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Panorama Downsyndrom

Der Junge, der seine Abtreibung überlebte

Redakteurin
Deutschlands berühmtestes Pflegekind

Tim ist das berühmteste Pflegekind Deutschlands. Er ist kein kleiner Junge mehr. Am 6. Juli feiert er seinen 18. Geburtstag. Der Tag, an dem er zur Welt gekommen ist, sollte eigentlich sein Todestag sein.

Quelle: adeo Verlag

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Die Mutter war im sechsten Monat, als sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschied. Doch Tim wollte leben. Nun wird er 18. Wie ein Schwerstbehinderter seine Pflegefamilie lehrt, was Glück ist.

Damit hatte keiner gerechnet. Plötzlich stand er in der Küche. Tim. Der Junge, der lacht und traurig guckt und ärgerlich und verschmitzt. Der seiner Familie zeigen kann, wie er sich fühlt und was er braucht und will. Tim, der in seiner eigenen Welt lebt, sich vor allem mit Gesten und Lauten verständlich macht und kaum mit Worten. Und wenn, dann nur mit einem oder zwei. Tim stand also plötzlich da und sagte: „Hier bin ich!“

Wenn Simone Guido davon erzählt, dann wird ihre Stimme ganz hell. Dann schwingt in ihr diese Begeisterung mit, die man bei anderen Müttern hört, die berichten, dass die Tochter das Abitur bestanden oder der Sohn einen Preis bei „Jugend musiziert“ gewonnen hat. Wenn Simone Guido von Tims überraschendem Auftritt in der Küche in ihrem Haus im niedersächsischen Quakenbrück erzählt, dann hört man, wie nah sie ihm ist, wie stolz, wie selbstverständlich sie ihn liebt.

Tim ist vermutlich das berühmteste Pflegekind Deutschlands. Er ist als „Oldenburger Baby“ in die Geschichte eingegangen und hat eine heftige Diskussion über technische Möglichkeiten und ethische Grenzen, über Behinderungen und das Recht auf Leben entfacht. Er ist kein kleiner Junge mehr. Am 6. Juli feiert er seinen 18. Geburtstag. Der Sommertag im Jahr 1997, an dem er zur Welt gekommen ist, sollte eigentlich sein Todestag sein.

Neun von zehn Down-Kindern werden abgetrieben

Es war gegen elf Uhr, als Tims Mutter am 5. Juli 1997 von ihrem Frauenarzt erfuhr, dass der Junge in ihrem Bauch das Downsyndrom hat. Für die Frau brach eine Welt zusammen. Sie hatte schon ein gesundes Kind. Eine weitere Schwangerschaft endete mit einer Fehlgeburt. Vielleicht hatte sie deshalb so lange damit gewartet, die Auffälligkeit bei Tim abklären zu lassen, die der Arzt bereits in der 20. Schwangerschaftswoche festgestellt hatte.

Tim mit seiner Pflegemutter Simone Guido. Er ist ein Überlebenskünstler. Sie sagt, dass viele von ihm lernen können, worauf es wirklich ankommt
Tim mit seiner Pflegemutter Simone Guido. Er ist ein Überlebenskünstler. Sie sagt, dass viele von ihm lernen können, worauf es wirklich ankommt
Quelle: Markus Pletz

Jetzt, am 5. Juli, war sie schon im sechsten Monat. Am frühen Nachmittag stand sie in der Städtischen Frauenklinik Oldenburg. Sie sagte, sie würde sich das Leben nehmen, wenn die Schwangerschaft nicht beendet werde.

Ein Abbruch nach der 14. Woche ist in Deutschland aufgrund einer medizinischen Indikation möglich. Dabei darf seit 1995 die Behinderung des Kindes nicht mehr den Ausschlag geben. Ausschlaggebend ist lediglich die Gesundheit der Frau. Besteht für diese Gefahr, kann der Eingriff bis kurz vor dem Entbindungstermin vorgenommen werden.

2014 wurden in Deutschland 584 Schwangerschaften abgebrochen, die bereits 22 Wochen und mehr bestanden hatten. Häufig entscheiden sich Mütter zu einer Spätabtreibung, deren Kinder nicht lebensfähig wären. Zu einem großen Teil betrifft es aber auch Mädchen und Jungen mit Trisomie 21, dem Downsyndrom. In Deutschland werden neun von zehn Schwangerschaften nach dieser Diagnose abgebrochen.

Tim blieb neun Stunden unversorgt

Nachdem Tims Mutter mit Suizid gedroht hatte, stand auch dieser Abtreibung rechtlich nichts mehr im Weg. Aber so einfach ging das nicht.

Nach der 14. Schwangerschaftswoche müssen die Mütter bei einem künstlich eingeleiteten Geburtsvorgang die Kinder selbst zur Welt bringen. Um ganz sicherzugehen, dass der Fötus nicht überlebt, wird dieser mittlerweile in der Regel im Mutterleib durch Injektion von Kalium-Chlorid getötet. In Tims Fall hatte der Arzt keine Spritze gesetzt. Er hatte darauf vertraut, dass der Junge durch die Folgen des Geburtsvorgangs und das für einen Fötus giftige Wehenmittel stirbt.

