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Kultur So trinkt der Türke

Der Alkohol gehört zum Islam

Freie Autorin
Auf Atatürk! Auch anatolische Roma trinken in aller Ruhe ihren Raki Auf Atatürk! Auch anatolische Roma trinken in aller Ruhe ihren Raki
Auf Atatürk! Auch anatolische Roma trinken in aller Ruhe ihren Raki
Quelle: Mehmet Ozsimsek/NarPhotos/laif
Die Raki-Kultur ist so alt wie das Osmanische Reich. Man trinkt den türkischen Anisgeist kultiviert, gesellig und tolerant. Eine Geschichte über alte Traditionen, hohe Ideale und strenge Regeln.

Wenn ein Verbot den regierungskritischen Türken in den vergangenen Jahren unter der islamisch-konservativen AKP-Regierung wirklich auf die Nerven ging – dann das Verbot des Alkohols: Die AKP hat auf allerlei Wegen versucht, den Alkohol aus der türkischen Alltag zu verbannen. Durch eingeschränkte Verkaufszeiten, durch verpixelte Raki-Gläser im Fernsehen und jüngst sogar durch Fragen für die Personalbögen der neu gewählten Abgeordneten zu ihren Trinkgewohnheiten. Dabei wurde Alkohol im Osmanischen Reich wirtschaftlich wie kulturell hoch geschätzt – noch heute gilt der Anisschnaps als nationales Heiligtum, das auch Mustafa Kemal Atatürk als „Vater aller Türken“ anbetete.

In der mehrheitlich muslimischen Türkei herrscht noch heute eine ausgeprägt osmanische Trinkkultur, die strenge Anstandsregeln voraussetzt und bereits im alten Reich die Muslime und Nichtmuslime an den Raki-Tischen zusammenbrachte. Respekt und Verantwortung sind die Grundsätze des türkischen Trinkens, für das multikulturelle Leben des Landes.

„Alkohol hatte immer seinen Platz im Islam und im Osmanischen Reich. Unzählige Gedichte und Lieder sind im Persischen und Osmanisch-Türkischen dem Wein gewidmet. Dennoch gab es immer Zeiten, in denen das Trinken verboten wurde“, erzählt der Gastronom, Koch und Filmregisseur Ezel Akay, berühmt für seine kulinarischen Weisheiten und für brisante Kinodramen wie „Typ-F“ über die Hungerstreiks in den Hochsicherheitsgefängnissen der Neunzigerjahre.

Alkohol im Islam: Kommt drauf an, wie man den Glauben auslegt

Akay bleibt gelassen. Wie gewohnt. Alkohol habe schon immer zu Verwirrungen unter Muslimen geführt. „Es ist nicht in allen islamischen Konfessionen, Gemeinden und Kreisen verboten – so wie es unterschiedliche Interpretationen des Islams gibt, existieren auch unterschiedliche Auffassung unter Muslimen, ob Alkohol sündhaft sei.“ Sagt Akay, der heute in der 125 Jahre alten Agora-Meyhanesi kocht und als Geschäftsführer arbeitet.

Raki, das geistige Nationalgetränk, wird seit fünf Jahrhunderten in den ehemaligen Gebieten des Osmanischen Reiches gebrannt und traditionell im „Meyhane“ getrunken, wie schon die Perser ihre Weinhäuser nannten. Im „Meyhane“ sitzen muslimische, jüdische, griechisch-orthodoxe und armenische Bürger beisammen, trinken Raki oder Wein und kosten verschiedene „Meze“, kalte und warme Vorspeisen, in deren Zutaten sich wiederum der ganze ethnischen und religiöse Reichtum des zerbrochenen Imperiums wiederfindet.

Während der Wein nach dem Gericht ausgesucht wird, werden Meze nach dem Raki ausgesucht. Armenischer Pilaki, griechischer Skordalia und jüdisch-arabischer Hummus gehören auf den Tisch. Es gibt mehr als 1500 verschiedene Meze-Speisen aus allen Regionen des Landes mit ihren jeweils sehr speziellen Communities.

