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Geschichte 1970

Helmut Schmidt und der Atomminen-Sperrgürtel

Leitender Redakteur Geschichte
Helmut Schmidt Helmut Schmidt
Altkanzler Helmut Schmidt
Quelle: AP
In der Nato gab es Pläne, an der DDR-Grenze atomare Landminen zu vergraben. Dies habe er 1970 zu verhindern gewusst, sagte "Zeit"-Herausgeber und Altkanzler Helmut Schmidt der "Zeit". Der Vorgang ist aber weder unbekannt noch erzählt Schmidt zum ersten Mal darüber, wie dies die „Zeit" behauptet.

Nichts fürchtete die Nato im Kalten Krieg so sehr wie einen konzentrierten Panzerangriff des Warschauer Pakts. Angesichts der zahlenmäßig deutlichen Unterlegenheit des westlichen Militärbündnisses war klar, dass ein rein konventionell geführter Angriff der Sowjetunion von den alliierten Streitkräften entlang der innerdeutschen Grenze gar nicht und möglicherweise sogar erst am Rhein würde aufgehalten werden können.

Daher entwickelten Amerikaner und Briten ab Ende 1952 ihre Strategie der „massiven Vergeltung“: Gegen jeden sowjetischen Angriff sollte mit umfassenden Atomwaffenschlägen vor allem taktisch reagiert werden. 1954 wurde dieses Konzept allgemein verbindlich für die Nato. Doch kluge Militärs sahen stets seine Schwächen: Es verhinderte einen konventionellen Krieg in Europa nur solange, wie die Bereitschaft der USA zum eigenen Untergang glaubhaft war.

Als Hindernis für sowjetische Panzer

Um 1958 entstand ein anderer Plan: Man könnte kleine nukleare Sprengsätze, so genannte Atomic Demolition Munition (ADM) entlang der innerdeutschen Grenze vergraben und so einen unüberwindlichen Sperrgürtel schaffen. Mit unterschiedlich starken atomaren Sprengwerten sollten im Falle eines Angriffs je nach Gelände Hindernisse gegen sowjetische Panzer herbeigesprengt werden.

Auf Planungen wie diese bezieht sich Altbundeskanzler Helmut Schmidt in einem Interview der Wochenzeitung „Die Zeit“. Er sagt darin unter anderem: „Als ich 1969 Verteidigungsminister wurde, stieß ich auf Pläne der Nato und der deutschen Militärs, entlang der Zonengrenze auf westdeutscher Seite Hunderte atomarer Landminen zu vergraben.“ Gemeinsam mit dem damaligen US-Verteidigungsminister Melvin Laird habe er „diesen todgefährlichen Unfug“ beseitigen können. Die Nato-Pläne und ihre Abwicklung seien damals nicht öffentlich geworden: „Wir haben das mit Fleiß ganz leise gemacht, um auf beiden Seiten des Atlantiks keine großen Aufregungen auszulösen.“

Der "Spiegel" berichtete bereits 1965

Daran allerdings stimmt nun fast gar nichts. Denn schon Ende 1964 waren alarmierende Meldungen über einen geplanten Sperrgürtel aus atomaren Minen in die deutsche Öffentlichkeit durchgesickert. Der „Spiegel“ widmete dem Thema die Titelgeschichte seiner Ausgabe vom 6. Januar 1965. Publiziert wurde auch eine Karte, die den geplanten Einsatzort solcher nuklearer Minenfelder zeigte: Ungefähr parallel mit der innendeutschen Grenze verlief demnach eine Linie östlich von Hannover über Würzburg und Nürnberg bis zur deutsch-tschechoslowakischen Grenze.

Östlich dieser Linie, in der so genannten Zone A, sollten im Kriegsfall atomare Gefechtsfeldwaffen eingesetzt werden – und atomare Sperrwaffen, eben ADMs. Städte wie Lübeck Braunschweig oder Hof hätten innerhalb dieser Zone gelegen.

Die Veröffentlichungen lösten erbitterte Kritik am Atomminen-Plan aus. Der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, General Heinz Trettner, dessen Namen mit diesem Plan verbunden war, hatte zuvor in anderer Funktion noch gegen diese Planungen opponiert – als oberster Soldat der Bundeswehr jedoch konnte er sich der Idee solcher Minen nicht mehr strikt widersetzen. Trotzdem war es unberechtigt, dass die Atom-Minen-Debatte unter dem Namen „Trettner-Plan“ aktenkundig war. Der damalige Verteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel dementierte öffentlich – und beendete intern die Debatte.

"Schmidt widersetzt sich dem Wunsch der Briten und Amerikaner"

Ende 1970 kamen ähnliche Meldungen wieder auf. Nun hieß es, amerikanische und britische Militärs übten Druck auf die westdeutschen Verbündeten aus, sich derartigen Planungen nicht länger zu verweigern. In dem „Zeit“-Konkurrenzblatt „Christ und Welt“ erschien damals ein offenbar aus dem Bonner Verteidigungsministerium munitionierter, sehr kenntnisreicher Artikel mit der Überschrift „Zu gefährlich für die Sicherheit. Helmut Schmidt widersetzt sich dem Wunsch der Briten und Amerikaner“. Die Berichte hatten ein breites öffentliches Echo zur Folge; die Pläne wurden wieder ad acta gelegt.

Allerdings nicht endgültig: Ende 1974, inzwischen war Helmut Schmidt als Nachfolger von Willy Brandt Bundeskanzler, und erneut im Sommer 1978 kamen diese Überlegungen wieder auf – vertreten unter anderem vom neuen US-Verteidigungsminister James R. Schlesinger. Ohnehin hatte die Nato 1967 ihre Strategie von der massiven Vergeltung auf das Konzept der „flexiblen Antwort“ umgestellt. Danach waren im Falle eines konventionellen Angriffs alle Optionen vom puren konventionellen Gegenschlag bis hin zum Einsatz strategischer Nuklearwaffen möglich – und eben auch taktische Kernsprengsätze, ob nun ober- oder unterirdisch gezündet.

Was sonst noch nicht neu ist

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Übrigens ist nicht nur die Sache nicht neu; auch erzählt Helmut Schmidt diese Geschichte keineswegs zum ersten Mal, wie die „Zeit“ behauptet. Schon in einem „Spiegel“-Interview vor sechs Jahren hatte er gesagt: „Wenn Not am Mann ist, muss man auch ganz ernste Konflikte wagen. Die Notstandsgesetzgebung war so einer – ein anderer zum Beispiel die Verhinderung eines durch die Nato diesseits des Eisernen Vorhangs zu verlegenden atomaren Landminengürtels. Das war 1970, zu meiner Zeit als Verteidigungsminister, und ist gar nicht öffentlich geworden. Es hätte sowohl in Amerika als auch in Deutschland einen Riesenaufstand gegeben.“ Doch der Altbundeskanzler irrt: Es gab diesen „Riesenaufstand“.

Und erst im Juni 2007 teilte Schmidt in seiner Dankrede für eine Laudatio des früheren US-Außenministers Henry Kissinger mit: „Natürlich waren wir uns nicht immer einig. Ein Beispiel war der Nato-Plan, atomare Landminen entlang der deutsch-deutschen Grenze zu vergraben als Stolperdraht, der einen konventionellen sowjetischen Angriff in einen Nuklearkrieg verwandelt, genauso automatisch Deutschland vernichtet und seinen Verteidigungswillen gebrochen hätte. Diesen Plan habe ich ganz leise zusammen mit Melvin Laird begraben. Henry, Sie waren damals Nixons Sicherheitsberater, und Sie haben gewusst, was Mel Laird und ich ausgeheckt hatten. Sie haben es mitgetragen – dafür noch einmal meinen Dank.“

Die vermeintliche Sensation im „Zeit“-Interview mit Helmut Schmidt ist nicht mehr als eine altbekannte Episode aus dem Kalten Krieg, die lediglich wieder einmal neu erzählt worden ist. Wie immer in der Geschichte gilt: Je weniger man weiß und je mehr man vergessen hat, desto leichter fallen vermeintliche „Enthüllungen“.

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