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Neun von zehn Paaren lassen bei Trisomie abtreiben

Der fünfjährige Valentino ist ein Kind mit Downsyndrom – und sichtlich fröhlich. Kinder sollen heute möglichst perfekt geraten. Dafür wird Schwangeren zu vielen Tests geraten, deren Folgen den späteren Müttern nicht immer bewusst sind Der fünfjährige Valentino ist ein Kind mit Downsyndrom – und sichtlich fröhlich. Kinder sollen heute möglichst perfekt geraten. Dafür wird Schwangeren zu vielen Tests geraten, deren Folgen den späteren Müttern nicht immer bewusst sind
Der fünfjährige Valentino ist ein Kind mit Downsyndrom – und sichtlich fröhlich. Kinder sollen heute möglichst perfekt geraten. Dafür wird Schwangeren zu vielen Tests geraten, dere...n Folgen den späteren Müttern nicht immer bewusst sind
Quelle: picture alliance / ZB
Schwangere können schon lange nicht mehr einfach nur schwanger sein. Viele Tests versprechen ihnen mehr Sicherheit. Wie es allen Beteiligten hinterher geht, gerät schnell aus dem Blickfeld.

Frauen entscheiden sich immer später für ein Kind – und das soll dann möglichst perfekt sein. „Die Anspruchshaltung der Eltern ist größer geworden“, sagt Ralf Schild, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pränatal- und Geburtsmedizin (DGPGM). „Idealerweise soll ein Kind makellos sein, auch wenn gerade das höhere Alter der Mutter dem entgegenspricht.“ Babys mit schweren Erbgutstörungen oder Organfehlbildungen haben zwar bessere Lebenschancen als je zuvor. Doch nur noch selten werden sie ihnen gewährt. „Neun von zehn Frauen lassen bei einer Trisomie einen Abbruch machen.“

„Kinder stehen jetzt schon während der Schwangerschaft ständig auf dem Prüfstand“, sagt Angelica Ensel vom Deutschen Hebammenverband. „Die Pränataldiagnostik ist zu einem Kanal geworden für alle Ängste, die zur Schwangerschaft als einer Zeit des Umbruchs immer schon gehört haben. Oft haben die Frauen das Gefühl, die Untersuchungen sind Prävention und gehören einfach dazu. Dabei wissen sie meist nicht, wie viel Unsicherheit und Stress durch die Diagnostik selbst entsteht.“ Auffällig sei, dass vor allem Frauen mit einem guten familiären Netz und einer stabilen Partnerschaft auf zusätzliche Analysen neben den normalen Untersuchungen beim Frauenarzt verzichteten.

Risiko bei der Fruchtwasseruntersuchung

Lange ließ sich während der Schwangerschaft nur mit einer riskanten Fruchtwasseruntersuchung abschätzen, ob das Kind eines seiner Chromosomen drei- statt zweifach besitzt. Das änderte sich mit der Entwicklung des sogenannten Erst-Trimester-Screenings vor zwei Jahrzehnten. Dabei wird der Fetus in der 11. bis 14. Schwangerschaftswoche mit einem hochauflösenden Ultraschallgerät vermessen, zusätzlich werden bestimmte Blutwerte der Mutter analysiert.

„Ich habe Angst vor der Geburt meines Kindes“

Eine junge Frau erwartet ein Kind, das mit Trisomie 21 zur Welt kommen wird. Sie sucht Hilfe bei einer Organisation. Die Antwort: Ein bewegendes Video, in dem Menschen mit Down-Syndrom ihr Mut machen.

Quelle: Die Welt

Bedeutsam ist vor allem die sogenannte Nackentransparenz: Wenn sich Lymphsystem und Nierenfunktion der dann 45 bis 84 Millimeter kleinen Winzlinge entwickeln, sammelt sich im Bereich des Nackens, wo die Haut sehr dehnbar ist, Flüssigkeit an. Eine verstärkte Ansammlung kann ein Hinweis auf eine Chromosomenabweichung sein. „75 Prozent der Kinder mit einer Trisomie fallen darüber auf“, erklärt Schild. Durch Kombination mit anderen Messdaten und den Blutwerten steige dieser Anteil auf gut 90 Prozent.