Geselliger Alkoholkonsum ohne Rauscheffekt

Das Agora-Meyhanesi von außen
Das Agora-Meyhanesi von außen
Quelle: Agora Meyhanesi

Die Vorspeisen mit ihren winzigen Portionen haben ihren Ursprung in den Vorkoster-Ritualen an den Höfen und in den Palästen, wo sich die Sultane und ihre Harems bei ihren ausgedehnten und üppigen Mahlzeiten davor hüten mussten, vergiftet zu werden. Zum Raki-Tischen werden die Meze in die Mitte des Tisches gestellt, man teilt sich die Portionen, jeder kostet. Man isst nicht, um satt zu werden wie auch nicht trinkt, um betrunken zu werden: Goldene Regel Nummer eins beim Raki-Trinken.

„In einer Bar wird Alkohol so schnell wie möglich konsumiert, Beziehungen werden nur für eine Nacht eingegangen. Menschen trinken und schlafen miteinander. Überstürzt und gierig. Bei lauter Musik hören sie nur das, was sie hören wollen, und sagen nur das, was sie sagen wollen“, sagt Ersin Kalkan, der Inhaber der Agora-Meyhanesi. Die Barkultur habe ihre Berechtigung, sagt Kalkan, aber er werde sie nie lieben und pflegen können wie die Meyhane-Kultur. „In Meyhanes wird langsam gegessen und getrunken. Raki wird schlückchenweise genossen. Unterhaltungen und Beziehungen sind tiefsinnig. Jemand, der in der Meyhane sitzt, hat keine Eile. An manchen Nächten wird an allen Tischen das gleiche Lied gesungen. Man weint zusammen, man tanzt zusammen.“

Raki-Trinken sei eine Zeremonie. Zwischendurch trinke man ungesüßten Tee, um schön langsam betrunken zu werden. „Raki-Trinken in einer Meyhane folgt unumstößlichen Anstandsregeln“, so Akay, der Koch und Künstler. Die Meyhane-Kultur lehne jeden Streit grundsätzlich ab, auch wenn an den Tischen alle Gedanken frei ausgetauscht würden. Der Meyhaneci, der Betreiber des Meyhane, trägt Verantwortung für seine Gästen. Er muss genau wissen, wer wie viel vertrage. „Der Meyhaneci ist derjenige, der seinem Gast höflich die Flasche wegnimmt, wenn es angeraten ist.“

Das multikulturelle Erbe des Osmanischen Reichs

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Deshalb sehe man in Istanbul keine Betrunkenen auf der Straße schlafen. Im Osmanischen Reich war jeder unaufmerksame Meyhaneci dazu verpflichtet, seinem Gast im Notfall als Küfecilik zu dienen. Küfe waren die Körbe, in denen tagsüber Obst und Gemüse transportiert und bei Nacht die Betrunkenen heim getragen wurden. „So war die Vorschrift für die Zulassung als Meyhaneci. Heute haben wir ein zusammenklappbares Motorrad, das unser Fahrer im Autokofferraum des Betrunkenen verstaut, den Gast nach Hause fährt und mit dem Motorrad zur Agora Meyhanesi zurückkehrt“, erklärt Akay. „Oder wir rufen heute einfach ein Taxi.“

Im Osmanischen Reich befanden sich die Meyhanes im Besitz der Gayrimüslimler, von Nicht-Muslimen wie Armeniern, Griechen und Juden. Während des Ramadans wurden die Meyhanes aus Respekt geschlossen gehalten. Auch heute bleiben viele Meyhanes wie das armenische „Kor Agop“ am Kumkapi und das modern-iranische „Aheste“ am Galata im muslimischen Fastenmonat zu.

Die Agora-Meyhanesi im Istanbuler Altstadtviertel Balat gehört zu den wichtigsten der über 150 Istanbuler „Weinhäuser“. Hunderte von Filmen wurden hier gedreht, hoffnungslose Liebesfilme. Auch die Geschichte der Agora-Meyhanesi ist eine Liebesgeschichte, allerdings eine ausnahmsweise glückliche: Der griechisch-orthodoxe Kapitän Asteri verliebt sich in Balat in eine schöne Frau und macht ihr einen Heiratsantrag. Sie sagt zu, unter einer Bedingung: „Du musst deinen Anker werfen.“ Asteri gibt seine Schiffe und das Meer auf, erwirbt ein Immobilie, die heutige Agora-Meyhanesi, und beginnt auf seinem Gut auf der Marmara-Insel Wein und Raki zu produzieren. 1890, unter dem osmanischen Sultan Abdülhamid, bekommt er seine Zulassung.

Sinnbild türkischer Geschichte

Das Agora-Meyhanesi von innen
Das Agora-Meyhanesi von innen
Quelle: Agora Meyhanesi

Wenn man heute die Agora-Meyhane betritt, sieht man Wänden aus der byzantinischen, der osmanischen und der republikanischen Zeit. Man steht in einem magischen Mahnmal der türkischen Geschichte. Balat war schon das Zentrum des jüdischer Lebens gewesen wie des griechisch-orthodoxen. Das ökumenische Patriarchat von Konstantinopel ist im benachbarten Fener und die Yanbol und Balat Ahrida Synagogen sind nur wenige Schritte von der Agora-Meyhanesi entfernt.

Heute gehört die Agora-Meyhane dem muslimischen Soziologen und Journalisten Ersin Kalkan. Der Urenkel von Kapitän Asteri, Hristo Dulidis und seine Ehefrau „Madame“ Evgenia, waren Kalkans Nachbarn in Balat. Als Kalkans Mutter 1969 nach Hamburg als türkische Gastarbeiterin auswanderte und ihre drei Kinder in Balat für zwei Jahre zurückließ, war es Madame Evgenia, die für Kalkan und seine Geschwister sorgte.

Mit 13 Jahren arbeitete Kalkan im Agora-Meyhanesi als Kellner und Laufbursche und traf dort auf den Dichter Cemal Süreya, der Kalkan mit 17 Jahren eine Assistenzstelle in der Zeitungsredaktion anbot, in der Süreya als Kulturredakteur tätig war. So begann Kalkans Journalistenkarriere. Dreißig Jahre später überließ Hristo Dulidis die Agora-Meyhanesi seinem Zögling Kalkan zum Freundschaftspreis – „damit der Name erhalten bleibt“ – obwohl sich große Restaurantketten schon länger für das Lokal interessierten.

Die Meyhane-Kultur gibt es bald auch in Berlin

Sowohl als Koch als auch als Regisseur versuche Ezel Akay seinen Zuschauern und Gästen seine Geschichten zu erzählen. So sei die Auswahl der kalten Vorspeisen zusammen mit dem Kellner am Kühlschrank eine unverzichtbare Tradition, in der man sich von Gerichten und Zutaten erzählt und dadurch Vorurteile abbaut. Man traut sich, alles zu essen, vielleicht sogar Leber. Die Meyhane-Kultur zelebriert die osmanische Multikulturalität. In der Agora-Meyhane ist heute der Chefkoch zazaischer Herkunft, seine Assistenten kurdisch und turkmenisch, und unter den Kellnern sind Roma, auch ein britischer Türke ist dabei.

Akay, der selbst oft in Berlin war und vorübergehend auch schon mal dort lebte, ist nun in Kreuzberg auf der Suche nach einem Lokal, um die Meyhane-Kultur auch im internationalen Berlin aufleben zu lassen. Wenn es soweit ist, sollten auch die Berliner die Regeln des Raki-Trinkens kennen. Vor allem Regel Nummer 48: „Raki trinkt man nicht allein.“

Shitstorm im Netz wegen Kopftuch-Werbung

Ein deutscher Süßigkeitenhersteller macht Werbung mit einem kopftuchtragenden Model und erntet einen Shitstorm in den sozialen Netzwerken. Die Unterdrückung der Frau würde unterstützt, so die noch harmlosere Kritik.

Quelle: WELT/Fabian Dittmann

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