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Literatur Reformationstag

Wie Martin Luther sich die Juden zurechtlegte

Politikredakteur
Der große Reformator: Auch Lucas Cranach der Ältere (1472–1553) prägte das Lutherbild Der große Reformator: Auch Lucas Cranach der Ältere (1472–1553) prägte das Lutherbild
Der große Reformator: Auch Lucas Cranach der Ältere (1472–1553) prägte das Lutherbild
Quelle: Getty Images
Debatte ohne Ende: War der Autor der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ von 1542 ein Antisemit? Der Theologe Thomas Kaufmann erklärt: Ja, der Reformator war einer. Aus enttäuschter Liebe.

Der 31. Oktober ist gefährlich. Denn am Reformationstag liegt es nahe, historische Distanz zu vergessen. Geschehnisse vor fast einem halben Jahrtausend, nach der Veröffentlichung von Martin Luthers Thesen gegen den Ablasshandel zu Allerheiligen 1517, sollen heutige Protestanten in ihrem gegenwärtigen Glauben stärken. Dass dies sehr schwierig ist, lässt sich dem neuen Buch von Thomas Kaufmann entnehmen. Es sei eine „unausweichliche Erkenntnis“, schreibt der Göttinger Professor für evangelische Kirchengeschichte und exzellente Lutherkenner, „dass man sich Luthers Theologie ebenso wenig blindlings anvertrauen kann, wie man sich als zurechnungsfähiger Mensch des 21. Jahrhunderts freiwillig den Heilkünsten eines Baders des 16. Jahrhunderts überlassen würde“.

Aber so wenig man dem Bader vertrauen darf, so wenig kann man ihm vorwerfen, dass er Bader war. Anders gesagt: Wenn heute die Gegner des Protestantismus dem Reformator Martin Luther (1483-1546) die Abweichung von ihren Positionen zur Last legen, dann irren sie. Dann „fehlt nur noch der Vorwurf, dass er nicht Auto fahren konnte“, wie jüngst Lutherbiograf Heinz Schilling auf einer Tagung in Berlin den Polemikern vorhielt. Schilling und Kaufmann plädieren für Luthers konsequente Historisierung. Deren Leistungsfähigkeit beweist Kaufmann jetzt in einem Buch über Luthers Verhältnis zu den Juden.

Bei diesem Thema wittern Gegenwartsfixierte fette Beute. Luthers Fans meinen, seine Schrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“ von 1523 übernehmen zu können, weil er da forderte, Juden zu allen Berufen zuzulassen und sie freundlich zu behandeln. Gräuelmärchen von Hostienschändungen, Brunnenvergiftungen und Ritualmorden wies er zurück. Seine heutigen Feinde indes bedienen sich in späten Schriften, besonders in „Von den Juden und ihren Lügen“ (1542). Da verlangte Luther das Niederbrennen der Synagogen sowie die Vertreibung der Juden und erklärte sie körperlich für verderbt. Einen „spezifisch vormodernen Antisemitismus“ diagnostiziert Kaufmann da.

Der Experte: Thomas Kaufmann, Kirchenhistoriker aus Göttingen, hat das Buch "Luthers Juden" (Reclam, 203 S., 22,95 €) verfasst
Der Experte: Thomas Kaufmann, Kirchenhistoriker aus Göttingen, hat das Buch "Luthers Juden" (Reclam, 203 S., 22,95 €) verfasst
Quelle: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Doch zeigt er, dass es Luther gar nicht um Juden ging, sondern um seine eigene Rolle als „Prophet Gottes“ und kirchenpolitischer Stratege. „Luthers Juden“ hat Kaufmann sein Buch bei Reclam betitelt und macht damit deutlich, dass sich Luther die Juden zurechtlegte. In Ermangelung intensiverer Kontakte zu Anhängern dieses Glaubens konstruierte er Judenfiktionen, die zu seinen eigenen Bedürfnissen passten. Dass er sich nicht als Judenpolitiker sah, wird am Gleichmut deutlich, mit dem er die Nichtbefolgung seiner Ratschläge hinnahm: Juden erging es in evangelischen Gebieten weder besser noch schlechter als andernorts. Dass es Luther um seine inneren religiösen Impulse ging, zeigt schon die frühe Schrift.

