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Zweiter Weltkrieg Kriegsende 1945

Auch US-Truppen verübten brutale Vergewaltigungen

Hunderttausende Frauen wurden 1945 von Rotarmisten vergewaltigt. Aber auch viele GIs zwangen Deutsche zum Geschlechtsverkehr, zeigt die Historikerin Miriam Gebhardt. Doch ihre Zahlen überzeugen nicht.
Leitender Redakteur Geschichte
Flirt oder Zwang? Die amerikanische Führung hatte zwar ein Fraternisierungsverbot erlassen. Aber vor allem beim Einmarsch 1945 hielten sich viele GIs nicht daran Flirt oder Zwang? Die amerikanische Führung hatte zwar ein Fraternisierungsverbot erlassen. Aber vor allem beim Einmarsch 1945 hielten sich viele GIs nicht daran
Flirt oder Zwang? Die amerikanische Führung hatte zwar ein Fraternisierungsverbot erlassen. Aber vor allem beim Einmarsch 1945 hielten sich viele GIs nicht daran
Quelle: picture-alliance / akg-images /

Sexuelle Gewalt gehört zum Krieg – seit Menschengedenken. Wo immer Soldaten ein fremdes Land erobern, fallen einzelne oder auch viele Krieger über einheimische Frauen her. Grausame Normalität, von der Antike bis zur Gegenwart.

Aber weil die Opfer in den meisten Fällen aus Scham nicht reden, weiß niemand, wie verbreitet solche Übergriffe waren. Handelte es sich um Einzeltäter, vielleicht um ein paar Promille der Soldaten? Oder um ein weitverbreitetes „Vergnügen“? Wurden solche Verbrechen vielleicht sogar von Vorgesetzten systematisch angeordnet? Ist sexuelle Gewalt ein bewusst eingesetztes Mittel, um die Bevölkerung besetzter Gebiete zu demütigen und einzuschüchtern?

Entsprechend stark schwanken die Angaben über die Vergewaltigungen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Als gesichert gilt, dass Rotarmisten auf dem Vormarsch von der Ukraine nach Berlin unzählige Frauen missbrauchten. Übrigens nicht nur Deutsche, sondern auch Polinnen, Ungarinnen und Slowakinnen.

Doch wurden in der unter enormen Verlusten eroberten Reichshauptstadt zum Beispiel 20.000 der etwa 1,4 Millionen Frauen zum Geschlechtsverkehr gezwungen – oder zwanzigmal so viele? Laut manchen Schätzungen vergewaltigten sowjetische Soldaten jede zehnte Berlinerin, nach dem Eindruck einer sehr rationalen Augenzeugin dagegen fast jede zweite.

Miriam Gebhardt: „Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs“. (DVA, München. 352 S., 21,99 Euro)
Miriam Gebhardt: „Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs“. (DVA, München. 352 S., 21,99 Euro)
Quelle: DVA

In feministischen Kreisen viel beachtet wurde die Annahme der Filmemacherin Helke Sander, zwei Millionen Frauen seien von sowjetischen Soldaten vergewaltigt worden. Das wäre etwa jede dritte zwischen Pubertät und Wechseljahren gewesen.

Zu einer anderen Zahl kommt jetzt die Historikerin und Publizistin Miriam Gebhardt. In ihrer Studie „Als die Soldaten kamen“, die am Montag erscheint, untersucht sie die sexuelle Gewalt am Ende des Zweiten Weltkriegs. Gebhardt schätzt eine Mindestzahl von 860.000 Vergewaltigungen deutscher Frauen 1944/45, und zwar für alle Besatzungszonen.

Bemerkenswert ist daran zweierlei: Die Zahl der Vergewaltigungen durch die Rote Armee wird gegenüber bisherigen Annahmen deutlich reduziert, auf „nur“ gut eine halbe Million.

Noch brisanter scheint eine zweite These der Autorin: Fast ein Viertel der 860.000 sexuell motivierten Verbrechen, mindestens 190.000, seien von amerikanischen Soldaten begangen worden. Also von jenen Männern, die in der kollektiven Erinnerung als Befreier verankert sind, die Kindern Schokolade schenkten und trotz Fraternisierungsverbot bald von deutschen „Frolleins“ umschwärmt wurden. Wurde dieser Aspekt bislang verschwiegen?

Es ist ein Verdienst von Miriam Gebhardt, viele bislang wenig beachtete Quellen ausgewertet zu haben. Fündig wurde sie unter anderem in den Berichten oberbayerischer Priester über den Einmarsch von US-Truppen, die sogar publiziert sind.

