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Deutschland Sanierungsstau

Für Schulruinen will keiner Verantwortung tragen

Schule in Pforzheim: Viele deutsche Lehranstalten sind in einem maroden Zustand Schule in Pforzheim: Viele deutsche Lehranstalten sind in einem maroden Zustand
Schule in Pforzheim: Viele deutsche Lehranstalten sind in einem maroden Zustand
Der Sanierungsstau an deutschen Schulen liegt laut KfW bei rund 34 Milliarden Euro.
  • Alle politischen Ebenen machen sich dafür gegenseitig verantwortlich. Schuld sind auch explodierende Sozialausgaben.
  • Die Bundesländer nutzen teilweise Geld vom Bund nur unzureichend. Direkt darf sich Berlin nicht beteiligen.
Warum das wichtig ist:
Laut Experten ist es absolut entscheidend in welcher Umgebung Schüler lernen. Der Raum gilt als dritter Pädagoge neben Lehrern und Mitschülern.

Lange bevor die heimische Flora im Unterricht behandelt wurde, wusste Karin Retzkes älteste Tochter, was ein Knöterich ist. Im quadratischen Ergänzungsgebäude neben dem 116 Jahre alten Klinkerbau der Alt-Lankwitzer Schule im Berliner Süden wucherte er nämlich jahrelang zwischen Boden und Wand in den Klassenraum. Das Gewächs vertrug das schulische Mikroklima besser als die mal verfrorenen, mal schweißnassen Schüler. Denn an den Heizungen fehlten die Thermostate – in den Räumen herrschte entweder Hitze oder Eiseskälte.

Der Knöterich ist nun gestutzt, Thermostate sind angebracht, aber das Elend endet nicht. Im Fachraum für Naturwissenschaften faulen seit vier Jahren die Dachplatten weg, Kabel hängen herab. Die Türen schließen nicht mehr. In die Turnhalle tritt Wasser ein. „Das Problem ist nur, dass es anderswo nicht besser ist“, sagt Karin Retzke, „da kann ich mir die Fahrerei sparen.“ Also wird auch ihre jüngere Tochter Dorothea bald die Schulruine besuchen.

Die Retzkes wohnen in einer Doppelhaushälfte wenige Straßen entfernt, der Ortsteil gehört zu Steglitz-Zehlendorf, einer der wohlhabenden Gegenden Berlins. Der Zustand der 92 Schulen jedoch ist so miserabel wie in der ganzen Hauptstadt. Berlin gilt als Paradebeispiel für eine Misere, die Eltern und Schüler im ganzen Land umtreibt. Die deutschen Schulen sind marode, ja abrisswürdig.

In Essen etwa fehlen 134 Millionen Euro für Sanierungen, in Dresden 650, in Wiesbaden 400 Millionen, Hannover schiebt Reparaturen im Wert von 740 Millionen vor sich her, selbst eine kleine Stadt wie das oberpfälzische Weiden mit 40.000 Einwohnern brauchte elf Millionen Euro – für die nötigsten Arbeiten.

Jeder schiebt die Schuld weiter

Bei solchen Summen ist es kein Wunder, dass die KfW-Bankengruppe den Fehlbetrag zur Modernisierung der Schulen auf 34 Milliarden Euro beziffert. Investiert haben die Kommunen im vergangenen Jahr 2,9 Milliarden Euro. Vor 20 Jahren waren es noch 1,3 Milliarden Euro mehr. Wer kommt hier seinen Verpflichtungen nicht mehr nach?

Zwar sind Städte und Kreise für Bau und Erhalt der Schulgebäude zuständig, doch bekommen sie dafür auch Mittel von den Ländern. Und die halten sie knapp. Zudem steigen die Sozialausgaben und engen die Spielräume der Städte ein. Jeder schiebt die Schuld weiter.

Beim Bundesbildungsministerium heißt es: Zuständig sind für Bildung laut Grundgesetz die Länder. Stimmt. Bei den Ländern heißt es: Zuständig sind für den Bau die Schulträger, die Kommunen. Stimmt auch. Die sagen: Wir bekommen zu wenig Geld vom Land, das uns zudem ständig Schulreformen aufzwingt, die bauliche Anpassungen erfordern. Stimmt leider auch. Ganz unten bei den Direktoren schließlich lautet die Klage: Die Kommunen setzen falsche Prioritäten und bauen lieber Schwimmbäder. Stimmt sicher auch hie und da. Doch wem ist damit geholfen?

Die Leidtragenden des Schwarzer-Peter-Spiels sind die Schüler, ja die Bildung insgesamt. In welcher Umgebung Kinder lernen, ist, wie Pädagogen wissen, nicht gleichgültig. Der Klassenraum unterrichtet mit. Was natürlich nicht so gemeint ist, dass in Biologie behandelte Pflanzen das Klassenzimmer überwuchern sollen.

Die Eltern greifen oft selbst zu Spitzhacke und Farbroller

„Rund zehn engagierte Elternpaare fragen immer wieder beim Schulamt nach, unterbreiten Angebote zur Renovierung“, sagt die Berlinerin Karin Retzke, die selbst Bauingenieurin ist. Oft komme nicht mal ein Rückruf. „Das Amt wird nur tätig, wenn Gefahr droht und etwa eine Tür aus den Angeln bricht.“ Der Knöterich sei auch nur gestutzt worden, weil es ein Statiker verlangte.

Sanierungsbedürftiges Treppenhaus an einer Berliner Grundschule
Sanierungsbedürftiges Treppenhaus an einer Berliner Grundschule
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Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) kennt den genauen Sanierungsbedarf der Berliner Schulen nicht. Der sei noch zu ermitteln, sagt sie. Fünf Jahre amtierte Scheeres nun. Es wirkt, als wollten sie und ihre Kollegen in den Ländern lieber gar nicht so genau wissen, was da eigentlich alles zu tun wäre. Zahlen zum Sanierungsstau sind von ihnen jedenfalls schwer zu bekommen.

„Es ist geplant, dass in den nächsten zehn Jahren über fünf Milliarden Euro für Sanierung und Neubau aufgewendet werden“, sagt Scheeres. Bis 2026 sollten alle Berliner Schulen, die es brauchten, saniert sein, hatte der Bürgermeister Michael Müller vor der Wahl im September versprochen. Das miserable Wahlergebnis seiner SPD spricht nicht dafür, dass die Eltern ihm das abgenommen haben.

Überhaupt die Eltern. Sie müssen oft selbst zu Spitzhacke oder Farbrolle greifen. Jüngst haben die Lankwitzer Eltern die Toiletten hochdruckgereinigt, verfaulte Wände entfernt und Deckenplatten angeschraubt. Solche Not-Initiativen gibt es überall. Doch bewegen sich die Eltern dabei auf heiklem Terrain.

Schüler schauen jetzt Chemie-Experimente auf Youtube

Von der Wahl der Farbe bis zum Verlegen bestimmter Bodenbeläge muss in Schulen alles zig Regeln von Brand- bis Emissionsschutz entsprechen. Mancher Schulträger sieht deshalb das Engagement eher als potenziellen Streitfall mit der Versicherung denn als willkommene Hilfe.

Die Lübecker Oberschule zum Dom ist gerade eine Baustelle. Ein „hoher sechsstelliger“ Betrag wird dafür ausgegeben, den Brandschutz des Gebäudes auf den Stand der Bürokratie zu bringen. Leitungen werden neu verlegt, Lautsprecher montiert, Fluchtwege und eine Fluchttreppe neu angelegt, Wände durchbrochen.

Die Feuerwehr hat der Stadt und deren Gebäudemanagement diese Maßnahmen verordnet. Dabei hat es, so berichtet Schulleiter Oliver Schaefer, „in der 111-jährigen Geschichte seines Gymnasiums bisher einmal gebrannt“. Im Jahr 1942, im Bombenkrieg. „Ein vereinfachtes, unbürokratisches Baurecht, wie es derzeit in der Flüchtlingsunterbringung angewandt wird“, findet Schaefer, „könnte auch bei der Sanierung von Schulgebäuden nützlich sein.“

Aus Sicht der Schüler gäbe es nämlich Dringlicheres zu tun. Wann zum Beispiel die einzige Mädchen-Toilette im Keller renoviert wird, steht ebenso in den Sternen wie die Antwort auf die Frage, wann die Schüler wieder einen zeitgemäßen Chemie-Unterricht genießen können. Der Chemieraum wurde vor fünf Monaten durch einen Wasserschaden unbenutzbar. Die Versicherung will nicht zahlen; sie hat den Zeitwert des seit drei Jahrzehnten nicht modernisierten Raums auf null festgesetzt. Statt selbst zu experimentieren, schauen sich die Schüler YouTube-Videos von Experimenten an. „Wir können hier nur noch einen Eindruck von der Chemie vermitteln“, sagt Schulleiter Schaefer.

Die Mittel werden nur zum Teil abgerufen

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Viele Kommunen sind seit Jahren daran gewöhnt, kaum Geld für Sanierungen zu haben. Wenn es doch plötzlich welches gibt, haben sie Probleme, es auszugeben. Diese Erfahrung hat Dorsten in Nordrhein-Westfalen gemacht. 22 Schulen gibt es für die 76.000 Einwohner. Die Mehrzahl ist sanierungsbedürftig. „Aber wir können uns seit Jahren überwiegend nur Maßnahmen leisten, die dazu dienen, die Sicherheit der Lehrer und Schüler zu gewährleisten“, sagt Bürgermeister Tobias Stockhoff (CDU).

