WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. DIE WELT
  3. Reformer oder Wolf im Schafspelz?

DIE WELT

Reformer oder Wolf im Schafspelz?

Recep Tayyip Erdogan

Abschaffung der Todesstrafe, mehr Rechte für die Kurden, Erweiterung der Pressefreiheit, Abmilderung menschenrechtlich bedenklicher Strafrechtsparagrafen, Strafverschärfung für Schlepper, Organhändler und Folterer - die türkische Regierung arbeitet in atemberaubendem Tempo Brüssels Wunschliste ab. Die Türkei steckt mitten in einem heftigen Strukturwandel. Der Motor dieser Metamorphose: Recep Tayyip Erdogan, türkischer Regierungschef.

1998 noch wurde der smarte und charismatische Macher wegen Anstiftung zu religiösem Hass zu zehn Monaten Haft verurteilt, von denen er vier absaß. "Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten", hatte der hoffnungsvolle neue Politstar bei einer Wahlveranstaltung in Südostanatolien aus einem religiösen Gedicht von Ziya Gölalp zitiert. Seine Worte seien falsch ausgelegt worden, beteuerte er vor dem staatlichen Sicherheitsgericht in Diyabakir. Die Richter, geübt in der unrühmlichen türkischen Tradition der Parteienverbote und politischen Verfolgung, sahen das anders und schickten ihn hinter Gitter. Er verlor sein Amt als Bürgermeister von Istanbul sowie das Recht, sich politisch zu betätigen.

Der Prozess tat Erdogans durch Kompetenz und Bürgernähe gewonnener Popularität als Stadtoberhaupt von Istanbul jedoch keinen Abbruch. Die Menschen erinnerten sich vielmehr seiner effizienten Amtsführung, was ihm den Wiedereinstieg in die Politik nach seiner Entlassung aus der Haft erleichterte.

Doch nun gab er den geläuterten, frommen Konservativen, der den türkischen Staat nicht mehr abschaffen, sondern nur noch verändern wollte. Statt des Islams pries er die Vorteile des säkularen Systems und den EU-Beitritt. Seine Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) empfahl sich als moderne, saubere Alternative zu der als korrupt geltenden Politikerkaste um all die Cillers, Yilmaz' oder Ecevits, deren selbstherrlicher Habitus die Geduld der Türken überstrapaziert hatte.

Die Zukunft scheint Leuten wie Erdogan zu gehören, Hoffnungsträger der jungen, moderaten und proeuropäischen Fraktion, die in ihren politischen Vorstellungen eher den Christdemokraten nahe stehen als dem iranischen Gottesstaat. Zugleich ist der 50-jährige frühere Profifußballer, der aus armen Verhältnissen stammt und als Teenager Saft und Süßigkeiten in den Istanbuler Straßen verkauft hat, so etwas wie ein Held der Arbeiterklasse. Mit Ehrgeiz und Willenskraft absolvierte er eine religiöse Imam-Hatip-Schule und studierte an der Marmara-Universität Wirtschafts- und Politikwissenschaften. Seine einfache Herkunft vergaß er darüber nicht. Das verleiht Erdogan, dem ersten Premier, der nicht aus der türkischen Macht- und Geldelite kommt, bis heute Authentizität und Zuspruch unter den armen und ländlichen Bevölkerungsschichten.

Erdogan eint, er spaltet aber auch. Längst nicht alle Mitglieder seiner Partei goutieren die Art und Weise, wie er sich an die EU heranwirft, einem Schüler gleich, der um bessere Zensuren bei den Brüsseler Oberlehrern buhlt. Mit seiner betont europafreundlichen Ausrichtung hat er die islamistische Bewegung in der Türkei gespalten. Die Anhänger des Erdogan-Ziehvaters und Nestors des türkischen Islamismus, Necmettin Erbakan, sehen ihr Ziel verraten, mehr Religion im türkischen Staat zu verankern. Ihnen vor allem ist Erdogans Volte gewidmet, Ehebruch als Straftatbestand festzuschreiben - gleichsam als Beruhigungspille des Volkszorns islamistischer Provenienz. Er wird es nicht zum Äußersten kommen lassen, sonst führte er seine bisherigen Reformen ad absurdum und schlüge die Tür zur EU vorsätzlich zu.

Es gibt auch Kräfte, die ihm die Wandlung vom Islamisten zum konservativ-religiösen Säkularisten nicht abnehmen. Vertreter der westlich orientierten Wirtschaftselite, der Justiz und des Militärs sehen in ihm den Wolf im Schafspelz: einen gefährlichen religiösen Eiferer, der sich als moderner, gemäßigter Politiker ausgibt, um das säkulare Erbe des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk abzuschaffen. Sie vermuten eine "hidden agenda", einen geheimen konspirativen Plan, der erst zur Entfaltung komme, wenn die Türkei mit einem Fuß fest in der europäischen Tür steht. Doch solche Verschwörungstheorien lassen sich angesichts der bahnbrechenden, irreversiblen Entwicklung der letzten beiden Jahre nicht halten. Erdogan scheint verstanden zu haben, dass sein Land nicht mehr Islam, sondern mehr Freiheit braucht. Insofern schickt er sich an, Atatürks 1923 begonnenes Projekt weiterzuführen.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant