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Ausland Traum vom Kalifat

Erdogan will die Türkei zur Leuchte des Islam machen

Recep Tayyip Erdogan - darum ist er so beliebt bei seinem Volk

Der ehemalige Oberbürgermeister Istanbuls war in den letzten zwei Jahrzehnten maßgeblich mitverantwortlich für den wirtschaftlichen Aufschwung der Türkei. In seiner Amtseit verdreifachte sich das Pro-Kopf-Einkommen der Türken.

Quelle: N24

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Die osmanischen Sultane waren die politischen und als Kalifen zugleich die religiösen Führer der islamischen Welt. Der türkische Präsident Erdogan will daran anknüpfen – und hat bereits Maßnahmen ergriffen.

Kleine Brötchen backen ist die Sache des türkischen Präsidenten nicht. „Wir haben unsere derzeitigen Grenzen nicht freiwillig akzeptiert“, sagte Recep Tayyip Erdogan im vergangenen Jahr in einer Rede – eine Kritik am Vertrag von Lausanne, in dem 1923 die heute gültigen Grenzen der Türkei festgelegt wurden und die weit entfernt sind von der Ausdehnung, die das Osmanische Reich  bis dahin besessen hatte. In den Staatsmedien tauchten immer wieder Landkarten mit den Grenzen des alten Reiches auf. Aus dem Gedankenspiel, der Türkei die Größe des Osmanischen Reiches zurückzugeben, wird jetzt sichtbare Politik.

Ihren Aufstieg in die Weltgeschichte begannen die Osmanen als Krieger, nicht als Frömmler. Die Religion hatte die Funktion, den Machtanspruch des Sultans zu zementieren. Auf dem Höhepunkt ihrer Stärke im 16. Jahrhundert begannen die Sultane, den Titel des Kalifen zu beanspruchen – des Nachfolgers des Propheten Mohammed als religiös-politischer Führer der islamischen Welt. Das blieb so, bis Mustafa Kemal Atatürk, der Gründer der modernen Türkei, das Kalifat 1924 abschaffte.

Sein historisch einflussreichster Nachfolger als Staatspräsident ist schon jetzt Recep Tayyip Erdogan. Dessen Politik ist von vielen Experten als ein Versuch beschrieben worden, zu den Traditionen der Osmanen zurückzukehren und auch nach deren einstiger internationaler Rolle als Weltmacht zu streben.

Erdogan arbeitet an der religiösen Führungsrolle

Innenpolitisch ist Erdogan fast am Ziel. Er errichtet ein auf ihn zugeschnittenes „exekutives Präsidialsystem“ – eine Art Sultanat, wenn man so will. Außenpolitisch ist die Türkei unter ihm erstmals seit dem Ersten Weltkrieg wieder aktiv geworden, mit klaren machtpolitischen Ambitionen und erheblichem Störpotenzial im Nahen Osten. Eine wirkliche Regional- oder gar Weltmacht ist sie noch nicht geworden, zu unberechenbar und kurzsichtig ist ihre Politik. Und zu gering ihr wirtschaftliches Gewicht.

Symbol religiöser Macht: die Hagia Sophia in Istanbul
Symbol religiöser Macht: die Hagia Sophia in Istanbul
Quelle: pa/Valery Sharif/TASS

Auch was die religiöse Führungsrolle betrifft, hat Erdogan bislang wenig erreicht. Nach wie vor suchen sunnitische Muslime Orientierung bei den geistlichen Autoritäten in Kairo, Mekka und Jerusalem, nicht in Istanbul.

Das liegt vor allem daran, dass die religionspolitischen Reformen Atatürks bis heute von Erdogan nicht angegriffen wurden. Jetzt aber will er einen neuen Hebel ansetzen, um die Türkei wieder zur Leuchte des Islam zu machen.

Atatürks Grundproblem war der politische Machtanspruch, den die islamische Lehre und Rechtspraxis formulierte. Der Kalif war religiös gesehen Nachfolger Mohammeds, politisch aber auch Staatschef. Die Scharia als Rechtssystem unterschied nicht zwischen religiösem und staatlichem Recht.

Politisch bedeutete das auf Dauer eine potenzielle Gefährdung von Atatürks Macht. Er sah den Islam aber auch als Modernisierungsbremse, schon deswegen mussten Religion und Klerus politisch eingehegt werden. Zugleich war an der tiefen Religiosität der Bevölkerung nicht viel zu ändern. Seine Lösung war die Verstaatlichung der Religion. Alle Moscheen, alle Geistlichen wurden dem Staat unterstellt, der Inhalt der Freitagspredigt wird seither vom Diyanet, dem Religionsdirektorat in Ankara, zentral vorgegeben.

Moscheen, in denen der säkulare Staat predigt, was die jeweilige Regierung will – damit hatte die Türkei in den Augen der islamischen Welt ihre Rolle als religiöse Autorität verspielt. Erdogans Re-Islamisierung der türkischen Politik signalisierte jedoch seinen Wunsch, die Gewichte zwischen Politik und Religion wieder zu verschieben.

