Mehr als eine Million Sanktionen haben die Jobcenter in den vergangenen zwölf Monaten gegen Hartz-IV-Empfänger verhängt. Bis zum Juni 2015 wurden 1,003 Millionen Sanktionen ausgesprochen, wie aus der neuesten Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) hervorgeht. Das waren rund 2000 mehr als im gesamten Jahr 2014. Knapp 130.000 Hartz-IV-Empfängern wurden im Juni Leistungen gekürzt – das waren drei Prozent aller Bezieher.
Die meisten Strafen bekamen Hartz-IV-Bezieher, die Termine bei ihren Arbeitsvermittlern versäumten, dies waren rund 76 Prozent aller Fälle. Elf Prozent oder 110.842 Sanktionen wurden ausgesprochen, weil sich Hartz-IV-Empfänger weigerten, eine zumutbare Arbeit, eine Weiterbildung oder Maßnahme der Jobcenter wie etwa einen Ein-Euro-Job anzutreten. Jede zehnte Sanktion wurde verhängt, weil sich die Bezieher von Arbeitslosengeld II weigerten, Pflichten aus der Eingliederungsvereinbarung mit dem Jobcenter zu erfüllen. Im Schnitt wurden die Leistungen um knapp 20 Prozent oder 108 Euro gekürzt.
Die Sanktionen bei Hartz IV sind umstritten, da sie das Existenzminimum der Betroffenen einschränken. Die Linkspartei fordert vehement ihre Abschaffung, die Grünen sind für eine deutliche Entschärfung. Wenn Hartz-IV-Bezieher Termine im Jobcenter versäumen, werden die Leistungen für drei Monate um zehn Prozent gekürzt, bei Arbeitsverweigerung drohen Kürzungen von 30 Prozent. Bei wiederholten Verstößen kann das Arbeitslosengeld II auch komplett gestrichen werden.
Der Landkreistag verteidigte die Sanktionspraxis. „Die Möglichkeit der Verhängung von Sanktionen halten wir für ein wirksames Instrument, um die Mitwirkung des Leistungsberechtigten einzufordern“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages, Hans-Günter Henneke, der „Welt“. Dabei sei das bloße Vorhandensein der Sanktionsmöglichkeit oft bedeutsamer als die Sanktion selbst. Einen generellen Verzicht auf Sanktionen lehne der Landkreistag ab. Denn dies würde dem auf Gegenseitigkeit beruhenden Grundsatz von „Fördern und Fordern“ zuwiderlaufen. „Auch im Falle der Verhängung von Sanktionen kann nach geltender Rechtslage eine Grundversorgung sichergestellt werden“, erklärte Henneke. So könnten etwa Sachleistungen erbracht werden.
Die höchste Sanktionsquote hat Berlin
Henneke meinte, die im Verhältnis zur Zahl der Leistungsberechtigten niedrige Sanktionsquote zeige, „dass Sanktionen im Arbeitsalltag der Jobcenter eine untergeordnete Rolle spielen“. Drei Viertel der neu festgestellten Sanktionen seien zudem auf Meldeversäumnisse zurückzuführen, die nur mit einer geringeren Leistungskürzung in Höhe von zehn Prozent einhergehen. „Wesentlicher als die Betrachtung der Sanktion ist es, die dahinter liegenden Problemlagen zu erkennen und zu lösen“, sagte der Landkreisvertreter. „Die Leistungsberechtigten haben dabei dasselbe Ziel wie die Jobcenter: die Überwindung der Hilfebedürftigkeit und ein Bestreiten des eigenen Lebensunterhaltes unabhängig von öffentlicher Unterstützung.“
Die Sanktionsquote von drei Prozent lag auf dem Niveau der Vorjahre. Im Osten ist sie mit 3,4 Prozent höher als in Westdeutschland mit 2,8 Prozent. Spitzenreiter ist Berlin mit einer Sanktionsquote von 4,1 Prozent, gefolgt von Sachsen mit 3,5 Prozent. Auch Thüringen und Rheinland-Pfalz liegen mit 3,2 Prozent über dem Bundesschnitt. Die niedrigsten Quoten haben Bremen, das Saarland und Hessen mit 2,4 und 2,5 Prozent.
Besonders hoch ist die Sanktionsquote unter den Jugendlichen bis 25 Jahren – sie liegt bei 4,0 Prozent, bezogen auf die arbeitslos gemeldeten Jugendlichen sogar bei 9,7 Prozent. Von den 7031 Hartz-IV-Beziehern, deren Unterstützung im Juni komplett gestrichen wurde, war jeder zweite unter 25 Jahren. Die jungen Hartz-IV-Bezieher bis 25 Jahre werden allerdings auch härter und schneller bestraft als die Erwachsenen. Sie verlieren schon beim ersten Verstoß ihren gesamten Regelsatz, im Wiederholungsfall werden auch die Kosten der Unterkunft nicht mehr übernommen.
Dass die Sanktionen gegen Jugendliche schärfer ausfallen als bei den Erwachsenen, stößt seit Längerem auf Kritik. Wissenschaftler, Sozialverbände und Gewerkschaften fordern, die Strafen abzumildern. Denn bei jungen Leuten könnten harte Sanktionen dazu führen, dass sie sich vollständig zurückziehen und den Kontakt zum Jobcenter abbrechen. Verlieren die Jugendlichen auch noch ihre Unterkunft, drohen Obdachlosigkeit und ein Abrutschen in die Kriminalität, warnen Experten.
Gruppe arbeitet an Gleichstellung der Jugendlichen
„Sehr hohe Sanktionen könnten nicht intendierte Wirkungen wie beispielsweise Wohnungslosigkeit, verstärkte Verschuldung, eingeschränkte Ernährung oder seelische Probleme bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten auslösen“, heißt es in einer Stellungnahme des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Die Arbeitgeber hatten die scharfen Sanktionsregeln bei einer Anhörung im Bundestag in diesem Sommer noch verteidigt. Arbeitslose bräuchten „heilsamen Druck“, gerade bei jungen Leuten müsse Langzeitarbeitslosigkeit schon zu Beginn des Berufslebens verhindert werden.
Eine Arbeitsgruppe aus Vertretern des Bundes, der Länder, der Kommunen und der Bundesagentur für Arbeit (BA) hatten sich bereits auf eine Reihe von Rechtsvereinfachungen bei Hartz IV geeinigt. Dazu gehörte auch, das Sanktionssystem der Jugendlichen mit dem der Erwachsenen gleichzustellen und die Gelder für die Unterkunft im Sanktionsfall nicht zu kürzen. Eine gesetzliche Umsetzung der Vorschläge durch Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) steht jedoch noch aus. Sie legte die Vorschläge der Fachleute auf Eis, nachdem CSU und Wirtschaftsflügel der Union öffentlich gegen eine Entschärfung der Sanktionen protestiert hatten.
Der Landkreistag pocht nun auf eine zügige gesetzliche Umsetzung. „Die Vorschläge der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Besserstellung von Jugendlichen im Sanktionsrecht unterstützen wir“, sagte Henneke. Auch sollten im Zuge einer Sanktion künftig keine Unterkunftskosten mehr gekürzt werden. „Diese Änderungen sowie die weiteren Vorschläge der Arbeitsgruppe müssen nun zügig gesetzlich umgesetzt werden.“