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Meinung Leon de Winter

„Ich habe dem Großmaul Theo Van Gogh verziehen“

Nach dem Mord an Van Gogh wurde seiner in einem Graffiti auf einer Hauswand in der Warmoesstraat in Amsterdam gedacht Nach dem Mord an Van Gogh wurde seiner in einem Graffiti auf einer Hauswand in der Warmoesstraat in Amsterdam gedacht
Nach dem Mord an Theo van Gogh wurde seiner in einem Graffiti auf einer Hauswand in der Warmoesstraat in Amsterdam gedacht
Quelle: picture alliance/ dpa/dpaweb
Vor zehn Jahren wurde der niederländische Künstler Theo van Gogh von dem Salafisten Mohammed Bouyeri auf offener Straße ermordet. Der Schriftsteller Leon de Winter verabscheut beide.

Am 2. November 2004, vor genau zehn Jahren, begegneten sich zwei Holländer in einer gewöhnlichen Straße im Osten Amsterdams zum ersten und letzten Mal. Es handelte sich um einen Mörder und sein Opfer. Beide waren in den Niederlanden geboren worden. Einer war der Sohn marokkanischer Einwanderer. Der andere Abkömmling reicher Eltern mit einem weltberühmten Namen.

Der eine hatte einen Prozess religiöser Radikalisierung durchgemacht. Der andere jagte dem Ruhm nach, den der malende Bruder seines Urgroßvaters erst Jahre nach seinem Tod erlangt hatte. Der Fanatiker sah in seinem Opfer einen Ungläubigen, der Gott und Seinen Propheten beleidigt hatte.

Der Ruhmsüchtige sah in seinem Mörder einen hirnlosen Anhänger religiöser Mythen. Der Mörder heißt Mohammed Bouyeri. Er ist zu lebenslanger Haft verurteilt worden, und das heißt in Holland tatsächlich Gefängnis bis zum Tod. Das Opfer hieß Theo van Gogh. Er ist tot, auf ewig.

Beide waren Narzissten. Ich verabscheue sie

Ich verabscheute beide Männer und verabscheue sie noch. Sie waren beide Narzissten, die andere Menschen zu bloßen Marionetten in ihrer verrückten Ideenwelt reduzieren konnten. Sie waren beide geistesgestört, wie ich zeigen werde.

Beginnen wir mit Mohammed Bouyeri. Nach dem Tod seiner Mutter wurde der 1978 geborene Bouyeri ein gläubiger Anhänger der Botschaft des Propheten. Aber dabei blieb es nicht. Er wurde Salafist, radikalisierte sich weiter und trat schließlich einer einheimischen Terrorgruppe bei, die gewaltsam für den islamischen Weltstaat, das Kalifat, kämpfte.

Mörder Mohammed Bouyeri bekam lebenslänglich. Und das heißt in den Niederlanden, er wird bis zu seinem Tod im Gefängnis bleiben
Mörder Mohammed Bouyeri bekam lebenslänglich. Und das heißt in den Niederlanden, er wird bis zu seinem Tod im Gefängnis bleiben
Quelle: picture alliance/ dpa/dpaweb

Das alles passierte innerhalb eines Jahres nach dem Tod der Mutter. Bouyeri wollte ein Glaubenskrieger sein. Christentum und Judentum seien Verfälschungen der einzig wahren Religion, glaubte Bouyeri, und seine heiligen Schriften sagten ihm, wie mit Apostaten und blasphemischen Ungläubigen umzugehen sei. Man musste sie töten.

Der Tod seiner Mutter war ein Wendepunkt in Bouyeris Leben. Er konnte nicht akzeptieren, dass dieser Tod ein sinnloses Ereignis in einem sinnleeren Universum sein sollte. Trost fand er in den religiösen Traditionen der elterlichen Heimat, die dem Leiden der Mutter einen Sinn gaben. In der Religion fand er sein Ziel. Davor war er ein rastloser junger Mann gewesen, der seinem Leben keine Richtung geben konnte

Er war intelligent, aber den Zugang zu einer ausgeglichenen, verantwortlichen Existenz als Familienvater fand er nicht. Holland bot ihm viele Optionen, vielleicht zu viele, verglichen mit dem einfachen Leben im Dorf seiner Eltern. Dort, in einem bettelarmen Teil des Rif-Gebirges im Nordosten Marokkos, gab es keine Schulen, keine Buchläden, keine Ungläubigen, keine Apostaten.

Für Bouyeri erfüllte Allah den Atem des Unversums

Der Kulturschock der Einwanderung in das dekadente Amsterdam explodierte im Hass auf Ayaan Hirsi Ali, eine Somalierin und Mitglied des holländischen Parlaments, die vom Glauben abgefallen und zur heftigen Kritikerin der Grundlagen des Islam geworden war, und auf den Mann, der einen Kurzfilm auf der Grundlage von Hirsi Alis Drehbuch „Unterwerfung“ gedreht hatte.

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Diese beiden Ungläubigen stellten die Tatsache infrage, dass Allahs Atem das Universum erfüllt. Für sie enthielt das Universum keinen Sinn außer jenem, den sie selbst ihm einhauchen könnten. In Bouyeris Augen verkörperten sie die Verneinung der Wahrheit des Islam.

„Unterwerfung“ zeigte Texte des Koran, die auf die nackte Haut einer Frau geschrieben waren. Eine unverzeihliche Beleidigung in den Augen der Salafisten, zu denen Bouyeri gehörte. Beide, Hirsi Ali und van Gogh, mussten bestraft werden.

Theo van Gogh liebte die Provokation und Beleidigung
Theo van Gogh liebte die Provokation und Beleidigung
Quelle: picture alliance / dpa

Als Parlamentsmitglied wurde Hirsi Ali jedoch von derselben Sondereinheit der Polizei geschützt wie die Mitglieder des Kabinetts und der königlichen Familie. Ein Individuum wie Theo von Gogh genoss aber keinen staatlichen Schutz. Er trieb sich ohne Bodyguards in Amsterdam herum. Er war, in seinen eigenen Worten, bloß „der Dorftrottel“.

Bouyeri hatte eine Mission. Er wollte handeln, töten, und auf diese Weise dem Gebot seiner Religion folgen, jeden zu töten, der es wagen sollte, den Propheten zu beleidigen. Indem er Theo van Gogh tötete, würde er sich selbst vergewissern, dass der Tod seiner Mutter im Rahmen der kosmischen Pläne des Schöpfers einen Sinn hatte.

Deshalb hatte auch der Tod van Goghs eine Bedeutung. In der dualistischen Welt Bouyeris hatte alles eine Bedeutung, war schwarz oder weiß, gut oder böse. Die Augen des Mörders sahen keine Nuancen. Man dient Gott, oder man dient Ihm nicht und verdient darum die Todesstrafe.

Nach einigen Wochen der Vorbereitung bestieg Bouyeri eines Morgens sein Fahrrad. Auch van Gogh war mit dem Fahrrad unterwegs – dies war ein wahrhaft holländischer Tötungsakt. Bouyeri schoss mehrfach auf van Gogh und versuchte anschließend, sein Opfer mit dem Messer zu enthaupten. Als die Polizei eintraf, wollte er als Märtyrer sterben. Aber trotz seiner Schusswunden überlebte er.

Bouyeri war ein gequälter Mensch, ein psychisch gestörter Mensch, der die Texte seiner Religion wörtlich nahm und töten musste, um die Wahrheit der Texte zu beweisen und dem Tod seiner Mutter einen Sinn zu geben. Mit der Sinnlosigkeit konnte er nicht leben. Also wurde er zum Mörder.

Van Gogh war ein schwergewichtiges Großmaul

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Auch sein Opfer war ein gequälter Mensch. Er war ein schwergewichtiges Großmaul, dessen Familienname Erwartungen weckte und Frustrationen hervorrief. Er wollte ein großer Filmregisseur werden, aber seine Bewerbung an der Holländischen Filmakademie wurde abgelehnt. Also finanzierte er seinen ersten Kurzfilm selbst.

1957 geboren, wuchs Theo van Gogh in einer der reichsten Städte der Niederlande auf, in einer riesigen Villa, umgeben von Büchern, Kunst, intellektueller Anregung, mit verantwortungsvollen und zugewandten Eltern. Die Welt war voller Möglichkeiten, und van Gogh wurde, anders als Bouyeri, so erzogen, dass er sie wahrnehmen konnte. Er hatte Energie und Ambitionen, aber er suchte auch nach etwas Einmaligem, etwas Persönlichem, das ihn antreiben und seine Karriere auf ungeahnte Höhen befördern könnte.

Was könnte diese Triebkraft sein? Er hatte keine Ahnung. In seinem ersten Kurzfilm steckte er eine Katze in eine Waschmaschine und einen Pistolenlauf in eine Vagina. Nur zum Spaß. Wegen der Schockwirkung. Der Film erregte Aufmerksamkeit. Manche hielten van Gogh für einen billigen Aufschneider. Andere meinten, er hätte Talent. Auf jeden Fall konnte das der Beginn einer Karriere sein. Als Filmemacher und Provokateur.

Bald erweitete er sein Tätigkeitsfeld und wurde Kolumnist. 1984 wurde ich Ziel seiner Obsession. Ich war der Jude, den er brauchte.

Leon de Winter, 60, ist niederländischer Romanautor und Filmemacher. Dieses Jahr kam ein Multimedia-Stück über Anne Frank („Anne“), das er gemeinsam mit seiner Frau Jessica Durlacher schrieb, in Amsterdam zur Aufführung
Leon de Winter, 60, ist niederländischer Romanautor und Filmemacher. Dieses Jahr kam ein Multimedia-Stück über Anne Frank („Anne“), das er gemeinsam mit seiner Frau Jessica Durlach...er schrieb, in Amsterdam zur Aufführung
Quelle: picture alliance / dpa Zentralbi

Damals war auch ich jung. Ich hatte einige erfolgreiche fiktionale Werke veröffentlicht. In einem dieser Werke war ein Jude die Hauptgestalt. Jahre nach dem Krieg entdeckt er, dass er einen Zwillingsbruder hatte, der aber den Holocaust nicht überlebte. Diese eher leise Erzählung wurde wunderschön vom holländischen Regisseur Rudolf van den Berg verfilmt. Der Film wurde zur Zielscheibe der Wut van Goghs.

Sein erstes Stück gegen mich veröffentlichte van Gogh im August 1984, als der Film gerade in die Kinos kam. Es gefiel ihm, mich mit den schlimmsten antisemitischen Klischees einzudecken und mir vorzuwerfen, ich würde aus meiner jüdischen Identität Kapital schlagen. Er entdeckte, dass er mit der Beleidigung von Juden eine Gefolgschaft aufbauen konnte.

Er fing an, Witze über den Holocaust zu machen: „Es riecht nach Karamel. Heute verbrennen sie wohl die Juden mit Diabetes.“ Oder: „Hör mal, Jesus, das könnte doch ein toller Familienfilm werden. Da ruft ein kleines Mädchen Tag für Tag nach der Gestapo: ‚Holt mich ab, holt mich ab, mein Tagebuch ist fertig!’ Und sie kommen nicht.“

Er folterte mich und meine Frau verbal

So stellte sich van Gogh eine Unterhaltung zwischen mir und meiner Frau vor: „Liebste, lass uns heute Nacht nach Treblinka fahren!“ Woraufhin „die Liebste Leons Pimmel mit Stacheldraht umwindet.“

Binnen kurzer Zeit wurde van Gogh in Holland zu einer bekannten Persönlichkeit. Er machte verrückte Filme, schrieb verrückte Kolumnen, fühlte sich frei, alles und jeden nach Belieben zu beleidigen. Es ginge um die Redefreiheit, sagte er. Um die Freiheit zu beleidigen, die Freiheit zu zerstören, die Freiheit, Menschen verbal zu terrorisieren.

Als eine Art Künstler-Anarchist wurde van Gogh in manchen Kreisen gefeiert. Er zerstörte das letzte Tabu, das Tabu gegen das Verächtlichmachen des Holocausts, das Tabu gegen den Antisemitismus. In manchen Künstler- und Intellektuellenkreisen nannte man ihn mutig.

Für Bouyeri war alles im Universum heilig. Für van Gogh war nichts heilig.

Nächtliche Hassbriefe unter Alkohol und Kokain

Van Gogh führte auch einen privaten Guerillakrieg. Er schrieb persönliche Hassbriefe an seine Feinde. Er schrieb sie nachts unter dem Einfluss von Alkohol und Kokain. Einer seiner Freunde brachte die Briefe zur Post oder gab sie persönlich ab.

Meine Schwägerin erhielt einen Brief, in dem er sie einlud, gemeinsam „Treblinka-Kekse zu backen“ und sie zusammen mit meinem Schwiegervater Gerhard Durlacher zu essen. Gerhard (1928-1996), geboren in Baden-Baden, war ein in Holland sehr bekannter Schriftsteller, der über seine Kindheit in Auschwitz-Birkenau geschrieben hat.