GIs drangen demnach mit vorgehaltenen Waffen in Häuser ein, zwangen die Männer zu gehen und fielen über die Frauen her
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Teilweise sind die Schilderungen erschütternd. Aus Moosburg an der Isar etwa, einer Kleinstadt nördlich von München, berichtete Stadtpfarrer Alois Schiml über systematische Vergewaltigungen. GIs drangen demnach mit vorgehaltenen Waffen in Häuser ein, zwangen die Männer zu gehen und fielen über die Frauen her.

Manche Mädchen sprangen vor Panik aus oberen Stockwerken auf die Straße und verletzten sich. Schiml richtete in seiner Kirche eine Zufluchtsstätte für verzweifelte Frauen ein.

Der amerikanische Ortskommandant von Moosburg ordnete an, dass an die Tür jedes Hauses eine Liste der Einwohner mit Alter angehängt werden musste. „Wie diese Verfügung sich auswirkte, lässt sich leicht denken“, schrieb der Pfarrer weiter: „Siebzehn Mädchen und Frauen, von Negern einmal oder mehrmals missbraucht, werden ins Krankenhaus eingeliefert.“

Bei vielen, aber längst nicht allen Schilderungen war von farbigen US-Soldaten die Rede, die besonders häufig vergewaltigt hätten. Das hatte sicher verschiedene Gründe.

Erstens die Fremdheit der dunkelhäutigen Männer, denn kaum ein Deutscher hatte bis dahin einen Afroamerikaner mit eigenen Augen gesehen. Zweitens die Annahme, „leichtlebige“ Frauen, die mit weißen Amerikanern schliefen, hätten ihnen Avancen gemacht oder jedenfalls nichts gegen Geschlechtsverkehr gehabt. Schließlich die Praxis der Militärjustiz, die überproportional Verstöße farbiger GIs verfolgte.

Beim und nach dem Einmarsch der Roten Armee in Berlin 1945 wurden Hunderttausende Frauen vergewaltigt. Die geschätzten Zahlen schwanken
Beim und nach dem Einmarsch der Roten Armee in Berlin 1945 wurden Hunderttausende Frauen vergewaltigt. Die geschätzten Zahlen schwanken
Quelle: picture-alliance / akg-images

Miriam Gebhardts Buch gebührt ein großes Verdienst: Sie betrachtet mit der sexuellen Gewalt gegen Frauen im Westen eine zwar nicht völlig vergessene, gleichwohl aber viel zu wenig beachtete Facette des Kriegsendes im Detail angemessen und materialreich.

Doch zugleich stellt die Autorin nicht hinreichend begründete Thesen auf. Denn ihre Schätzung von mindestens 190.000 Vergewaltigungen durch US-Soldaten ist nicht besser und nicht schlechter als jede andere vage Annahme. Zu dieser Zahl kommt Gebhardt durch mehrere, jeweils in sich mindestens fragwürdige Hochrechnungen.

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Ausgangspunkt ist eine Statistik von 1956, der zufolge in der Bundesrepublik und in West-Berlin knapp 3200 Kinder lebten, die bei Vergewaltigungen gezeugt wurden. Davon seien etwa drei Fünftel amerikanischen Vätern zuzurechnen.

Da erfahrungsgemäß ein Prozent der insgesamt vergewaltigten Frauen tatsächlich ein Kind ihres Peinigers gebar, multipliziert Gebhardt diese Zahl mit 100. So kommt sie auf den Wert von mindestens 190.000 von GIs vergewaltigten Frauen.

Doch dieser Wert ist, anders als die Autorin vorgibt, in Wirklichkeit völlig freihändig. Weder die Ausgangszahl noch der Faktor 100 sind überzeugend belegt. Es sind Annahmen, die zutreffen können, aber nicht müssen. Das festzustellen hat nichts mit Relativierung der Verbrechen zu tun – es könnte genauso gut doppelt so viele Fälle sexueller Gewalt durch GIs gegeben haben oder halb so viele. Man kann es schlicht nicht quantifizieren.

Als sicher darf man annehmen, dass es auch beim Einmarsch der westlichen Truppen in Deutschland zu vielen traumatisierenden sexuellen Gewalttaten gekommen ist. Es werden viel mehr gewesen sein als die etwa 11.000 Fälle, die der amerikanische Kriminologe J. Robert Lilly aufgrund einer Hochrechnung aus den tatsächlich eröffneten Militärstrafverfahren angenommen hat.

Ob es aber 100.000 waren, eine Viertel- oder eine halbe Million, wird sich nicht aufklären lassen. Das sollte man auch offen einräumen, sonst führt man Leser in die Irre.

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