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Hoffenheim und die dunkle Seite der Familie Hopp

Redakteur
1938 wurden Menachem Mayer und Fred Raymes aus ihrem Haus vertrieben – von Emil Hopp, Vater des Milliardärs und TSG-Hoffenheim-Sponsors Dietmar Hopp. Ein Film dokumentiert das Schicksal der Brüder. Mit der Familie Hopp verstehen sie sich inzwischen sehr gut.

Wie sie da so auf dem Sofa sitzen und verschmitzt lächeln, wie sie sich in ihren Erzählungen abwechseln und ergänzen und auch ein wenig widersprechen, da könnten sie zwei deutsche Brüder aus der Nähe von Heidelberg sein. Stolz auf ihre Heimat wären sie dann, die zwei alten Herren, stolz auf den Fußballverein aus ihrem Dorf, der jetzt so viele neue Bewunderer in ganz Deutschland hat.

Menachem Mayer und Fred Raymes können damit aber nicht dienen, obwohl sie aus Hoffenheim stammen. Sie lebten lange voneinander getrennt in Israel und den USA, sie hatten keinen Kontakt. Niemand mehr als sie wünschten, es wäre alles anders gekommen.

Dies ist ihre Geschichte.

Am Montagabend standen Menachem Mayer und Fred Raymes in Berlin auf der Bühne der Gala Cinema For Peace, praktisch neben Leonardo DiCaprio und Michail Gorbatschow. Die beiden bekamen einen Preis überreicht, den Award for the Most Inspirational Movie of the Year; die Schauspielerin Heike Makatsch gratulierte zu dem Film "Menachem und Fred".

Am Nachmittag auf dem Sofa war den Brüdern selbst nicht recht klar, wofür sie genau ausgezeichnet wurden. Da erschien wieder das Grinsen in ihren Gesichtern, gemildert durch Weisheit. Jetzt also ist ihr Werk der inspirierendste Film des Jahres geworden. Fred Raymes feierte vor ein paar Tagen seinen 80. Geburtstag, Menachem ist drei Jahre jünger.

Der Film erzählt die wundersame und schmerzhafte Wiederbegegnung der beiden mit Hoffenheim, mit ihrer Kindheit und ihrem Schicksal. Auch Hoffenheims berühmtester Bürger, der SAP-Unternehmer, Mäzen und Fußballförderer Dietmar Hopp, tritt darin auf, er kennt die beiden Brüder gut, und vielleicht ist dies die erstaunlichste Wendung des Films.

Denn eine mehr als 70 Jahre alte Leidensgeschichte findet zu ihrem Ursprung zurück. Menachem Mayer erzählt in stockendem Deutsch: "Es war schwer, uns für diesen Film zu entscheiden. Wir wollten ein Zeugnis für die Zukunft geben. Wir sind die letzten Mohikaner." Er hebt den Kopf und schaut zu Fred hinüber. Der nickt.

"Es ist wichtig. Es war emotional schwer, und manchmal haben wir gezweifelt."

Das erste Leben der Brüder dauert bis 1938. Fred heißt als Kind Manfred, Menachems Name ist Heinz. Die Mayers leben in Hoffenheim, der Vater ist Viehhändler und Synagogendiener. Sie gehen in die Schule, auf einem Foto stellen sich die Schüler auf die Stufen: viele Reihen kleiner Jungen und Mädchen.

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In der Pogromnacht im November 1938 tauchen SA-Männer aus dem Dorf auf, sie zerstören die Synagoge und vertreiben die Mayers aus ihrem Haus. Der Name des SA-Anführers ist Hopp, Emil Hopp, der Lehrer des Dorfes. Seine Tochter Carola ging in die gleiche Klasse wie Heinz. Auf dem Foto sitzen sie wenige Meter voneinander entfernt.

Die Familie kam bei Verwandten unter

Die Familie kommt bis 1940 bei Verwandten unter, dann werden sie deportiert, in den Süden Frankreichs. Mit 6500 anderen Juden leben sie im Konzentrationslager Gurs, die Zustände sind schrecklich. Im bitterkalten Winter 1940/41 entschließen sich die Eltern, sich von ihren Kindern zu trennen. Heinz und Manfred kommen in ein Waisenhaus in Aspet, das der französischen Regierung untersteht.

Der Vater hebt sie morgens um acht Uhr auf einen Viehwagen, Heinz erinnert sich nicht an das Gesicht, nur an ein Paar große blaue Augen. Der Mann nimmt dem zwölf Jahre alten Manfred das Versprechen ab, sich um Heinz zu kümmern, immer. Manfred sagt Ja.

Ihre Mutter schreibt Briefe, kurze und lange, das Rote Kreuz befördert ihre Post. Sie stellt sich vor, wie es ihren Kindern geht. Sie fragt: "Blühen bei euch die Bäume?" Im August 1941 kommt der letzte Brief in Aspet an, die Eltern sind nach Auschwitz deportiert worden, sie werden dort umgebracht.

"Ich dachte, dass ich nie mehr nach Hoffenheim zurückkommen würde", sagt Menachem Mayer in Berlin. Fred ging es genauso. "Ich war elf Jahre alt damals, man hat mit elf ein ziemlich gutes Gedächtnis. Der Wunsch, die alten Plätze zu sehen, wurde immer stärker."

Im Film besuchen sie das Dorf, sie sprechen mit Einwohnern. Ihr Haus steht nicht mehr. In Frankreich erinnert nichts an das Lager in Gurs, ein Wald ist gewachsen. Immer wieder wenden sich die Männer von der Kamera ab, weil sie von Gefühlen überwältigt werden. Am Ende besuchen sie Auschwitz und gehen über die Gleise.

Fred sagt den Satz: "Meiner Meinung nach ist Gott hier gestorben."

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Menachem sagt den Satz: "Der Gott, an den ich glaube, war nicht in Auschwitz."

Hilfsorganisationen und Quäker verstecken Heinz und Manfred, die Jungen überleben den Krieg, dann werden sie getrennt. Manfred beschließt, in die USA auszuwandern, Heinz bleibt in der Schweiz zurück. Bei der Einwanderung wird Manfred Mayer gefragt, ob er seinen Namen behalten will, er kürzt den Vornamen ab und stellt die Buchstaben des Nachnamens um, so wird Fred Raymes geboren.

Die jüdische Herkunft verschweigt er

Seine jüdische Herkunft bedeutet ihm fortan nicht viel, er verschweigt seine Wurzeln. Die deutsche Sprache "löscht" er aus seinem Kopf. Arbeit findet Fred als Raumfahrttechniker bei der Nasa, er gründet eine Familie, lässt sich in Florida nieder.

Heinz geht von der Schweiz aus nach Palästina, er heißt nun Menachem, engagiert sich als promovierter Biowissenschaftler in Israel und erzieht später seine Kinder im orthodoxen Glauben. Heute leben sie als Siedler in der Westbank.

Von Fred hört er nichts, die beiden stehen jahrelang nicht in Kontakt. Getrennt besuchen sie die Plätze ihrer Kindheit, Menachem ist 1974 in Hoffenheim, er hatte sich sehr gequält, doch die Neugier siegte. Fred wird 1972 von seiner Firma nach Europa gesandt, er nutzt die Chance und besucht das Dorf ebenfalls.

Im Grunde bringen erst die Briefe der Mutter aus dem Lager die Brüder wieder zusammen. Fred findet sie beim Umzug in den USA, er schickt sie nach Israel, Menachem nimmt den dicken Lederumschlag und steckt ihn in eine Schublade. Erst vor ein paar Jahren, als er sich darüber Gedanken macht, wie er seine Geschichte weitertragen kann, holt er die Briefe mit der altdeutschen Schrift wieder heraus - und schreibt an seinen Bruder. Aus der Korrespondenz und den Briefen entsteht 2003 ein Buch über die zwei Brüder, der englische Titel lautet übersetzt: "Blühen bei euch die Bäume?"

Auf diesem Umweg kommt auch die Familie Hopp aus Hoffenheim zu den Brüdern. Dietmar, Rüdiger und Carola Hopp sind die Kinder von Emil Hopp, dem SA-Mann. Sie schlagen vor, eine deutsche Ausgabe des Buches zu finanzieren. Zunächst haben sie den Wunsch, den Namen von Emil Hopp zu verschweigen, um Dietmar Hopp nicht zu schaden. Die Brüder sind zunächst einverstanden, ihre Kinder aber strikt dagegen. Als der Wunsch abgelehnt wird, sagen die Hopps, dass sie dennoch das Buch unterstützen. 2005 erscheint das "Aus Hoffenheim deportiert".

Waren die Brüder überrascht?

Fred: "Ja, und die Überraschung nimmt kein Ende. Die Tatsache, dass sie die Übersetzung unseres Buches gefördert haben, war ein bescheidener Anfang. Wir haben nun eine wirklich nahe Beziehung." Menachem: "Wir schreiben uns regelmäßig, beinahe wöchentlich." Fred: "Da hat ein starker Heilungsprozess begonnen."

Hopp stellt sich der Vergangenheit des Vaters

Die Hopps finanzieren schließlich auch die Reise beider Familien, die sich nie gesehen haben, nach Deutschland. Ein Kamerateam ist dabei, als in Hoffenheim eine Gedenktafel für die vertriebenen und deportierten Juden enthüllt wird. Die Kinder des SA-Mannes stellen sich der Vergangenheit. Im Film "Menachem und Fred" treffen sie sich zu einem Fest in Heidelberg über dem Schloss. Die Brüder sind stolz auf ihre Familien.

Haben sie Post von Privatleuten aus Hoffenheim bekommen?

Fred: "Nein."

Menachem: "Weder von Privatleuten noch von offiziellen Stellen. Die ganze Initiative für die Gedenktafel ging von der Familie Hopp aus. Die Stadt hat sich nie um uns gekümmert oder irgendein Interesse gezeigt."

Der Mann schaut aus dem Fenster, sein Ton ist bitter. Beide Brüder wissen, dass sie das Richtige tun, wenn sie ihr Schicksal erzählen und dokumentieren. Kein Ereignis wird ungeschehen gemacht, doch Hoffnung bleibt. Im Oktober werden sie zum Start des Filmes wiederkommen.

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