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Wissenschaft Rechtsmedizinerin erklärt

So erkennen Ärzte sexuellen Kindesmissbrauch

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Selbst wenn bewiesen ist, dass das Kind sexuelle Gewalt erfahren hat, können die Ärzte in mehr als 90 Prozent der Fälle am Körper nichts nachweisen. Das macht die Lage so schwierig
Quelle: Getty Images
Manche schickt das Jugendamt, andere kommen in Begleitung der Polizei: Melanie Todt untersucht Kinder, bei denen der Verdacht auf sexuellen Missbrauch besteht. Einige sind erst wenige Tage alt.

Rechtsmedizinerin Melanie Todt ist die stellvertretende Leiterin der Kinderschutzambulanz der Medizinischen Hochschule Hannover, die für ganz Niedersachsen zuständig ist. Die 34-Jährige hat sich auf die Untersuchung von sexuellem Missbrauch und Misshandlungen spezialisiert. Das Team der Kinderschutzambulanz unter Leitung von Professor Anette S. Debertin hat seit 2010 in Hannover und Oldenburg etwa 400 Minderjährige im Auftrag der niedergelassenen und klinisch tätigen Ärzte untersucht – im Alter von wenigen Tagen bis 18 Jahren.

DIE WELT: Frau Todt, wer kommt zu Ihnen in die Kinderschutzambulanz?

Melanie Todt: Es sind drei Gruppen von Patienten: Die einen werden niederschwellig von niedergelassenen und klinisch tätigen Ärzten geschickt, denen etwa verdächtige Verletzungen aufgefallen sind. Eine zweite Gruppe vom Jugendamt, und die dritte im Auftrag von Staatsanwaltschaft bzw. Ermittlungsbehörden. Diese Kinder werden dann von den Mitarbeitern der Jugendämter oder den zuständigen Polizeibeamten begleitet. Die Zahl der Kinder, die vom Jugendamt oder den Ärzten geschickt werden, steigt ständig. Das liegt daran, dass wir landesweit immer bekannter werden. Jeder, der einen Verdacht hat, kann sich an uns wenden. Wir bieten auch telefonische und onlinebasierte Beratung an.

Melanie Todt
Melanie Todt
Quelle: privat

DIE WELT: Und wie gehen Sie vor, wenn ein Kind gebracht wird?

Todt: Zunächst untersuchen wir das Kind körperlich. Wir schauen, ob es Hinweise für äußere Verletzungen gibt, ob das Kind vielleicht gestürzt ist oder einer Gewalteinwirkung von fremder Hand ausgesetzt war. Nach der ersten Untersuchung folgt die anogenitale Inspektion. Das heißt, dass wir die Genitalregion und den After auf Verletzungen bzw. auffallende Befunde untersuchen. Wenn das Kind zeitnah nach der vermuteten Tat gebracht wird, sichern wir auch Spuren.

DIE WELT: So eine Untersuchung muss doch psychisch sehr belastend sein für ein Kind.

Todt: Wir versuchen, die Situation so stressfrei wie irgend möglich zu gestalten. Wir sprechen viel mit dem Kind, erklären genau, was in der Untersuchungssituation passiert, und nutzen zum Beispiel auch Handpuppen, um die anschließende Untersuchung zu demonstrieren. Außerdem sollte möglichst eine Bezugsperson dabei sein. Das müssen nicht unbedingt die eigenen Eltern sein – manchmal stehen die ja selbst unter Verdacht –, aber jemand, dem das Kind vertraut. Wir notieren wortwörtlich, wenn das Kind etwas erzählt. Wir führen aber keine Befragung durch, das übernehmen die Ermittlungsbehörden. Außerdem besprechen wir nach der Untersuchung die Ergebnisse auch mit dem Kind selbst, welches sich sehr häufig auch positiv auf das Selbstbild der Kinder auswirkt.

DIE WELT: Und was passiert dann?

Todt: Ganz wichtig ist, das Kind niemals allein zu lassen. Wenn wir den Verdacht auf irgendeine Art von Misshandlung haben, stellen wir den Kontakt zu einer Hilfeeinrichtung her, zum Jugendamt oder zum Opferschutz oder auch zu einem Frauenhaus. Kein Kind, um dessen Sicherheit wir fürchten, wird wieder weggeschickt. Wenn wir Hinweise auf sexuellen Missbrauch finden, findet nach der Untersuchung eine sogenannte interdisziplinäre Fallkonferenz statt, in der wir die Resultate besprechen.

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DIE WELT: Wie geht es weiter?

Todt: Dann kommt es darauf an, wer uns das Kind vorgestellt hat. War es die Staatsanwaltschaft, schreiben wir ein Gutachten für sie. War es das Jugendamt oder ein ärztlicher Kollege, erstattet der Auftraggeber selbst Anzeige oder wir hinterlassen bei der Staatsanwaltschaft einen Vermerk mit dem Hinweis auf eine Kindeswohlgefährdung, sodass anschließend von Amts wegen ermittelt werden kann. Oft erfahren wir nicht, wie das Verfahren danach weitergeht. In einigen Fällen aber müssen wir später als Sachverständige vor Gericht auftreten.

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DIE WELT: In wie viel Prozent der Fälle stellen Sie sexuelle Gewalt fest?

Todt: Es ist sehr schwierig, sexuellen Missbrauch sicher nachzuweisen. Häufig entstehen auffallende Befunde auch durch einen Unfall, eine Entzündung oder eine Hauterkrankung. Daher ist es von eminenter Bedeutung, dass den untersuchenden Ärzten bzw. Rechtsmedizinern die Untersuchungstechniken, Normvarianten kindlicher anogenitaler Strukturen mit Abgrenzung zu missbrauchsassoziierten Befunden und die Heilungsverläufe bekannt sind. Leider muss man feststellen: Selbst in mehr als 90 Prozent der Fälle, in denen ein Kind nachweislich missbraucht wurde, sind am Körper keine beweisenden Spuren oder Verletzungen mehr zu finden. Außerdem muss ein sexueller Missbrauch auch nicht zu nachweisbaren Verletzungen führen. Man kann also nicht sagen, es ist nichts gewesen, bloß weil nichts zu sehen ist.

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