WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. DIE WELT
  3. Sie nannten ihn Adolf

DIE WELT

Sie nannten ihn Adolf

Michael Wolffsohns Studie über die Deutschen und ihre Vornamen

Wer hat nicht schon einmal beim Vornamen Adolf gestutzt? So ist ist es Michael Wolffsohn während einer Vorlesung ergangen. Er hat flapsig angemerkt: "Trotzdem ist er ein feiner Kerl." Denn eben hatte er das Buch eines Kollegen, Jahrgang 1943, empfohlen, der den Vornamen Adolf trägt.

Das war 1989. Zehn Jahre später ist daraus ein eindrucksvoller, gut lesbarer Forschungsbericht entstanden, der weit über Wissenschaftskreise hinaus auf großes Interesse stoßen dürfte. Wolffsohn und Thomas Brechenmacher untersuchen nahezu 200 Jahre Geschichte der Vornamensgebung. Die zentrale Fragestellung ist klar: Kann man an den zu bestimmten Zeiten häufig vergebenen Vornamen Stimmungen in der öffentlichen Meinung entdecken? Lassen sich Zustimmungen zu bestimmten geschichtlichen Ereignissen und Personen anhand auffälliger Häufungen von bestimmten Namen nachweisen? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Vornamensgebung und politischen Einstellungen? Der Band ist nicht von ungefähr der Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann gewidmet. Die Autoren erheben den Anspruch, ergänzend zur Geschichtsschreibung und vor der Einführung der Umfragemethode durch die Vornamensvergabe ein zusätzliches Stück Empirie in die Forschung einbringen zu können. Das heißt, sie fragen, ob Vornamen im weitesten Sinne einen demoskopieähnlichen Aussagewert haben. Dass dieser originelle Ansatz gelungen ist, lässt sich belegen.

München, das oberbayerische Altmühltal, das Münsterland und (West-)Berlin sind die großen Räume, in denen über historische Register das Material geordnet wird. Hinzu kommen Auswertungen aus umfangreichen DDR-Quellen.

Was sind nun die Ergebnisse? 1785 erhalten im Münsterland 86 Prozent der Kinder den Namen der Eltern, Großeltern und Paten, darunter insbesondere so genannte Heiligennamen. 1804, unter preußischer Herrschaft, nehmen die Friedrichs und Wilhelms deutlich zu. Aber 1811, unter französischer Besetzung, tauchen zunächst ein Prozent französische Vornamen auf, um dann 1813 schon auf sieben Prozent hochzuschnellen. Darunter lassen sich viele französische Soldaten als Väter nachweisen. Aber 1814 bereits gibt es keinen einzigen französischen Namen mehr, das Empire ist am Ende.

München, erste Hälfte des 19. Jahrhunderts: Dynastische Namen sind sehr beliebt. 1817 haben 40 Prozent der Kinder Namen aus dem Namensschatz deutscher Fürstenhäuser: Amalie, Augusta, Louise, Sophie, Wilhelmine, Albrecht, Ferdinand, Rudolf, Wilhelm. Bis 1847 liegt ihr Anteil zwischen 30 und 40 Prozent. Nach 1850 hält sich die dynastische Neigung knapp unter 30 Prozent. Aber diese Neigung ist nur bei Protestanten in München verbreitet. Bei den viel zahlreicheren Katholiken lässt sie sich nur bei 20 Prozent der Vornamen nachweisen. Vor allem das Bildungsbürgertum war bereit, seinem Aufstiegsstreben dynastisch Ausdruck zu verleihen.

München war aber auch propreußisch gesinnt. Die bayerische Geschichtsschreibung behauptete, nach dem Krieg Preußen gegen Österreich im Jahr 1866 optierten die Münchener für Österreich. 1865 gab es in München acht Prozent Ottos in den bildungsbürgerlichen Schichten, 1867 null Prozent. Aber 1870/71 waren selbst im katholischen bildungsbürgerlichen Milieu elf Prozent ottonisch gesinnt. Natürlich sind im katholischen München die Heiligennamen dominant vertreten gewesen. 1787 lag ihr Anteil bei 90 Prozent, sank aber auf unter 50 Prozent nach 1900 und liegt heute bei etwa 40 Prozent. Die Säkularisierung schlägt sich auch in der Namensgebung deutlich nieder. Und dadurch entsteht Freiraum für andere Akzentsetzungen. Besonders das Bildungsbürgertum sorgt stets für Dynamik in der Aneignung neuer Namen.

Auffallend ist etwa das Aufkommen so genannter germanischer Namen unter Katholiken. Ende des 18. Jahrhunderts lag ihr Anteil bei fünf Prozent, zwischen 1833 und 1877 schon bei 20 Prozent, und bei den Protestanten liegt er noch deutlich höher. Auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nimmt diese Namensgruppe enorm zu. Darunter sind aber auch die als "unauffällige germanische Namen" titulierten Namen Helmut, Günter, Gerhard, Dieter, Adelheid und Gisela. Zu fragen ist dabei natürlich, ob darin wirklich ein Teutonismus zum Ausdruck kommt.

1950 sinkt ihr Anteil jedenfalls auf 35 Prozent und stürzt dann extrem bis auf fünf Prozent 1990 ab. Natürlich haben gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin die Namen Otto und Wilhelm große Bedeutung, doch bis 1914 sinken sie deutlich ab. Jedoch schnellt 1914 und 1915, während erfolgreicher Kriegsjahre, Wilhelm auf vier beziehungsweise fünf Prozent hoch - höhere Werte, als sie je die Wittelsbacher in München erreichten. Aber nach 1919 kommt Wilhelm unter den 20 beliebtesten Namen nicht mehr vor. Die dynastische Namensgruppe schrumpft stark zusammen. In den Auftaktjahren des Dritten Reichs boomt der Name Adolf enorm, und zwar von 0,5 auf 2,5 Prozent. Doch dann erfolgt bereits 1935 ein jäher Rückgang auf gut ein Prozent und ein regelrechter Absturz ab 1940. "Aufstieg und Fall des ,Führers' spiegeln sich in der Beliebtheit seines Vornamens."

Ersatzweise, da Hitler seinen Namen ungern mit anderen teilen wollte, machte der Name Horst (Wessel) enorme Karriere. Bis 1932 wenig nachgefragt, nahm er 1933 bereits Rang zehn (2,3 Prozent) ein und erlebte 1940 seine größte Verbreitung, sank aber schon 1941 und ging rapide ab 1942 zurück.

Anzeige

Eine Jahrhundertbilanz stellt auch die Halbierung derjenigen Namensgruppe dar, die als traditionell bezeichnet wird. Sie sank von 60 Prozent Ende des 19. Jahrhunderts auf 28 Prozent 1945. Nach 1945 bereits setzte die Individualisierung in der Namensgebung ein.

Kann man aber folgende Feststellung treffen, oder ist sie nicht vielmehr recht diskussionsbedürftig? "Je mehr ausländische Vornamen in einer Gesellschaft zu finden sind, desto weltoffener ist sie." Vielleicht wären noch Hinweise auf die weltweite Verbreitung der amerikanischen Medienindustrie sinnvoll, um das enorme Ansteigen entsprechender Namen in den letzten Jahrzehnten zu erklären. Aber auch die Namen lateinischer Herkunft nahmen enorm zu, wobei der bildungsbürgerliche Hintergrund dabei zurückgegangen sein dürfte. Aber wie anders als politisch kann der Anstieg russischer Namen zwischen 1965 und 1979 von 1,5 auf 3,5 Prozent erklärt werden?

Immerhin, Walter hatte in der DDR absolut keine Konjunktur, aber ab 1985 ist in der DDR von einer regelrechten Westsucht, auf die Namensgebung bezogen, zu sprechen. 1960 bevorzugten nur zwei Prozent der DDR-Eltern englische Vornamen, 1985 aber 16 Prozent. Der Anteil westlicher Namen (englisch, französisch, italienisch, spanisch) in der DDR betrug seit etwa 1975 schon 30 Prozent - "ein klares Bekenntnis der DDR-Bürger zum Westen", zumal im Westen Deutschlands diese Namensgruppe 1990 nur einen 20-Prozent-Anteil erreichte. Doch dann kommen die Autoren noch zu weiteren, höchst bemerkenswerten Schlussfolgerungen. Der im engeren Sinne hebräisch-jüdische Namensanteil stieg von drei Prozent 1950 auf 13 Prozent 1990. Hinzu kommt ein hoher Anteil im weitesten Sinne biblischer Namen (Eva, Tobias, Jonas, Daniel, Lukas, Jakob, Simon: 1985 fast 16 Prozent). 1990 wählten 13 Prozent der Eltern in München hebräische Namen für ihre Kinder und weitere 22 Prozent sonstige ausländische Namen, also 35 Prozent nichtdeutsche Namen. Wolffsohn und Brechenmacher fragen, ob hier nicht eine an sich wünschenswerte Weltoffenheit auch Indiz für mangelnde Authentizität sein könnte. "Ist das bundesdeutsche Ich so gebrochen?"

Wolffsohn und Brechenmacher schließen ihre Studie mit der Frage zur Identitätsproblematik der Deutschen: "Ja, die Welt ist ein einziges Dorf geworden, in dem die jeweilige Einzigartigkeit zunehmend verloren zu gehen scheint. So gesehen entpuppt sich die Multikultur immer stärker als Monokultur, als kultureller Einheitsbrei. Die faszinierende und anregende Vielfalt geht verloren. Entsteht internationale, kollektive Einfalt?"

Michael Wolffsohn, Thomas Brechenmacher:

Die Deutschen und ihre Vornamen.

200 Jahre Politik und öffentliche Meinung.

Anzeige

Diana, München 1999. 463 S., 46 Mark.

Tilman Mayr ist Journalist.

Er lebt in Bonn.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant