Wir müssen uns im Schlafzimmer des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wohl eine riesige Landkarte vorstellen. Darauf prangen die Umrisse eines Staates, der zu den größten der Geschichte gehört: des Osmanischen Reiches.
Der stete Blick auf diese kartografische Botschaft könnte denn auch die zahlreichen historischen Auslassungen erklären, mit denen Erdogan mit schöner Regelmäßigkeit sein Publikum erfreut oder irritiert: über die türkischen Belagerungen Wiens, Hof und Harem osmanischer Sultane oder muslimische Entdecker Amerikas. Das Reich der Osmanen, so scheint es, soll der Türkei der Maßstab sein, um sich in der Welt der Gegenwart zurechtzufinden.
Der Fall von Konstantinopel 1453
Ein Motiv für so viel Geschichtsversessenheit ist sicherlich Legitimation. Als die Türken in Anatolien erschienen, waren alle Nachbarn schon da. 1071 gingen sie nach ihrem Sieg über die Byzantiner zur Landnahme über. Nachdem die Dynastie der Seldschuken von den Mongolen geschlagen worden war, gelang es einem ihrer Regionalfürsten, Osman I., seine Herrschaft zum Nukleus eines neuen Reiches zu machen.
Das politische Talent seiner Familie zeigte sich nach der vernichtenden Niederlage gegen Timur Lenk 1402 bei Ankara. Nach einigen Wirren gelang fähigen Sultanen die Reorganisation des Reiches, die 1453 in der Eroberung Konstantinopels gipfelte. Damit traten die Osmanen die Nachfolge Ostroms an, sowohl in den Ländern, die einst von Byzanz beherrscht worden waren, als auch dem Anspruch nach. Nach dem Untergang des Abassiden-Kalifats von Bagdad konnte wieder ein Reich von sich behaupten, (fast) die gesamte Welt des sunnitischen Islam zu beherrschen.
Sultan Süleyman der Prächtige (um 1495-1566)
Da ist es kein Wunder, dass Erdogan sich Sultan Süleyman I., genannt „der Prächtige“, zum Säulenheiligen erkoren hat. Der schob in seiner langen Regierungszeit von 1520 bis 1566 die Grenzen des Reiches bis nach Algier, Tunis und zum Jemen vor, unterwarf Ägypten, weite Teile Ungarns und stand 1529 vor Wien. Der Besitz der heiligen Stätten Mekka und Medina untermauerte auch den Anspruch der Osmanen, die neuen Kalifen zu sein. Mit ihren siegreichen Kriegen gegen den Iran bewies sich ihr Reich als machtvolles „Gunpower Empire“, das keinen Gegner in Europa und Asien zu fürchten hatte.
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Der Mut ihrer Elitetruppen und der Erfindungsreichtum ihrer Ingenieure verdeckten lange die klaffenden Risse in der glanzvollen Fassade. Schon Süleymans Eroberungen hatten den Staatshaushalt in die roten Zahlen gedrückt. Erste Eroberungen gingen verloren. Seine Nachfolger machten weniger durch Siege als durch Trunkenheit und Orgien im Harem von sich reden, Dekadenzerscheinungen, die Erdogan gern als Geschichtsklitterung abtut. Während die europäischen Mächte moderne Flotten und Verwaltungen schufen und die Welt entdeckten, verharrten die Osmanen bei den Mitteln, die sie groß gemacht hatten. Ihr absolutistischer Anspruch war ohne Beispiel in der islamischen Welt. Aber als die Mittel schwanden, ihn militärisch durchzusetzen, wurde er zur hohlen Phrase.
Die zweite Belagerung Wiens im Jahr 1683
Ende des 17. Jahrhunderts gelang noch einmal eine Renaissance, die in der zweiten Belagerung Wiens 1683 gipfelte. Mit dem Gegenschlag der Habsburger und der Südexpansion des Zarenreichs aber begann der Krebsgang. Als sich im Windschatten der Französischen Revolution die christlichen Balkanvölker erhoben und Ägypten seine Autonomie erlangte, war aus dem Weltreich, das dem 16. Jahrhundert seinen Namen gegeben hatte, „der kranke Mann am Bosporus“ geworden, ein Spielball zwischen den westlichen Großmächten.
Wie es dazu kam, hat schon die Zeitgenossen in unversöhnliche Lager gespalten. Für die einen war es die Missachtung des Islam und überkommener Tugenden, für die anderen ein Mangel an Reformbereitschaft und Modernität, die den Niedergang befördert hatten. Den Streit entschied Mahmud II., als er 1826 mit der Elitetruppe der Janitscharen die Hüter der alten Ordnung buchstäblich liquidieren ließ. Was Erdogan davon hält, machte er mit seinem Plan deutlich, eine pompöse Janitscharen-Kaserne auf dem Taksim-Platz in Istanbul zu rekonstruieren. Das Projekt provozierte 2013 heftige Demonstrationen und Straßenschlachten.
Der Zusammenbruch des Osmanenreichs im Ersten Weltkrieg und der Aufstieg der laizistischen Republik Atatürks 1923 ist für Erdogan denn auch kein Grund, sich von der Landkarte mit der großen Vergangenheit zu verabschieden. Erst jüngst reklamierte er griechische Inseln in der Ägäis für die Türkei, weil „wir dort Werke, Moscheen und eine Geschichte“ haben. Wenn er das ernst meint, könnte seine Osmanen-Begeisterung politischer Sprengstoff werden. Denn die Grenzen der modernen Türkei wurden 1923 im Vertrag von Lausanne zwischen den Siegermächten des Weltkriegs und dem Regime Atatürks festgelegt. Damals wurde auch der völkerrechtliche Status zahlreicher Gebiete bestätigt, die das Osmanenreich in Kriegen und Revolutionen zwischen 1804 und 1913 verloren hatte. Vielleicht wurde vergessen, dies auf Erdogans Schlafzimmer-Karte nachzutragen.
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