Als unlängst der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Besitzansprüche auf griechische Inseln „vor unserer Haustür“ anmeldete, verwies er indirekt auf einen Vertrag, über den sich die Türkei schon einmal hinweggesetzt hat. Der Frieden von Lausanne, der 1923 den Griechisch-Türkischen Krieg beendete, hatte die Grenzen der modernen Türkei festgelegt. Damals wurden fast alle Inseln in der Ägäis Griechenland zugesprochen. Zypern ging an die Großmacht Großbritannien. 51 Jahre später, im Juli 1974, landeten türkische Truppen auf Zypern und etablierten im nördlichen Teil einen eigenen Staat, der völkerrechtlich bis heute nur von Ankara anerkannt wurde.
Die „Operation Atilla“, wie der türkische Generalstab das Unternehmen genannt hat, gilt einerseits als Fragezeichen hinter der Vertragstreue türkischer Politiker, andererseits verstärkt sie rhetorische Muskelspiele durch die gezeigte Bereitschaft, sich gegebenenfalls über internationale Abmachungen hinwegzusetzen. Wie das 1974 auf Zypern geschah, hat der Historiker Stefan Maximilian Brenner in der Zeitschrift „Militärgeschichte“ des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr rekonstruiert. Dabei legt er den Fokus auf einen weitgehend unbekannten Aspekt: Die Invasion alarmierte die Nato-Verbündeten nicht zuletzt wegen der zahlreichen Mängel in der Durchführung, die das Vertrauen in die Schlagkraft der türkischen Streitkräfte nachhaltig erschütterten.
Dass die griechisch-türkischen Animositäten im Sommer 1974 fast in einen heißen Krieg zwischen Nato-Partnern gemündet hätten, lag an den griechischen Militärs. Das Obristenregime, das sich 1967 in Athen an die Macht geputsch hatte, stand innenpolitisch mit dem Rücken zur Wand. Da der Führer der Junta, Georgios Papadopoulos, in realistischer Einschätzung der Lage sich einem Anschluss Zyperns widersetzte, wurde er von radikalen Generälen gestürzt, die ihre Herrschaft mit einem außenpolitischen Erfolg zu stabilisieren suchten.
Sie unterstützten daher den Aufstand der griechisch geführten zypriotischen Nationalgarde gegen den vermeintlichen „kommunistenfreundlichen“ Präsidenten Erzbischof Markarios und etablierten ein radikales Marionettenregime, das sich in den bürgerkriegsähnlichen Zusammenstößen zwischen griechisch- und türkischstämmigen Zyprioten zuvor mit Massakern und brutaler Rhetorik hervorgetan hatte. Das Großbritannien, neben Griechenland und der Türkei Garantiemacht der 1959 in London und Zürich geschlossenen Verträge, die den Status des Insel festlegten, eine Intervention ablehnte, beschloss die Führung in Ankara am 16. Juli den Einmarsch. Um das Leben ihrer „Landsleute“ auf der Insel zu schützen, hieß es zur Begründung.
Bereits am 19. Juli landeten 1200 Soldaten und 60 M-47-Panzer auf der Insel, Luftlandetruppen sprangen über der türkisch-zypriotischen Enklave östlich der Hauptstadt Nikosia ab, Kampfflugzeuge bombardierten Stellungen der Nationalgarde. Doch bald schon stoppte der Vormarsch.
Obwohl sie nur über leichte Waffen und einige veraltete sowjetische T-34-Panzer verfügten, setzten sich Nationalgarde und griechisch-zypriotische Freischärler verbissen zur Wehr und lieferten den Invasoren, zumal in Nikosia, blutige Straßenkämpfe. Obwohl die wankende Militärjunta in Athen den Einsatz von Soldaten verweigerte und die Türken ihre Truppen bald auf 6000 Mann verstärkt hatten, gerieten diese zunehmend in die Defensive und kontrollierten bald weniger Territorium, als die türkischen Zyprioten vor der Landung beherrscht hatten.
Die Gründe, die Brenner auflistet, waren vielfältig: Die Einheiten, die man überstürzt in Marsch gesetzt hatte, waren nur ungenügend vorbereitet worden. Um überhaupt genügend Kraftstoff zusammenzubekommen, hatte die Armee in der Südosttürkei Betriebsstoffe bei Zivilisten beschlagnahmen müssen. Viele Fahrzeuge blieben auf den schlechten Straßen Anatoliens bereits auf dem Marsch liegen. Marode Strecken behinderten den Eisenbahntransport. Die Luftwaffe konnte ihre Einsatzbereitschaft nur durch Lieferungen aus der – damals befreundeten – Arabischen Republik Libyen aufrecht erhalten.
Entsprechend mangelhaft war die Versorgung der Invasionsverbände, die bald auf die wenigen türkischstämmigen Regionen zurückgedrängt wurden. Mit steigenden Verlustzahlen sank die Moral. Vor allem aber „wies die türkische Armee erhebliche Defizitie im koordinierten, effektiven Zusammenwirken ihrer drei Teilstreitkräfte auf“, schreibt Brenner. „Hier offenbarten sich die schweren Ausbildungsmängel und die fehlenden Gefechtserfahrungen des türkischen Offizierskorps“. Manöver vergangener Jahre hatten sich auf „eingespielte Vorführeffekte“ beschränkt. Im Nato-Hauptquartier in Brüssel kam man zu dem Schluss, dass Kampfkraft und Logistik der türkischen Armee kaum in der Lage sein würden, im Ernstfall den mechanisierten, hochmobilen und zahlenmäßig überlegenen Luft- und Landstreitkräften des Warschauer Pakts gewachsen zu sein.
Erst ein dreiwöchiger Waffenstillstand, der am 22. Juli auf Druck von USA und Nato zustande kam, veränderte die Lage. Während durch den Sturz der Militärjunta in Athen Griechenland als Unterstützer vollständig ausfiel, verstärkten die Türken ihre Truppen für ihre „Operation Atilla II“ auf der Insel auf 32.000 Mann, dazu zahlreiche Panzer, gepanzerte Truppentransporter und Geschütze. Ihnen hatten die 45.000 griechisch-zypriotischen Kämpfer nichts entgegenzusetzen. Zwischen dem 13. und 17. August eroberten die Türken die Flugplätze von Nikosia und Tibou und besetzten weite Teile Nikosias. Als ein neuer Waffenstillstand in Kraft trat, kontrollierten sie mehr als ein Drittel der Insel und feierten das Unternehmen als großen Sieg.
Es folgten Massaker, Massenvertreibungen und eine Teilung, die an den Eisernen Vorhang erinnerte. Bis zu 160.000 Zyperngriechen und 70.000 Zyperntürken verloren ihre Heimat. Nikosia wurde eine durch eine Mauer geteilte Stadt. 1983 entstand der Türkische Föderativstaat von Zypern, der aber bislang nur von der Türkei anerkannt wurde. Erst im Zuge des EU-Beitritts der Republik Zypern 2004 hat sich das Verhältnis zwischen den verfeindeten Volksgruppen etwas entspannt und wurde die Grenze durchlässiger.
Im Nato-Hauptquartier in Brüssel sorgte 1974 noch ein weiterer Aspekt für Ärger. Bei seiner – völkerrechtswidrigen Operation – hatte „der türkische Generalstab großzügig auf modernes Rüstungsgerät der Nato zurückgegriffen“, schreibt Brenner. Eigentlich hätte dies nur zum Zwecke der integrierten Verteidigung des Bündnisgebiets verwendet werden dürfen.
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