Eines müssen selbst die Kritiker Mario Draghi zugestehen: Er bleibt seinen Prinzipien treu. Im Sommer 2012 preschte er als Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) mit seiner historischen „Whatever it takes“-Rede vor und versprach, alles zu tun, um den Euro retten. Koste es, was es wolle.
Jetzt – knapp neun Jahre später – nutzt er seine Position als italienischer Premierminister, um die nächste historische Wette zu platzieren. Er startet das größte Schuldenprogramm in der Europäischen Union, um Italien aus der Dauerkrise zu holen.
In den ersten Monaten seiner Amtszeit hat Draghi das defizitfinanzierte Konjunkturprogramm seiner Vorgängerregierung um über 70 Milliarden Euro aufgestockt. Damit summiert sich die Neuverschuldung auf weit über 170 Milliarden Euro. Draghis Regierung rechnet damit, dass das diesjährige Haushaltsdefizit auf 11,8 Prozent der Wirtschaftsleistung in die Höhe schießen wird.
Das wäre nicht nur die höchste Neuverschuldung des Landes seit Anfang der 1980er-Jahre, sondern – gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) – auch das größte Konjunkturprogramm in Europa. „Draghi wettet das Haus“, kommentierte die Finanzagentur Bloomberg die Haushaltspläne.
Tatsächlich könnte Draghi als Premier italienische Wirtschaftsgeschichte schreiben. Die Schuldenquote dürfte in diesem Jahr auf 160 Prozent des BIP steigen und damit den bisherigen Rekord noch übertreffen, den das Land nach dem Ersten Weltkrieg aufgestellt hatte.
1920 markierte der Staat kurz vor der Ära der faschistischen Diktatur von Benito Mussolini den bisherigen Höchstwert von 159,5 Prozent.
Das hohe Budgetdefizit ist auch insofern bemerkenswert, weil Italien mit rund 209 Milliarden Euro aus dem europäischen Hilfsfonds rechnen kann. Erst am Sonntag hatte Rom angekündigt, den nationalen Plan zum Einsatz der Milliardenmittel pünktlich zum 30. April in Brüssel einreichen zu wollen.
Joe Biden hat auch ein Mega-Konjunkturpaket aufgelegt
Draghi handelt offenbar aus der Überzeugung, dass Europas Volkswirtschaften langfristig stärker sein werden, wenn Fiskal- und Geldpolitik zusammenarbeiten. Er orientiert sich dabei an den USA, wo der neue Präsident Joe Biden als erste Amtshandlung ein 1,9 Billionen Dollar schweres Konjunkturpaket eingebracht hat, das die Neuverschuldung ebenfalls um rund zehn Prozentpunkte erhöht hat.
Zwar sind die europäischen Defizitregeln, die die Neuverschuldung auf drei Prozent der Wirtschaftsleistung begrenzen sollen, wegen der Pandemie bis zum Jahr 2022 ausgesetzt. Doch Draghis Defizitpläne sind weitaus aggressiver als die aller seiner europäischen Amtskollegen.
Sie signalisieren eine offene Abkehr von der fiskalischen Solidität, die die Regeln der Währungsunion vorsehen. „Mit den Augen von gestern beurteilt, wäre eine solch hohe Neuverschuldung sehr beunruhigend. Heute schaut man ganz anders auf die Dinge, weil die Pandemie den Einsatz von Schulden legitimiert“, begründete Draghi seine Pläne.
Der gebürtige Römer tritt damit erneut als eine Art Tabubrecher auf. Schon als Chef der EZB hatte er mit seinem berühmten Versprechen den Märkten signalisiert, dass er bereit ist, die Geldpolitik bis an ihre Grenzen zu treiben.
Draghi setzte nicht nur Anleihenkaufprogramme bei der EZB durch, die insbesondere in Deutschland hochumstritten waren. Er war es auch, der Strafzinsen auf Bankeinlagen einführte und damit den Zins für deutsche Sparer faktisch abschaffte.
Während er die EZB-Geldpolitik mit milliardenschweren Anleihekäufen und immer tieferen Zinsen antrieb, drückte Draghi während seiner Zeit in Frankfurt oft seine Frustration darüber aus, dass die Regierungen der Euro-Zone nicht mit einer stärkeren Fiskalpolitik die Konjunktur unterstützen würden.
Jetzt, da er die Kontrolle über die fiskalischen Hebel in der drittgrößten Volkswirtschaft der EU hat, führt er seine Whatever-it-takes-Politik in Italien fort. „Draghi selbst hat gesagt, dass es eine Wette ist“, sagte Veronica De Romanis, Professorin für Europäische Wirtschaft an der römischen Luiss-Universität, dem Finanzdienst Bloomberg. „Aber es ist die einzige Chance, die wir haben.“
Hinter Italien liegen mehr als zwei verlorene Jahrzehnte. Die Wirtschaft hat seit dem Beitritt zum Euro stagniert, unter dem Strich steht ein mageres Plus von zwei Prozent. Zum Vergleich: In Frankreich und Deutschland lag das Wirtschaftswachstum seit 1999 bei jeweils 28 Prozent. Spaniens Ökonomie expandierte im gleichen Zeitraum sogar um 35 Prozent.
Auch für italienische Anleger war nicht viel zu holen. Seit 1999 hat der italienische Index FTSE MIB inklusive Dividenden gerade mal 22 Prozent zugelegt, das entspricht weniger als 1,2 Prozent im Jahr. Der Dax hat dagegen 194 Prozent an Wert gewonnen, der amerikanische Dow Jones sogar 528 Prozent.
Wette auf Italiens Erholung
Bislang scheint die Rechnung weitgehend aufzugehen. Die Akteure an den Bondmärkten zeigen sich noch nicht allzu sehr verschreckt von der hemdsärmeligen Schuldenpolitik von Draghi. Der Risikoaufschlag zehnjähriger Italien-Anleihen gegenüber Bundesanleihen gleicher Laufzeit hat sich gerade einmal um 0,06 Prozentpunkte ausgeweitet.
Offensichtlich gehen die Marktteilnehmer davon aus, dass im Zweifel die EZB mit Anleihekäufen Italien zu Hilfe kommt. Wer hier glaubt, dass Mario Draghi seine Wette gewinnt, kann mitwetten, und zwar mit dem Indexfonds Lyxor MSCI Italy (WKN: ETF032).
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