Eigentlich müsste er jährlich 1,2 Prozent des Neuwerts eines Gebäudes hineinstecken, um es zu erhalten. „Aber wir können bei unserer Finanzlage nur 0,7 Prozent investieren. Entsprechend haben wir auch das Personal für die Planung der Gebäudeunterhaltung reduziert. Da bildet unsere Stadt keine Ausnahme.“

Das erklärt auch, warum ein Förderprogramm des Bundes speziell für klamme Kommunen bisher schlecht genutzt wird. Mit dem Kommunalinvestitionsförderungsgesetz sollten zwischen 2016 und 2018 ganze 3,5 Milliarden Euro unter ihnen verteilt werden. Für Infrastruktur, aber auch um Schulen energetisch und barrierefrei zu sanieren. Mehr Einsatz für die Bildung geht nicht – wegen des Grundgesetzes.

Doch wie aktuelle Zahlen beweisen, die dieser Zeitung vorliegen, rufen mehrere Länder die Mittel nur zu einem Teil ab. Lediglich Bayern, das Saarland, Sachsen, Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz haben, was ihnen zusteht, weitgehend eingesetzt oder verplant.

Ein Tropfen auf den heißen Stein

Dagegen hat etwa Berlin erst 61 Prozent verbraucht, Hamburg 48,2 Prozent, NRW 34,4 Prozent, Hessen 19 Prozent und Niedersachsen erst 10,4 Prozent. Schlusslicht ist Schleswig-Holstein mit acht Prozent. Personalmangel im Gebäudemanagement allein kann die Unterschiede nicht rechtfertigen. Und auch nicht, dass die Städte zehn Prozent anteilig mitfinanzieren müssen.

„Offenbar haben einige Länder kein wirkliches Interesse daran, das Geld des Bundes an die Kommunen weiterzureichen“, sagt der Bildungspolitiker Sven Volmering (CDU). Die Länder müssten nämlich festlegen, welche Kommune einen Anspruch hat. Daran hapert es. Damit die Mittel nicht verfallen, wurde das Programm nun bis 2020 verlängert.

Jetzt, ein halbes Jahr vor der Wahl, hat auch die Landesregierung in NRW ein zwei Milliarden Euro schweres Investitionsprogramm bis 2020 aufgelegt. Ein Wahlkampfmanöver, schimpft die Opposition. Das lässt Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) nicht gelten: „Auch wenn der Bau und die Erhaltung der Schulgebäude Aufgabe der Kommunen als Schulträger ist, registrieren wir, dass von den Städten und Gemeinden regelmäßige Sanierungen und Modernisierungen immer häufiger nur schwer gestemmt werden können.“ Deshalb habe man gehandelt.

Dorsten etwa erhält 7,5 Millionen. „Das hilft, aber es ist ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Bürgermeister Stockhoff. „Denn wenn das Programm ausgelaufen ist, stehen wir vor den gleichen Problemen wie vorher. Wir brauchen eine strukturell andere Finanzierung der Kommunen.“

Noch tut es nicht genug weh

Gerade die Sozialausgaben belasten die Städte. Sie sind von rund 36 Milliarden Euro im Jahr 2006 auf über 54 Milliarden Euro im Jahr 2016 gestiegen. „Der Bund sollte sich an den Aufwendungen der Kommunen für Bildung beteiligen können. Investitionen in die Bildung reduzieren nicht zuletzt spätere Aufwendungen für Sozialleistungen“, sagt der Hauptgeschäftsführer des deutschen Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg. Doch dafür muss ja erst das Grundgesetz geändert werden.

Das will die SPD, um dann in den kommenden Jahren neun Milliarden Euro ausgeben zu können. „Bund, Länder und Kommunen müssen in einer nationalen Bildungsallianz gemeinsam in moderne Schulen investieren können“, sagt Vize-Fraktionschef Hubertus Heil. Dafür müsse das Kooperationsverbot abgeschafft werden. Schulpolitik bleibe aber Ländersache. „Es geht vielmehr darum, eine gemeinsame Kraftanstrengung für moderne Schulen zu ermöglichen, die dringend nötig ist.“

Die Chancen, dass es so kommt, stehen schlecht. Noch tut es nicht weh genug. Die Länder fürchten um ihre Hoheit in der Bildungspolitik, obwohl kaum ein Bürger dafür noch Verständnis hat. Es bleiben gute Zeiten – für den Knöterich.

„Zustand vieler Schulen ist schlicht empörend“

Gerade in sozialen Brennpunkten müssten die Schulen gestärkt werden. Dies sei ein zentraler Beitrag zu mehr Gerechtigkeit in Deutschland. „Wir brauchen die besten Schulen für die schlechtesten Stadtteile“, sagte Gabriel.

Quelle: Die Welt

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