Solche Briefe schickte van Gogh an zahlreiche Menschen. Sie waren nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Sie waren Ausdruck eines von Dämonen, Hass und Wut besessenen Gehirns, gerichtet an Menschen, die er verletzen musste, oft genug Juden. Er konnte schon schreiben, den treffenden Ausdruck finden, den schwachen Punkt ausfindig machen.

Zwei geistig gestörte Individuen zeigten uns die Extreme der modernen Gesellschaft

Ich habe mit einigen Menschen gesprochen, die Briefe von ihm erhalten hatten. Dazu gehörte auch ein bekanntes Ehepaar, das ein Kind verloren hatte. Die beiden hatten öffentlich über ihren Schmerz gesprochen, und van Gogh beleidigte sie, warf ihnen vor, den Tod ihres Kindes missbraucht zu haben. Alle Empfänger seiner Briefe hatten den Eindruck, er sei schizophren, ein Künstler, der seinem eigenen Schatten nachjagte und nie fand.

Seine Filme fanden nie ein breites Publikum. Man erkennt darin sein Talent, aber ihm fehlte die Geduld, mit seinen Geschichten zu leben und sie auszuarbeiten, als ob sein Werk schon halbfertig den eigenen Erwartungen nicht entsprach. Deshalb hasste er Menschen, die ihre eigenen Träume erfüllen konnten.

Viele seiner Freunde hat er verraten

Jahrelang versuchte er, mich mundtot zu machen. Er tat mir weh, er hat mich, meine Frau und viele andere verbal gefoltert, aber wir beachteten ihn nicht und hielten durch.

Viele seiner Freunde hat er verraten. Einige verziehen ihm, weil er charmant und großzügig sein konnte. Zuweilen hatte er beim Fernsehen gut bezahlte Jobs. Das Geld saß ihm locker in der Tasche, und er finanzierte damit auch seine Filme. Es gibt allerdings auch frühere Freunde, die ihn immer noch verachten.

Nach einer Weile wollte keine Zeitung oder Zeitschrift in Holland seine Kolumnen drucken. Er steuerte auf eine Katastrophe zu.

Van Gogh reduzierte jeden Menschen zu einer Spielpuppe in dem zerstörerischen und verzweifelten Drama, mit dem er vergebens seine wahre künstlerische Berufung zu finden suchte. Bouyeri hingegen reduzierte alle anderen Menschen zu Spielpuppen im Drama Gottes. Zwei furchtbare Konzepte begegneten sich an jenem Morgen vor zehn Jahren in Amsterdam.

Van Gogh war ein Terrorist der Meinungsfreiheit

Van Gogh wird man als Opfer im Kampf für die Meinungsfreiheit feiern, obwohl er ein Terrorist der Meinungsfreiheit war. Er hasste und verachtete jeden Ausdruck der Religiosität, ob christlich oder jüdisch, und nach 9/11 richtete er seine ganze Wut gegen den Islam.

Täter und Opfer fuhren Fahrrad, wie in den Niederlanden alltäglich. Ein wahrhaft holländischer Tötungsakt
Täter und Opfer fuhren Fahrrad, wie in den Niederlanden alltäglich. Ein wahrhaft holländischer Tötungsakt
Quelle: Getty Images

Jeder Mensch, den er beleidigte, drehte ihm den Rücken zu, niemand versuchte, ihn körperlich zu verletzen. Einige zogen vor Gericht. Aber indem er blind den Islam beleidigte, so wie er zuvor Individuen und andere religiöse Tradition beleidigt hatte, wurde er zur Zielscheibe der Salafisten.

Bouyeris Krankheit war anderer Art. Sie war religiös-wahnhaft. Zusammen schufen sie einen entsetzlichen Augenblick der jüngsten holländischen Geschichte. Zwei geistig gestörte Individuen zeigten uns die Extreme der modernen Gesellschaft.

Bouyeri kann ich nicht verzeihen. Van Gogh habe ich verziehen, und zwar mit dem Roman „Ein gutes Herz“, den ich vor zwei Jahren schrieb. Und ich vergebe ihm immer noch, obwohl das Schreiben dieses Essays den Gestank des Drecks wiederbelebt, mit dem er mich anzustecken versuchte. Ich will daran nicht mehr erinnert werden. Lasst uns schönere Dinge riechen.

Aus dem Englischen von Alan Posener

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