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Er selbst versuchte, sich ab 2010 zum Wortführer der islamischen Welt aufzuschwingen, mit beträchtlichem Erfolg. Das Mittel dazu war – neben frommen Phrasen – eine Rhetorik der Konfrontation gegen Israel, bis dahin strategischer Partner der säkularen Türkei. Das verschaffte ihm tatsächlich persönliche Glaubwürdigkeit auf der arabischen Straße. Aber es löste nicht das Problem, dass die Türkei theologisch keinerlei Autorität mehr besaß in der islamischen Welt.

In Situationen religiöser Erregung – etwa in der Krise um die Mohammed-Karikaturen 2005 und 2006 – kamen Fatwas, geistlich-rechtliche Weisungen islamischer Rechtsgelehrter, aus allen Ecken der islamischen Welt und versetzten die Gläubigen in Aufruhr. Aus Istanbul kam nichts. Einerseits weil das politisch so entschieden wurde und die Imame dort Staatsbedienstete sind, aber auch weil der Einfluss einer Fatwa abhängt vom Ansehen und der Glaubwürdigkeit des Gelehrten, der sie äußert. Solche Geistlichen gibt es nicht in der Türkei, zumindest nicht in den Augen der übrigen islamischen Welt.

Muftis sollen unter Erdogan (l.) wieder mehr Kompetenzen bekommen
Muftis sollen unter Erdogan (l.) wieder mehr Kompetenzen bekommen
Quelle: REUTERS

Erdogan hat die Religion als Mittel der Politik erkannt, er versteht aber auch, dass dieses Werkzeug in seiner Hand stumpf ist ohne eine erhebliche Aufwertung der türkischen Theologie. Jetzt will er dieses Problem offenbar in Angriff nehmen. Die Kompetenzen der Muftis sollen erweitert werden: Fortan sollen sie Eheschließungen vornehmen können. Bislang war dafür, wie in westlichen Ländern, die säkulare Staatsverwaltung zuständig. Die neue Regel wäre eine erste sanfte Verschiebung von staatlichem hin zu religiösem Recht.

Es gibt Pläne für die Gründung einer großen „internationalen“ islamischen Universität. Erdogan sagte dazu, hier sollte der „wahre Islam“ gelehrt werden, und zwar nicht nur auf Türkisch, sondern auch auf Arabisch und Englisch. Auf diese Weise soll Istanbul theologische Strahlkraft erlangen in aller Welt: Eine solche Hochschule, erreichte sie denn auch nur annähernd die Glaubwürdigkeit etwa der altehrwürdigen Al-Azhar-Universität in Kairo, wäre ein kostbares politisches Einflussmittel für die Türkei. Sentenzen angesehener Gelehrter von dort könnten in die muslimische Welt hineinwirken. Imame, die dort ausgebildet würden, könnten in allen Ländern des Globus predigen und die „sanfte Macht“ der Türkei stärken.

Theologisches Gewicht wird gestärkt

Als Leiter einer solchen Universität kommt für Erdogan vielleicht der jetzige Chef der Diyanet in Betracht, Mehmet Görmez. Der Präsident erwähnte, dass er bereit wäre, eine neue Aufgabe für ihn zu erwägen, sollte Görmez das wünschen. Der wiederum sagte, nach seinem jetzigen Job als Chef aller Imame käme nur eine religionswissenschaftliche Aufgabe für ihn infrage.

Vieles deutet also darauf hin, dass Erdogan auf eine Stärkung des theologischen Gewichts der Türkei in der islamischen Welt hinarbeiten will. Nicht unbedingt auf eine Rückkehr des Kalifats, aber er will eine Rückkehr zur religiösen Autorität der Türkei, die der Kalif einst verkörperte.

Es gibt nur ein Problem. Die Widerstände gegen einen religiös-politischen Führungsanspruch der Türkei waren besonders im arabischen Raum historisch immer groß, die Osmanen waren lange die Kolonialisten der arabischen Welt. Saudi-Arabien wird auf seinen religiösen und politischen Führungsanspruch in der Region nicht verzichten – schließlich ist es das Land, in dem Mekka liegt.

Zudem ist die Türkei gefürchtet: Keine der reichen, sich islamisch nennenden arabischen Regierungen ist vom Volk gewählt. Eine Türkei, die effektiv auf die arabische „Straße“ einwirken kann, wäre eine Türkei, die arabische Regierungen stürzen kann, in der Hoffnung auf mehr regionalen Einfluss. In diesem Sinne wird der neue türkische Truppenstützpunkt in Katar von den übrigen arabischen Fürstentümern, die das reiche, aber kleine und dennoch außenpolitisch sehr aktive Emirat als überambitionierten Störenfried sehen, mit Stirnrunzeln betrachtet.

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