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Aber Tim starb nicht.

Als seine Pflegeeltern ihn zum ersten Mal sahen, waren es vor allem seine Augen, die sie berührten und ihnen das Gefühl haben: Er gehört zu uns!
Als seine Pflegeeltern ihn zum ersten Mal sahen, waren es vor allem seine Augen, die sie berührten und ihnen das Gefühl haben: Er gehört zu uns!
Quelle: privat

„Tim lebt!“ (Adeo-Verlag, 272 S., 18,99 Euro) heißt das Buch, das Simone Guido und ihr Mann Bernhard gemeinsam mit der Journalistin Kathrin Schadt fast 18 Jahre nach den dramatischen Ereignissen in der Oldenburger Frauenklinik im Sommer 1997 über ihr Pflegekind geschrieben haben. Über seinen Alltag, seine Krankheit, sein Leiden und seine Lebensfreude. Über das Leben des Paares mit einem schwerstbehinderten Kind. Und über Tims erste Stunden in einer Welt, in die er nicht sollte und in die er unbedingt wollte.

690 Gramm wog er, 32 Zentimeter war er groß, als er gegen ein Uhr morgens da war. Die Mutter wollte ihn nicht sehen. Irgendjemand wickelte ihn in Tücher. Die Hebamme nahm ihn mit in den Kreißsaal. Tim wurde ins Dienstzimmer gelegt. Irgendwann würde er schon sterben. Es kam vor, dass ein Kind seine späte Abtreibung überlebte. Nach ein, zwei Stunden war es vorbei. Aber Tim hat auch am nächsten Morgen noch geatmet, als Schichtwechsel war. Nach neun Stunden entschieden die Ärzte, ihn zu versorgen. Tim kam auf die Intensivstation.

Liebe auf den ersten Blick

Das winzige Neugeborene war auf 28 Grad abgekühlt. Wie mag er sich gefühlt haben in all den Stunden? Abgelegt. Nach Luft schnappend. Frierend. Er musste erst mal langsam aufgewärmt werden. Die Mutter war nicht ansprechbar. Der Vater entschied, lebenserhaltende Maßnahmen einzuleiten. Und er gab seinem Sohn einen Namen: „Tim“.

Tim war durch die Abtreibung und die unterlassene Versorgung schwer geschädigt. Monatelang lag er auf der Intensivstation. Seine Zukunft stand in den Sternen. Bis kurz vor Weihnachten die Familie Guido in sein Leben trat. Die beiden diplomierten Lebensmitteltechnologen hatten zwei gesunde Söhne, Pablo, 3, und Marco, 6. Sie wollten so gerne ein Pflegekind aufnehmen. Ein Mädchen sollte es sein. Und nicht behindert. Und dann rief das Jugendamt an. Ob sie sich nicht mal den kleinen Tim anschauen wollten?

Eigentlich wollten die Guidos nur ihr Gewissen beruhigen, als sie ins Krankenhaus fuhren. Sie wollten das Kind wenigstens besuchen. Doch dann sahen sie ihn. „Wir haben gleich gedacht: ,Der gehört zu uns!‘“, erinnert sich Simone Guido. „Da waren diese strahlenden blauen Augen. Ja, das war wie Liebe auf den ersten Blick. Das ist wie auf einer Party, wo man sich auch zu jemandem gleich hingezogen fühlt und spürt: ,Das ist der Richtige!‘“

Tim kam zu den Guidos. Verwandte und Bekannte reagierten verstört. „Warum tut ihr euch das an?“ Die Guidos taten alles, um dem Kleinen, der in der ersten Zeit noch unter einem Sauerstoffzelt schlief, ständig operiert werden musste, immer wieder aufs Neue mit dem Tod rang, ins Leben zu helfen. Sie haben so viele Krisen überwunden.

Es gibt viele Alternativen zur Abtreibung

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Anstrengend ist der Alltag mit ihm nach wie vor. Tim muss ständig betreut werden. Er hat erst im Schulalter laufen gelernt. Er trägt Windeln. Er wird über eine Magensonde ernährt. „Aber wir haben auch gelernt, uns Hilfe zu suchen“, sagt Simone Guido. Es gibt so viele Möglichkeiten. „Es ist nicht so, dass den Eltern für nichts anderes mehr Zeit und Kraft bleibt, als sich um das behinderte Kind zu kümmern.“

Simone Guido ist eine attraktive Frau, Anfang 50, mit lockigem blonden Haar. Sie wirkt bodenständig, zupackend. Sie seien keine „Gutmenschen“. Sozial, ja. Auch gläubig. Aber zum regelmäßigen Kirchbesuch fehle ihnen die Zeit. Das Buch haben sie geschrieben, weil sie Paaren, die ein Kind mit Downsyndrom erwarten, Mut machen wollen, es sich mit der Abtreibung noch mal zu überlegen.

