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Wer mit Bleistift schreibt, blickt anders auf die Welt

Der Schriftsteller Truman Capote in seinem Appartment mit Papier und – was auch sonst – Bleistift Der Schriftsteller Truman Capote in seinem Appartment mit Papier und – was auch sonst – Bleistift
Der Schriftsteller Truman Capote in seinem Appartment mit Papier und – was auch sonst – Bleistift
Quelle: Conde Nast via Getty Images
Wir brauchen mehr Bleistifte und weniger Eddings, findet unser Autor. Denn dieses Schreibutensil ist so viel mehr als nur Holz und Grafit. Ode an den zutiefst missverstandenen Stift des Skeptikers.

Nein, ein Bleistift ist kein Schreib- und Zeichengerät wie jedes andere. Er ist mehr als nur Mittel zum Zweck, kein bloßes Ding, das sich langsam auflöst unter der Klinge eines Anspitzers. Ein Bleistift ist eine Geisteshaltung. Von Henri de Toulouse-Lautrec ist dazu ein sehr aufschlussreicher Satz überliefert: „Ich bin ein Bleistift gewesen, all meine Tage.“

Auch wenn der französische Künstler sicher im Kern etwas anderes gemeint hat, als er das schrieb – nämlich dass er ein Zeichner gewesen ist, stets gerüstet, ein Motiv auf seinem Zeichenblock festzuhalten –, so schwingt in dieser Aussage das Existenzielle mit: dass ein Bleistift irgendwie mit einem Modus des Seins verbandelt ist, einer bestimmten Art und Weise, auf die Welt zu blicken.

Ein Bleistift ist das Utensil des Skeptikers. Er versichert seinem Träger zu jeder Zeit, dass dieser noch im Vollbesitz seiner Zweifel ist. Sein Strich ist vorläufig, jederzeit kann er mittels eines Radiergummis wieder getilgt werden – oder mittels Krümeln von frischem Weißbrot, womit man sich im 17. Jahrhundert behalf.

Nahezu makellos lassen sich seine Spuren verwischen, sieht man einmal von den leichten Vertiefungen ab, die er – je nach Härtegrad – auf dem Papier hinterlässt. Der Bleistift ist die stete Erinnerung daran, dass alles auch ganz anders sein könnte.

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Insofern ist er der Feind alles Definitiven und der natürliche Widersacher des Edding 404. Im Gegensatz zu diesem breitbeinigen Permanentling mit Wahrheitsanspruch feiert der Bleistift das Ephemere, antizipiert die Veränderung aller Dinge, allen Seins, aller Ideen, Thesen und Vorstellungen. Der Bleistift verscheucht das Phantasma des Absoluten. Er ist die materialisierte Vorläufigkeit. Wir brauchen mehr Bleistifte. Und weniger Eddings.

Bleistifte gibt es seit dem 16. Jahrhundert. Die Karriere dieses außergewöhnlichen Schreibgeräts begann mit der Entdeckung der ersten Grafitmine auf einem Landgut im englischen Borrowdale in Cumberland. Schon der Name dieses Stoffs deutet auf seine ursprüngliche Funktion hin, er leitet sich vom griechischen „graphein“ für „schreiben“ her.

Auch der amerikanische Jazzmusiker Duke Ellington wusste den Bleistift zu schätzen
Auch der amerikanische Jazzmusiker Duke Ellington wusste den Bleistift zu schätzen
Quelle: Getty Images

Anfangs wurden einzelne Grafitstücke angespitzt und mit Schnur, Tuch oder Papier umwickelt. Schmale Splitter steckte man auch in Strohhalme oder Rebenzweige, weshalb der Bleistift in der Gegend um Cumberland auch „Rebe“ genannt wurde.

Es waren Schreiner, die das Grafit schließlich in Holzkörper fassten und die ersten Stifte fabrizierten. Das Holz wurde dazu längs halbiert und eine Rinne hineingefräßt, die dann mit einem langen oder mehreren kurzen Grafitsplittern gefüllt wurde, bevor die beiden Teile wieder zusammengefügt und verleimt wurden.

Das beste Holz für einen Bleistift lieferte die rote Zeder. Es ist leicht, weich, lässt sich gut verarbeiten und sauber mit dem Anspitzer schneiden, ohne dass es bröckelt oder spleißt. Der Baum wächst in Florida oder Alabama. Als der Bedarf Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr gedeckt werden konnte, wich man auf andere Hölzer aus, Kolorado-Tanne etwa oder Gmelina.

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Der Bleistift ist Teil eines kreativen Prozesses, der ohne ihn nicht möglich wäre. Der Grund ist kein technischer, materieller oder ästhetischer, sondern ein rein psychologischer. Eine Untersuchung unter Ingenieuren in den späten 1980er-Jahren hat das auf frappierende Weise offen gelegt. Die Probanden wurden gebeten, statt wie gewohnt mit einem Bleistift ihre Gedanken oder Projektierungen mittels eines Kugelschreibers oder Füllers niederzulegen.