Von Kaiser und Rom existenziell bedroht, war Luther 1523 offen für Konzepte religiöser Pluralität und blickte wohlwollend auf die ebenfalls angefeindeten Juden. Noch wichtiger aber war, dass er die Juden im Kampf gegen Rom brauchte. An ihnen glaubte Luther zeigen zu können, dass Papst und Bischöfe lögen. Er meinte, die Juden hingen ihrer Religion nur deshalb an, weil die Papisten das Christentum verfälschten. „Wenn ich ein Jude gewesen wäre“, so schrieb er, „und hätte solche Tölpel und wüsten Kerle den Christenglauben regieren und lehren gesehen, wäre ich eher eine Sau geworden als ein Christ.“ Aber jetzt, da er die biblische Wahrheit über Jesus entdeckt habe und die Rechtfertigung allein durch den Christusglauben lehre, könnten die Juden endlich das Evangelium verstehen.

Faktisch richtete Luther an die Juden eine egoistische Erwartung: Sie sollten zum protestantischen Christentum konvertieren. Luther sah selbst, dass seine Judenfreundlichkeit unter Vorbehalt stand, schrieb er doch, dass er wohlwollend bleibe, „bis ich sehe, was ich gewirkt habe“. Weil aber die Juden bis auf wenige Ausnahmen nicht konvertierten, schlug sein Werben in Hass um. Kaufmann: „Die Judenfeindschaft des späteren wurzelte in der bedingten ‚Freundlichkeit‘ des früheren Luther.“ Befeuert wurde Luthers Judenhass durch seine Übersetzung des Alten Testaments. Mit Kaufmann ist festzuhalten: „Luthers Unduldsamkeit gegenüber den Juden und sein Eindringen in den biblischen Text hängen innerlich engstens zusammen.“

Martin Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“
Martin Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“
Quelle: wikipedia

Luther glaubte, bei der hebräischen Bibel die talmudischen Deutungen zerstören zu müssen, damit klar werde, dass im Alten Testament alle Metaphern und Weissagungen auf Jesus bezogen seien. Damit wurde Luther zum Feind jüdischer Tradition und Theologie. Das sieht man „seinem“ Alten Testament an: Viele Christianisierungen dort sind sprachlich gewaltsam. Insofern hat es auch eine übersetzerische Dimension, wenn Kaufmann schreibt, die heutige Hochachtung der EKD vor den Juden stelle „einen definitiven Abschied von basalen theologischen Überzeugungen Luthers dar, an deren Tragweite die evangelische Theologie zu arbeiten hat“.

Zu arbeiten haben Protestanten auch an der Genugtuung, dass im 16. Jahrhundert der neue Glaube durch die Landesherren geschützt wurde. Diese hielten nach der Reformation am Konzept der religiösen Homogenität in der Bevölkerung auf ihren Territorien fest – woraus für Luther folgte, dass man Juden vertreiben müsse. Laut einem Text von Kaufmann und der Berliner Kirchenhistorikerin Dorothea Wendebourg für den von Staat und Kirche getragenen wissenschaftlichen Beirat für das Reformationsjubiläum 2017 zeigen die späten Judentexte Luthers, „wie sehr er mittlerweile das Gedeihen der Reformation nur noch im Rahmen des Modells einer geschlossen evangelisch-christlichen Gesellschaft für denkbar und jeden Einbruch in die hier gewährleistete religiöse Homogenität für bedrohlich hielt“.

Ergo: Juden raus. Ein weiterer Grund für Protestanten, am Reformationstag mit Blick auf die frühe Kirchengeschichte auf Distanz zu achten.

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