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Bei der Einführung des Screenings nutzten vor allem ältere Schwangere mit erhöhtem Risiko für ein Kind mit Trisomie den Test. „Inzwischen machen das auch viele jüngere Frauen“, sagt Schild, Chefarzt bei den Diakonischen Diensten Hannover (DDH). Die Zusatzuntersuchung wird nicht nur von Spezialisten, sondern auch von immer mehr normalen Frauenärzten angeboten – zahlen müssen die Patientinnen selbst. „Die Kosten liegen bei 100 bis 250 Euro“, sagt Schild.

Psychische Belastung als Folgen vom Screening

Oft stockt den Eltern der Atem, wenn ihr Arzt von einer auffälligen Nackentransparenz spricht. „Es kommen aber die allermeisten der Feten mit auffälliger Transparenz letztlich ohne Auffälligkeiten zur Welt“, erklärt Ute Germer, Leiterin des Zentrums für Pränatalmedizin der Universität Regensburg. Daher wird zur Absicherung eines auffälligen Befunds oft eine invasive Untersuchung empfohlen: eine Plazenta- (Chorionzottenbiopsie) oder Fruchtwasserpunktion (Amniozentese). Die entnommenen Gewebeproben enthalten Erbmaterial des Kindes, das sich im Labor auf Abweichungen der Chromosomen testen lässt. Bis zu einem genaueren Befund wird die Mutter-Kind-Beziehung allerdings erheblich gestört, da das Gefühl einer Schwangerschaft auf Probe entstehen kann. Die zukünftigen Eltern befassen sich mitunter schon vor Erhalt der Ergebnisse mit einem möglichen Schwangerschaftsabbruch, was die Beziehung zum Ungeborenen erheblich stört.

Mit dem Erst-Trimester-Screening habe die invasive Diagnostik deutlich abgenommen, sagt Germer. „Im Jahr 2000 wurde noch bei zehn Prozent der Schwangeren eine Amniozentese gemacht, inzwischen sind es unter fünf Prozent, obwohl die Rate älterer Schwangerer massiv zugenommen hat.“ Damit rettet das Screening wohl so manches Leben: Etwa einer von 200 Feten überlebt eine Punktion nicht.

Auch die möglichen Folgen des Erst-Trimester-Screenings machten sich Frauen oft nicht bewusst, erklärt Angelika Wolff vom Zentrum Familie, Bildung und Engagement der Diakonie Deutschland. „Und es ist nicht unbedingt die Überzeugung des Berufsstandes Arzt, in der Beratung auch darauf einzugehen, dass man die Wahl hat, dass es ein Recht auf Nichtwissen gibt, dass Diagnostik Unsicherheiten verstärken kann, statt sie zu lösen.“ Das Gefühl der Schwangeren sei: „Das ist nicht invasiv, das kann man ja machen“, sagt auch Hebamme Angelica Ensel. „Das Screening wird als Vorsorge empfunden – was es nicht ist.“

Viel Geld zu verdienen mit Analysen und IGeL-Leistungen

Ergebe sich eine Auffälligkeit, seien die Frauen meist so verunsichert und beunruhigt, dass sie aus dem Diagnostikkarussell nicht mehr aussteigen könnten, so Wolff. Es sei paradox: Die Kinder- und Müttersterblichkeit sei so gering wie nie, eine Schwangerschaft aber werde in der modernen Gesellschaft als etwas sehr Unsicheres empfunden. „Es ist absolut schwer geworden, einfach guter Hoffnung zu sein“, betont auch Ensel.

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Familien sollten sich auch klarmachen, dass mit den Analysen viel Geld verdient werde, sagt sie. „Da kann es Profitdenken geben und unethischen Umgang mit Igel-Leistungen wie in anderen medizinischen Bereichen auch.“ Auch Regressangst spiele eine Rolle, ergänzt Wolff. „Es hat schon solche Klagen gegeben: Uns wurde zugemutet, so ein Kind zu bekommen, weil wir schlecht informiert wurden.“

Für das Wohlbefinden der Frauen sind die vielen möglichen Zusatzuntersuchungen nach Ensels Ansicht keineswegs immer von Vorteil. „Die Schwangere gerät unter Stress, das gute Gefühl für sich selbst geht verloren, die Beziehung zum Kind wird gestört.“

Screening kann hilfreich sein

Seien Probleme früh bekannt, könne in vielen Fällen früh reagiert werden, betonen Mediziner. Beim Ultraschall lasse sich zum Beispiel eine verdickte Blase des Kindes erkennen und dann punktieren, erklärt Schild. Bei einem Herzfehler könne eine passende Klinik für die Geburt ausgewählt und dann direkt der Kinderkardiologe konsultiert werden.

