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Geschichte Gute alte Zeit

"Diese deutsche Kleinstaaterei war segensreich"

Landkarte Deutschland 1648 Landkarte Deutschland 1648
Grafschaften, Fürstentümer, Herzogtümer: Das Heilige Römische Reich 1648 nach dem Westfälischen Frieden. Zwar gab es auch einen Kaiser, doch viel zu sagen hatte der gegenüber den 3...00 Landesherren wenig
Quelle: picture-alliance / akg-images
Aus 300 deutschen Staaten bestand das Heilige Römische Reich im 17. Jahrhundert. Doch die Kleinstaaterei bedeutete mehr als ein Bürokratie-Chaos.

Reisen in der guten alten Zeit: Wer sich im frühen 19. Jahrhundert, sagen wir 1815, von Köln nach Königsberg aufmachte, musste Geduld mitnehmen. Nicht nur, weil Pferd und Kutsche die Gemächlichkeit liebten. Auf der Strecke standen 80 Zollstationen. Und dies, obwohl die Chaussee großenteils durch Preußen führte.

Doch allein schon Preußen kannte viele Grafschaften, Fürstentümer, Herzogtümer. Ganz zu schweigen von den unzähligen souveränen Staaten im übrigen Deutschland, das ja 1806, im Zuge der napoleonischen Kriege , auch noch seine lose Hülle des Kaiserreiches verloren hatte. 80 Zollstationen, und an jeder kam ein Kleinstaatsdiener, nahm alles unter die Lupe, kassierte die eine oder andere Gebühr.

16 Zollstationen an der Elbe

Ist es das, was uns erwartet, da heute in der großen Krise der EU die Angst umgeht, Europa könnte in die Kleinstaaterei zurückfallen? Müssen die Binnenkähne, die heute so ungehindert elbauf und elbab brummen, dann von Magdeburg bis Hamburg wieder – wie früher – 16-mal anlegen, um Zoll zu entrichten, von einem Staatswesen zum nächsten?

Ist es dann wieder so weit, dass der Krämer an der Ecke umrechnen muss: eine Elle im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach entspricht 0,88 Ellen im Herzogtum Sachsen-Meiningen-Hildburghausen; ein Dresdner Scheffel gleich 0,46 Bayerische Scheffel? Einmal durch die Wetterau von Hessen-Kassel nach Hessen-Darmstadt – hieße das dann wie einst: an jedem Kirchturm die Taschenuhr hervorholen und umstellen?

300 Staaten bildeten das Heilige Römische Reich

So weit wird es nicht kommen, auch wenn es reizvoll wäre, sich das Chaos einmal auszumalen. Wir schmunzeln heute, wenn die Debatte auf das Thema kommt. Was war das skurril, damals, hierzulande. Wie außergewöhnlich es hier zuging im europäischen Vergleich, zeigt sich schon daran, dass Kleinstaaterei zu den ganz wenigen deutschen Wörtern zählt, die unverfälscht Einzug in die englische Sprache hielten. Woher sollte auch die Übersetzung kommen? So etwas gab es nirgendwo sonst.

Genau weiß es heute keiner mehr, aber schätzungsweise gut 300 souveräne Staaten waren aus dem Westfälischen Frieden 1648 hervorgegangen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Von ihnen umfassten 80 ein Gebiet, das nicht mal zwei Drittel des heutigen Berlin ausmachte. Und eigentlich muss man hier noch die vielen Hundert "reichsunmittelbaren" Ritter hinzuzählen, deren souveräne Liegenschaften sich oft nur auf ein paar Dutzend Hektar erstreckten.

Die Kaiser hatten nichts zu sagen

Gewiss: Oben, über allem thronte noch der Kaiser oder die Kaiserin, aber die hatten nichts zu sagen in ihrem Kaiserreich und freuten sich, wenn sie im fernen Wien ihre Ruhe hatten. Und nicht von königlichen Jungspornen wie Preußens Friedrich angegriffen wurden, der ihnen dann auch noch etwas von ihren Hausländereien und Untertanen wegnahm. Unerhört, maliziös, aber der Maria-Theresia fehlte es an Macht.

Kriege, kleinere Waffengänge gehörten zum Alltag der Kleinstaaterei. Sie kosteten. Aber manchen brachten sie auch viel Geld ein. Den Landesherren nämlich, die ihre Untertanen im besten Mannesalter einkassierten und an andere Landesherren als Soldaten verliehen. Die Landgrafen von Hessen-Kassel waren die Könige in diesem Geschäft.

Es gab keinen Grund für Zollunionen

Oft genug kämpften ihre Männer auf beiden Seiten der Front. Und nicht nur innerhalb des Reiches liehen sie ihre Männer aus. Hessen schossen für Venedig auf Türken, für England auf abtrünnige Amerikaner. Der Historiker Heinz Schilling geht davon aus, dass das Kapital, das Kassel so anhäufte, die Hessenmetropole Frankfurt als Bankenplatz etablierte.

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Allzu viele nennenswerte Quellen für die Finanzierung ihres Hofes hatten die Landesherren nicht, Einkommensteuern konnten flächendeckend nicht erhoben werden. So waren die Zolleinkünfte ein wichtiger Posten und auch ein Grund dafür, dass niemand auf die Idee kam, Zollunionen zu gründen, um den Handel anzukurbeln. Im Gegenteil: War der Fluss eine Zollgrenze und verfügte der Graf nebenan über eine einträgliche Brücke, so wurde diese auch schon mal über Nacht eingerissen und an der eigenen Flussetappe eine neue errichtet - nebst Hütte für den Zöllner.

