängen.

"Ihr seid schuld"

Kinder als Pandemietreiber zu brandmarken, sei ungerecht, findet Reinhard Berner, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des Dresdener Universitätsklinikums Carl Gustav Carus: "Dass der Infektionsweg, Kinder tragen die Infektionen aus der Schule in ihre Familien und von dort in die Altenheime und Intensivstationen, ein relevanter in dieser Pandemie wäre, ist bisher durch keine einzige Studie belegt", sagt der Infektiologe dem "Focus". Alles, was man wüsste, spreche eigentlich dagegen, wie es auch die europäischen und amerikanischen Gesundheitsbehörden berichten. Dennoch "wird mit Fingern auf eine Gruppe gezeigt und gesagt, ihr seid schuld", kritisiert er.

Vielmehr sei es wichtig, sich auf die Eltern-Generation zu konzentrieren, fordert Berner. Die Gruppe der 20- bis 55-Jährigen sei sicher der "Dreh- und Angelpunkt der Infektionsketten". Sie haben den intensiven Kontakt zu ihren Kindern und gleichzeitig in die Arbeitswelt. Da könnten konsequenteres Homeoffice und eine weniger strenge Impfpriorisierung mit mehr Fokus auf diese Altersgruppe helfen.

Kein Licht im Dunkeln

Wer wen wo ansteckt, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Zwar ist die lückenlose Kontaktnachverfolgung weiterhin erklärtes Ziel der Bundesregierung - doch zuletzt konnte die zuständige Bundesbehörde nicht einmal ein Zehntel der gemeldeten Fälle einem mutmaßlichen Infektionsort zuordnen. Somit gibt es auch keine eindeutige Erklärung für den steilen Anstieg der Infektionskurven bei Kindern und Jugendlichen. Ein Grund könnte allerdings sein, dass diese früher fast nie getestet wurden, da die offizielle Strategie von Herbst bis Mitte Februar dies nur bei eindeutigen Covid-19-Symptomen vorsah. So fielen jüngere Jahrgänge öfter durch das Raster. Da nun allerdings vielerorts regelmäßig an Schulen getestet wird, könnten nun auch die bislang unentdeckten Fälle in dieser Altersgruppe ans Tageslicht kommen.

Der Verdacht liegt auch deswegen nahe, weil eine Covid-19-Erkrankung bei sehr jungen Menschen besonders häufig symptomlos verläuft. Somit könnte die Dunkelziffer bei Kindern noch höher sein als bei dem Rest der Bevölkerung. Das RKI schätzt, dass dieser mit Faktor vier bis sechs berechnet werden muss. Nun angenommen, dass bislang die Zahl der Mädchen und Jungen, die sich infiziert haben, viermal so hoch war wie die Zahl der erkannten Fälle und durch die vermehrten Tests die tatsächliche Zahl statt viermal nur noch doppelt so hoch liegt wie die gemeldete - dann ließe sich der Anstieg bei den unter 15-Jährigen in den vergangenen Wochen auf diese Weise fast vollständig erklären.

Das ist jedoch nur eine mögliche Erklärung. Denn dann ist da noch die Corona-Variante B.1.1.7. Die britische Mutante dominiert in der dritten Welle das Infektionsgeschehen und ist deutlich ansteckender als das Ursprungsvirus. Schon Ende vergangenen Jahres wiesen Experten in Großbritannien darauf hin, dass sich Jüngere häufiger mit der Variante infizieren könnten. Verschiedene Studien und auch eine aktuelle Analyse der Mathematikerin Sarah D. Rasmussen von der Universität Cambridge kamen nun ebenfalls zu dem Ergebnis, dass sich B.1.1.7 bevorzugt unter Kindern und Jugendlichen verbreitet.

Eine Rückkehr ins Leben

Je nachdem, was letztendlich der wahre Grund für die hohen Infektionszahlen bei Kindern und Jugendlichen ist, müssten unterschiedliche Maßnahmen getroffen beziehungsweise zurückgenommen werden. Hier Licht ins Dunkel zu bringen, wäre somit eine dringliche Aufgabe zur besseren, zielgerichteteren Virenbekämpfung. Stattdessen setzen Länder und nun auch die Bundesregierung auf pauschale Schulschließungen zulasten der jungen Menschen. Sie müssen seit mehr als einem Jahr in der Pandemie zurückstecken - nicht zum Schutz für sich, sondern für Dritte.

"Sie sind diejenigen, die während des Lockdowns unter den Schulschließungen und den Kontaktverboten erheblich gelitten haben," sagt auch der Präsident des Deutschen Hausärzteverbandes, Ulrich Weigeldt, der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Über Monate hinweg sei es ihnen vielerorts sogar verboten gewesen, mit ihren Freunden draußen herumzutoben. Somit sollte man den Blick beim Impfen nun auf Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene richten, fordert Weigeldt.

Ähnlich äußerte sich auch die Vorsitzende des Europäischen Ethikrates, Christiane Woopen. Ein Jahr hätten junge Menschen zurückgesteckt, um Ältere zu schützen. Letztere sollten nun "lieber etwas länger im Homeoffice bleiben, damit die Jungen ins Leben zurückkehren könnten", sagte sie. Zwar führen alle Hersteller der in Deutschland zugelassenen Corona-Impfstoffe bereits Studien bei Kindern und Jugendlichen durch. Erste Ergebnisse sind auch vielversprechend. Doch bis Kinder tatsächlich beim Impfen dran sind, könnte noch ein ganzer Sommer ohne Schule, Ferienlager oder Fußballtraining vorbeigehen.

Quelle: ntv.de

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