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DIE WELT

In Deutschland leiden 500000 Menschen an Schizophrenie

Forscher sehen größere Chancen in der Dynamischen Psychiatrie als in der Anwendung von Medikamenten - Berliner Kongreß diskutiert über Borderline-Erkrankung

Von Gisela Finke


Berlin - Auch heute noch gelten die Ursachen der Schizophrenie, die statistisch gesehen einen von 100 Menschen trifft, als weitgehend unerforscht. Ihre Heilungschancen sind schlecht: Nach dem jetzigen Stand der Psychiatrie führt die Schizophrenie bei 80 bis 90 Prozent der Betroffenen zu einer dauerhaften Behinderung und Berufsunfähigkeit. Sie erfordert meist eine lebenslange Betreuung und eine langandauernde Einnahme von Psychopharmaka. Der Weg ins gesellschaftliche Abseits ist vorgezeichnet.Am heutigen Donnerstag beginnt an der Berliner Humboldt Universität der internationale Kongreß zum Thema: "Schizophrenie und Borderline-Erkrankungen: Eine Herausforderung an Wissenschaft und Gesellschaft." Wissenschaftler aus 24 Ländern stellen ihre neuesten Erkenntnisse über die beiden Erkrankungen vor, die man zu den großen psychiatrischen Volkskrankheiten unserer Zeit zählen muß. Immerhin leiden in Deutschland zirka 500 000 Menschen an Schizophrenie und annähernd zwei Millionen an einer sogenannten Borderline-Erkrankung.Borderline-Patienten leiden nicht an psychotischen Wahnsymptomen und Denkstörungen wie Schizophrene. Sie wirken oft nüchtern und klar in ihrem Denken und Fühlen. In vielen Fällen sind sie in Schule und Beruf zunächst erfolgreich. Bis es in einer Krisensituation - Trennung vom Partner oder Konflikte am Arbeitsplatz - zu einem Zusammenbruch der Persönlichkeit kommt.Dieser zeigt sich in massiven Depressionen und Ängsten sowie einer hohen Selbstmordgefahr. Kriminelle Handlungen, Drogen- und Alkoholmißbrauch sind Versuche, das drohende Auseinanderfallen der Person aufzuhalten. In Zeiten dieser krisenhaften Zuspitzung werden die Patienten dann häufig in die Psychiatrie aufgenommen. Sie fangen sich dort oft schnell wieder und werden entlassen, ohne daß ihre psychische Verletzlichkeit jedoch tiefergehend behandelt wurde.Bei der Schizophrenie spürt der Erkrankte eine unerklärliche Veränderung seiner Stimmungslage. Beängstigende Symptome wie etwa Stimmen, die wirre Befehle oder Drohungen aussprechen, treten hinzu. Der Außenwelt fällt sein absonderliches, bizarres Verhalten auf. Seine Mitteilungen sind für Gesunde nicht einfühlbar. Freunde, Arbeitskollegen und Angehörige fühlen sich bedroht, hilflos und ziehen sich zurück. Es erfolgt die Einweisung in die Psychiatrie.Hier klingen unter der Gabe von speziellen Medikamenten (Neuroleptika) zwar die psychotischen Symptome in der Regel binnen einiger Wochen ab. Sie hinterlassen aber einen erschöpften und vor allem verzweifelten Menschen, der vor einem erneuten Krankheitsschub nicht sicher sein kann. Gegen diese Verzweiflung helfen die Tabletten natürlich nicht. Für die Patienten beginnt eine unausweichlich scheinende "Karriere" von wiederholten Aufenthalten in der Psychiatrie, Langzeitmedikation mit erheblichen Nebenwirkungen und sozialem Abseits.Sowohl für die Ursachen der Schizophrenie als auch der Borderline-Erkrankung geht die Psychiatrie von einem sogenannten multifaktoriellen Ansatz aus: Forscher glauben, daß erbliche Einflüsse und vorgeburtliche Schädigungen des Gehirns zu einer Anfälligkeit insbesondere für Schizophrenie, aber auch für andere psychische Erkrankungen führen. Auch Grippeviren oder ein zu leichtes Geburtsgewicht wurden als Risikofaktoren dafür ausgemacht, daß irgendwann später das Gehirn "plötzlich" pathologische, chemische und elektrische Erregungsmuster produziert.Offensichtlich müssen aber zu solchen möglichen organischen Vorschädigungen zusätzlich psychische und soziale Belastungen hinzutreten, damit es zu einem akuten Ausbruch der Erkrankung kommt. So tritt die Schizophrenie laut Professor George Costa e Silva von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) häufig bei Emigranten auf - Menschen also, die aus ihrem sozialen und kulturellen Umfeld gerissen wurden. Auch in der Lebensgeschichte von Borderline-Patienten findet man gehäuft Erfahrungen von Gewalt und sexuellem Mißbrauch in der Kindheit. Vielfach scheinen schon die heute zur "Normalität" gehörenden Defizite im Familienleben vielen Menschen nicht mehr genug innerem Halt und Sicherheit zu geben.Die am Berliner Kongreß teilnehmenden Wissenschaftler sind dem Teil der Psychiatrie zuzurechnen, die Schizophrenie und auch die Borderline-Störung grundsätzlich für heilbar hält. Und dies nicht vorrangig durch Psychopharmaka, sondern vor allem durch besondere Formen der Therapie. Diese zielen darauf ab, die gesunden Anteile der Erkrankten zu kräftigen und gleichzeitig tiefgreifende psychische Verletzungen und Schwächungen, die sie in ihrem Leben erlitten haben, aufzuarbeiten und wiedergutzumachen.Denn Psychopharmaka können nach Aussage der Mehrzahl der in Berlin versammelten Wissenschaftler und Therapeuten zwar krankhafte Erregungsmuster im Gehirn dämpfen. Sie können den Patienten letztlich aber nicht heilen. Die Mittel lindern also vorübergehend die schlimmsten Beschwerden. Dann aber muß eine Behandlung erfolgen, die den Menschen als ganze Person kräftigt und stabilisiert, ihn gegen Lebenskrisen und Belastungen wappnet.Genau hier setzt die sogenannte Dynamische Psychiatrie an. Sie legt ihr Hauptaugenmerk auf die psychosozialen Lebensbedingungen, die nicht mehr verkraftbar waren. Dazu gehören auch Defizite in der Familie sowie dem weiteren sozialen Umfeld, in der Schule und im Beruf. Ziel ist es, den nötigen inneren Halt zu geben, um Krisen, die nie ausgeschlossen werden können, zu bewältigen.

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