Goethe wollte keinen vereinten Nationalstaat

Finstere Zeiten also? Grund genug für die Dichter und Denker, vom einigen Nationalstaat zu träumen? Wer hier auf den Zeitgenossen und Weltbürger Goethe hätte setzen wollen, wäre enttäuscht worden: "Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens; bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus", sagte er dazu.

Nun war Goethe treuer Beamter seines Landesherrn in Weimar und wollte womöglich dessen Souveränität nicht infrage stellen. Doch auch seinem Dichterfreund Friedrich Schiller galt die nationale Einheit wenig: "Stürzte auch in Kriegesflammen Deutschlands Kaiserreich zusammen, Deutsche Größe bleibt bestehen." Goethe und Schiller blieben in ihrem patriotischen Sturm und Drang zurück hinter dem später geborenen Helmut Kohl.

Kleinstaaterei: "Kulturelle Blüte und Diversität"

Aber auch die moderne Geschichtswissenschaft sieht die vielen Jahrhunderte der Kleinstaaterei beileibe nicht nur als verlorene Zeit. Gewiss, zur hohen Zeit der Nationalstaatsbewegung im 19. Jahrhundert, als die Burschenschaften die schwarz-rot-goldene Fahne hochhielten, ließ die Zunft kein gutes Haar an dem einstigen Partikularismus. Heinrich von Treitschke sah darin allein eine "politische Entsittlichung der Nation". Ineffizienz, dynastischer Eigennutz, zeremonielle Erstarrung waren zu Bismarcks Zeiten die Attribute für die zurückliegende Epoche.

Heute aber kann die Einschätzung des Mainzer Neuzeitexperten Peter C. Hartmann als typisch gelten: "Das Heilige Römische Reich wird von nicht wenigen Neuhistorikern heute wesentlich positiver bewertet." Er selbst hebt die "konfessionelle, ethnische und sprachliche Vielfalt", die "kulturelle Blüte und Diversität" und die "durchaus fruchtbare wirtschaftliche Konkurrenz sowie regionale Strukturen" hervor.

In Frankreich wurde zentralistische geherrscht

Das Heilige Römische Reich – ein Vorbild für das "Europa der Regionen"? Auch Politiker wären dem Vergleich nicht abhold. Dagmar Schipanski, bis 2004 Kultusministerin Thüringens, eines vom Partikularismus besonders betroffenen Landes, sagte einmal: "Diese Kleinstaaterei hat sich als durchaus segensreich erwiesen."

Der Geschichtspublizist Bodo-Michael Baumunk trifft es wohl, wenn er schreibt: "Wo es galt, ein Resümee der Kleinstaaterei zu ziehen, waren Politik und wirtschaftliche Verhältnisse ihren Gegnern, die Kultur hingegen ihren Fürsprechern in der Argumentation willkommen."

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Der Zentralismus Frankreichs mag diesem Land zu Zeiten des Sonnenkönigs viel Macht beschieden haben, mit einem riesigen Versailles. Deutschland aber hat heute viele Versailles aus dieser Zeit, manche nicht viel kleiner als das Original und vor allem: verstreut über das ganze Land. Viele Hundert Residenzen gibt es zu entdecken, von Arolsen bis Zerbst, einst alles Hauptstädte, auch wenn sie sich heute nicht danach anhören.

Leibniz und Lessing zog es in Kleinstädte

Kein Mensch kann sie alle aufsagen, sie fallen uns nur wieder ein, tauchen unversehens auf, wenn wir durchs Land fahren. Mit einer sonst in Europa selten erreichten Vielfalt an Architektur, von Leo von Klenze, Johann Fischer von Erlach, Balthasar Neumann und vielen anderen, je nach Façon des Landesherren. Viele kleinere von ihnen, etwa Wolfenbüttel, Gotha, Detmold lockten große Namen an, wie Leibniz oder Lessing. Oft zusammen mit deren unermesslichen Bibliotheken.

Manch Musiker wurde in Provinzhauptstädten groß. Wer kennt noch das Theater Meiningen in Thüringen, ein klassizistischer Prachtbau? In Treitschkes "entsittlichter Zeit" tourte von dort regelmäßig ein Ensemble, das diejenigen der preußischen Hauptstadt ausgestochen hätte, durchs weite Land.

Viele Landesherren hatten kulturelle Ambitionen

Und nicht nur im Großen wirkt diese Mannigfaltigkeit heute nach, auch in der deutschen Küche mit ihrer regionalen Vielfalt wie in keinem anderen Land Europas. Deutschland ist heute berühmt für seine 300 verschiedenen Brotsorten, und es ist nur bedingt zufällig, dass es so viele sind, wie es einst Länder gab.

Grausame Grafen, furchtbare Fürsten, hartherzige Herzöge oder mätressengierige Monarchen - all das hat es gegeben, vielhundertfach. Doch es gab auch unzählige Landesherren mit hohen kulturellen Ambitionen. Ihre Hinterlassenschaften können wir heute bestaunen.

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