Diese kleine Veränderung blockierte die Teilnehmer in ihrem Tun massiv. Sie wurden zögerlich, kamen nicht in Schwung. Die Tatsache, dass ein einmal gesetzter Strich nicht mehr ohne Weiteres zu revidieren war, hemmte offenbar den kreativen Prozess. Der Umstand, dass ein Bleistift potenziell keine Spuren hinterlässt, ermöglichte es den Probanden erst, dauerhaft Spuren zu hinterlassen.

Betrachtung einer neuen-alten Freizeitbeschäftigung

Das hochwertige Grafit aus Borrosdale war lange Zeit einzigartig und ein ebenso begehrter wie teurer Rohstoff, weshalb es immer wieder zu Diebstählen und Plünderungen der Mine kam. Je weiter die Grafit-Vorräte zu Neige zu gehen drohten, desto intensiver dachten die Bleistifthersteller über Alternativen nach. 1795 schließlich wurde das sogenannten Conté-Verfahren patentiert, bei dem fein pulverisiertes Grafit mit Ton und Wasser gemischt, die Masse getrocknet und dann gebrannt wurde.

Dieses Verfahren sparte nicht nur ein Menge des teuren Rohstoffs, man war nun auch in der Lage, verschiedene Härten zu produzieren. 21 Härtegrade gibt es heute, von 10H bis 9B, also von ultrahart bis butterweich. Je mehr Grafit die Mine enthält, desto weicher ist der Stift und desto dunkler sein Strich.

Wer einmal gespürt hat, wie beim Zeichnen der Schwung der Hand den Bewegungen des Auges zu folgen beginnt oder wie sich beim Schreiben eine Synchronizität zwischen der Bewegung der Hand und dem Fluss der Gedanken einstellt, eine Synchroniziät, die erst durch das perfekte Zusammenspiel vom Druck der Finger und dem Härtegrad des Stiftes ermöglicht wird, möchte nie wieder einen Kugelschreiber zur Hand nehmen oder auf eine schmutzige Tastatur einhämmern.

Dennoch gilt der Bleistift vielen als ein Anachronismus aus dem Reich des Analogen. Welch ein Missverständnis.

Im Gegensatz zum Bleistift ist ein Edding doch nur ein breitbeiniger Permanentling mit Wahrheitsanspruch
Im Gegensatz zum Bleistift ist ein Edding doch nur ein breitbeiniger Permanentling mit Wahrheitsanspruch
Quelle: Getty Images

Dass der Bleistift oft missverstanden wird, ist tief in seiner Geschichte verankert. Bereits sein Name rührt von einem Missverständnis her. Nichts ist aus Blei an einem solchen Stift. Die Bezeichnung geht zurück auf die ersten Bleigriffel, mit denen geschrieben worden ist, sowie auf das deutsche Wort für Grafit, das „Bleiweiß“ lautete und die irrtümliche Beschreibung des Stoffs als weißes, bleiähnliches Metall zum Hintergrund hat.

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Wer mit einem Bleistift schreibt und verfolgt, wie sich die feinen Partikel des Grafits auf dem Papier zu Buchstaben formen, zu Wörtern, Sätzen und schließlich Sinn, wird immer wieder daran erinnert, dass es um Kohlenstoff geht, also um die Grundlage des Lebens selbst, und dass es nur auf die räumliche Ordnung der Atome im Kristallgitter ankommt, ob aus Kohlenstoff Grafit oder ein Diamant wird. Ein kleiner Unterschied nur – mit enormen Konsequenzen. Es ist genau wie mit dem Wert der Wörter: Je nachdem wie sie angeordnet sind, lassen sie einen völlig ratlos zurück oder brennen sich für immer ins Gedächtnis ein.

Dem Bleistift wird nachgesagt, er sei ein Weichei, ein Drückeberger, der sich immer genau dann aus der Affäre zöge, wenn es wirklich ernst werde. Bei Verträgen etwa, offiziellen Dokumenten, Klausuren. Und derjenige, der ihn benutzt, dieser Zweifler, sei ein Pessimist, ein Bremser, Defätist, Spielverderber.

Ganz abgesehen davon, dass die Psychologin Julie Norem in ihrem Buch „The positive power of negative thinking“ nachgewiesen hat, dass es nicht die Zufriedenen und Glücklichen sind, die Erfolg haben im Leben, sondern die Zweifler, Nörgler, Schwarzmaler, und dass es die Schlechtgelaunten, ja die Depressiven sind, die die besseren rationalen Entscheidungen treffen, wie Psychologen der Universität Basel in mehreren jüngeren Studie zeigen konnten, ganz abgesehen davon also sind es oft Künstler, Designer und Ingenieure, die sich eines Bleistiftes bedienen. Und was könnte von tieferem Ernst sein, als eine Brücke zu entwerfen, ein neues Möbel, eine andere Welt?

Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.

Quelle: Welt am Sonntag

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