„Es gibt so viele Alternativen. Eine anonyme Geburt, die Abgabe in eine Pflegefamilie, die Freigabe zur Adoption.“ Es sei ein Trugschluss, zu glauben, mit dem Abbruch sei das Problem gelöst. „Viele Frauen leiden ein Leben lang unter dieser Entscheidung.“

Wie die meisten anderen Kleinkinder liebte auch Tim es, im Wasser zu liegen
Wie die meisten anderen Kleinkinder liebte auch Tim es, im Wasser zu liegen
Quelle: Privat

Auch Tims leibliche Mutter kam über die Ereignisse im Oldenburger Krankenhaus nicht hinweg. Sie verklagte den Arzt, der musste 13.000 Euro Schmerzensgeld zahlen. Tim hat seine Mutter nie kennengelernt. Der Vater kam regelmäßig zu den Guidos zu Besuch. Seit dem Tod seiner Frau vor einigen Jahren hat er den Kontakt abgebrochen.

Drei Kinder mit Downsyndrom und eine glückliche Familie

Simone Guido und ihr Mann wollen aber vor allem eines mit dem Buch vermitteln: Dass ein Leben mit einem Down-Kind nicht automatisch eine Katastrophe bedeutet, sondern auch bereichernd und sehr schön sein kann. Die Guidos haben noch zwei weitere Kinder mit Downsyndrom aufgenommen. Zuerst kam Melissa, die 15 wird. Als sie merkten, dass sie nicht so viele Kontakte knüpfen konnte, entschieden sie sich für ein weiteres Mädchen. So kam Naomi in die Familie. Sie ist elf.

„Bei uns ist es sehr laut“, sagt Simone Guido, „aber die Stimmung ist gut. Was für Nichtigkeiten, aufgrund derer sich Kinder in anderen Familien so anzicken! Viele Anlässe zum Streit gibt es bei uns einfach nicht.“

Tim spielt im Sand: Das Leben mit einem Down-Kind hat oft schöne Momente
Tim spielt im Sand: Das Leben mit einem Down-Kind hat oft schöne Momente
Quelle: Privat

Was allen Kindern und besonders Tim sehr gut getan hat, ist die Delfintherapie von Dolphin aid e.V. (www.dolphin-aid.de) Tim hätte dabei gelernt, „über seinen Schatten zu springen“. Von dem Erlös des Buches wollen die Guidos weitere Delfintherapien bezahlen. Außerdem soll das Haus so ausgebaut werden, dass Melissa, Naomi und Tim irgendwann, wenn die Pflegeeltern sich nicht mehr kümmern können, hier in einer betreuten Wohngemeinschaft leben können.

Pablo und Marco sind schon aus dem Haus. Simone Guido sagt, dass sie sich nicht zurückgesetzt gefühlt hätten. „Wir haben darauf geachtet, dass wir mit ihnen regelmäßig etwas alleine unternehmen, in den Urlaub fahren.“ In dem Buch bestätigen die beiden, dass ein Familienleben mit drei Pflegegeschwistern mit Downsyndrom für sie etwas Selbstverständliches sei. Auch und gerade mit Tim.

Tim und seine Frisbeescheibe

Simone Guido sagt, dass sie von Tim viel gelernt habe. Von ihm, dessen größte Freude die Anwesenheit eines Menschen sei, den er liebt. „Er zeigt uns, dass Glück nicht in erster Linie von materiellen Dingen abhängt.“ Tim brauche nicht viel, um glücklich zu sein.

Wenn er aus der Förderschule kommt, beschäftigt er sich stundenlang mit seiner Frisbeescheibe. Dann sitzt er auf dem Boden und dreht das bunte Ding, lässt es über den Boden rollen, immer wieder. Er genießt es, wenn ihm etwas vorgesungen wird. Er freut sich, wenn er im Fahrradanhänger durch die Gegend gefahren wird und ihm der Wind um die Ohren bläst.

Die Delfintherapien haben Tim nicht nur Spaß gemacht, sondern ihm auch zu enormen Entwicklungsschritten verholfen
Die Delfintherapien haben Tim nicht nur Spaß gemacht, sondern ihm auch zu enormen Entwicklungsschritten verholfen
Quelle: Privat

„Tim ist nicht nur genügsam“, sagt Simone Guido, „er ruht auch in sich“. Von seiner Lebenseinstellung könnten auch andere lernen, dass beispielsweise ein gemeinsam in einem Tierpark verbrachter Tag viel schöner sein kann als ein neues Handy zum Geburtstag.

Wenn Tim am 6. Juli 18 wird, schenken die Guidos ihm einen Tag in einem Freizeitpark. Er liebt es, Achterbahn zu fahren. Vielleicht wird er seiner Begeisterung an diesem Tag auch mit ein paar Worten Ausdruck verleihen.

„Hier bin ich!“ Das hat er nie mehr gesagt. Jedenfalls hat es seine Familie nie mehr gehört. Die weiß auch so, dass er da ist und ein Ich, das wertvoll ist und das Leben liebt.

Wer die Familie Guido mit einer finanziellen Zuwendung für die Delfintherapie für ihre Kinder unterstützen will: dolphin aid e.V., Stadt-Sparkasse Düsseldorf, IBAN: DE 86300501100020002200; BIC: DUSSDEDDXXX, Kennwort Tim, Melissa, Naomi Guido

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