„Drei bis vier Prozent der Schwangerschaften enden mit der Geburt eines Kindes mit einer Erkrankung, wobei die Rate der strukturellen Anomalien zehnmal höher liegt als die der Chromosomenstörungen“, erklärt Germer.

Zu den Anomalien zählten schwere Defekte wie Herzfehler oder ein offener Rücken (Spina bifida), aber auch das Fehlen einer Niere oder ein Ohranhängsel – eine harmlose Hautausstülpung am Ohr. Eine Trisomie habe nach wie vor jedes 600. bis 700. Kind, da es zwar immer mehr ältere Mütter mit höherem Risiko, aber auch mehr Abbrüche in solchen Fällen gebe.

Seit Anfang 2010 sind Ärzte verpflichtet, bei einem auffälligen Befund auf psychosoziale Beratung hinzuweisen. Ob dies von den Paaren in Anspruch genommen werde, sei regional sehr unterschiedlich, sagt Wolff. Eine der ersten und zutiefst menschlichen Reaktionen sei oft die Suche nach Schuld, nach einer Erklärung, einer fassbaren Ursache. „Große Themen sind auch die Lebensplanung und die Reaktionen im persönlichen Umfeld.“

Das Kind behalten - Abschied vom Ideal

Eine Antwort auf die Frage, ob man das Kind denn nun behalten solle oder nicht, gebe es von den Beratungsstellen nicht: „In fast allen Fällen geht es um den Abschied von einer idealen Vorstellung, nicht von einem machbaren Leben“, sagt Wolff. Oft gebe es ein großes Dilemma zwischen den eigenen Wertvorstellungen und dem Gefühl der subjektiven Machbarkeit. Zudem könne es immense Unterschiede der Partner im Umgang mit dem Thema geben. „Nicht selten zerbrechen Paare daran.“

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Besonders schwer fällt eine Entscheidung in jenen vielen Fällen, in denen kaum vorherzusagen ist, wie das Leben des Kindes verlaufen wird. „Bei einem offenen Rücken lässt sich zum Beispiel nicht absehen: Wird das Kind geistig behindert sein oder nicht?“, erläutert Schild. Auch bei Trisomie 21 sei die Bandbreite der Ausprägung extrem groß.

Ein entscheidender Faktor bei der Beratung sei für ihn das Gefühl, dass das Paar an einem Strang ziehe. „Bei spürbaren Dissonanzen hake ich intensiver nach.“ Die Scheidungsrate bei Eltern behinderter Kinder liege deutlich über dem Schnitt, betont Schild. „Um als Mutter ein solches Kind allein großzuziehen, gibt es zu wenig gesellschaftliche Hilfen.“

Behinderte seltener in Heimen untergebracht

Generell allerdings hat sich die Unterstützung sehr zum Guten gewandelt – auch der Inklusionsgedanke. „Die Akzeptanz ist viel größer geworden gegenüber Behinderten, die medizinische Perspektive hat sich erheblich verbessert“, sagt Germer. Es gebe weit bessere Hilfen, psychosozial ebenso wie konkret bei der Versorgung. Zudem würden Betroffene seltener in Heimen untergebracht.

„Man sieht inzwischen viel eher mal ein solches Kind in der Nachbarschaft. Und was man kennt, macht einem nicht so Angst.“ Die Entscheidung für oder wider ein Kind mit auffälligem Befund werde inzwischen viel stärker vom Denken der jeweiligen Familie bestimmt als von der Beurteilung der Gesellschaft, ist Germer überzeugt.

Für den Arzt, der das Abbruchgutachten schreiben müsse, ergeben sich oft schwierige Situationen. „Ich bin Genetikerin und soll über die Psyche einer Frau entscheiden“, erklärt Ute Moog, Leiterin der Genetischen Poliklinik am Universitätsklinikum Heidelberg. Auch sie erlebt häufig unterschiedliche Einstellungen der Partner. „Gerade bei Trauer und Abschied kann die Wegstrecke ganz unterschiedlich sein.“ Im Institut arbeite darum auch eine Sozialarbeiterin, zudem würden auf Wunsch weitere Kontakte vermittelt – auch zu Familien mit einem ähnlich beeinträchtigten Kind.

Schuldgefühle nach schneller Entscheidung

Oft allerdings wollen Paare eine Entscheidung möglichst schnell fällen, um das unerträglich erscheinende Entscheidungsdilemma hinter sich zu bringen – und tragen mitunter später schwer an Schuldgefühlen.

„Ein Abbruch ist immer eine traumatische Erfahrung“, warnt Ensel. Viele Frauen und Paare hofften, mit einem möglichst schnellen Ende der Schwangerschaft der Spannung entkommen zu können, schreibt auch Sabine Hufendiek vom Evangelischen Zentralinstitut Berlin in einem Fachbeitrag. „Die Hoffnung richtet sich darauf, dass mit dem Abbruch der Schwangerschaft gleichsam die unaushaltbare Spannung vergehen möge.“ Das erweise sich allerdings meist als Trugschluss. „Zu schnell gefasste Entschlüsse können zu schwierigen, verzögerten oder pathologischen Trauerprozessen führen, oder die fehlgeleitete Trauer führt zu nicht endenden Schuldgefühlen und Ambivalenzen.“

Ganz neue Risiken sehen die Experten bei den seit einiger Zeit erhältlichen speziellen nicht invasiven Bluttests (NIPT), die derzeit meist etwa 500 bis 900 Euro kosten. Eine mütterliche Blutprobe kann damit auf bestimmte Erbgutfehler des Fetus untersucht werden. Die Präzision sei zwar gerade bei Trisomien recht hoch, eine invasive Untersuchung müsse dem Befund aber zur Absicherung dennoch folgen, sagt Moog.

Klare Regeln für Bluttests in der Schwangerschaft nötig

Sorgen macht den Medizinern vor allem die künftige Entwicklung. „Theoretisch lassen sich mit solchen Tests auch weiter reichende Untersuchungen vornehmen“, erklärt Moog. „Da kommen ganz neue Risiken und Möglichkeiten auf uns zu.“ Und selbst wenn es für solche Analysen Verbote in Deutschland geben werde: „Blut lässt sich ganz wunderbar verschicken.“ Es werde ganz sicher der Wunsch entstehen, nach ganz speziellen Erbguteigenheiten des Embryos zu suchen, glaubt auch Schild. „Da sind ganz klare Regeln nötig.“ Letztlich lasse sich bei jedem Menschen irgendeine Auffälligkeit finden.

Um die 100.000 Schwangerschaftsabbrüche gibt es in Deutschland nach Daten des Statistischen Bundesamtes jährlich, bei 3703 davon lag im Jahr 2013 eine medizinische Indikation vor – etwa eine hohe psychische Belastung der Frau wegen der Trisomie ihres Kindes. 2800 Abtreibungen wurden demnach nach der zwölften Schwangerschaftswoche vorgenommen, gut 560 sogar erst nach der 21. Woche.

Fetozid mit einer Spritze ins Herz

Experten gehen davon aus, dass die Dunkelziffer sehr viel höher liegt, da es keine Meldepflicht für Spätabbrüche gibt. Weil das Kind bei der eingeleiteten Geburt oft lebend zur Welt käme, wird es im Mutterleib getötet – mit einer Kaliuminjektion ins Herz oder in die Nabelvene. „So ein Fetozid ist noch einmal eine ganz andere Sache, viele Ärzte verweigern das“, erklärt Moog. Eine gesetzliche Obergrenze für das Alter des Fetus bei Abbrüchen aus medizinischer Indikation gebe es nicht.

Daraus resultiert eine absurde Situation, sagt Wolff. Nicht perfekte Kinder würden in der 22. Woche und noch später getötet – dagegen werde um in diesem Zeitraum geborene Frühchen oft um jeden Preis gekämpft. Dies zeige die vielen Facetten des Themas: „Einfache Antworten gibt es nicht.“

Auch Hebamme Ensel betont: „Die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik fordern, dass Eltern verantwortliche Entscheidungen treffen. Dabei brauchen sie unbedingt Unterstützung. Vor allem aber muss eine Frau ihren Frieden finden mit der getroffenen Entscheidung.“

Scheidung, weil das Kind behindert ist

Weil ihr Sohn mit dem Down-Syndrom auf die Welt kam, stellte Samuel Forrests Frau ihn vor ein Ultimatum: Sie oder das Kind. Er entschied sich für das Kind - und startete eine Crowdfunding-Kampagne.

Quelle: Die Welt

dpa

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