WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Politik
  3. Einer der letzten NS-Prozesse: Schreie aus der Gaskammer

Politik NS-Prozess in Hamburg

Der KZ-Wächter und die Schreie aus der Gaskammer

Chefreporter WELT AM SONNTAG
Bruno Dey Bruno Dey
Eines der letzten Dokumente, die in den Archiven über Bruno D. noch erhalten sind: Sein Bekleidungsnachweis
Quelle: Muzeum Stutthof
Das Landgericht Hamburg hat das Verfahren gegen den ehemaligen SS-Mann Bruno D. eröffnet, der Wachmann im KZ Stutthof bei Danzig war. Der Vorwurf: Beihilfe zum Mord in mindestens 5230 Fällen.

Wenn Bruno D., SS-Schütze in der 1. Kompanie des Totenkopfsturmbanns auf dem Wachturm stand, war er vom Tod in all seinen Facetten umgeben. Er konnte die Rauchsäulen der Scheiterhaufen sehen, auf denen die Leichen ermordeter Häftlinge im KZ Stutthof, etwa 40 Kilometer östlich von Danzig, verbrannt wurden.

Er wusste wohl, dass das Gebäude unter ihm die Gaskammer war, in der nicht mehr arbeitsfähige Gefangene mit Zyklon B erstickt wurden. Und er kannte den Block 29/30, den sogenannten Todesblock. Dort wurden die Juden ermordet, indem man ihnen Nahrung, Wasser und medizinische Hilfe verweigerte. Mindestens 5000 Menschen starben auf Strohlagern, die von Exkrementen und Eiter durchtränkt waren.

Das ehemalige Konzentrationslager in Stutthof ist heute eine Gedenkstätte
Das ehemalige Konzentrationslager in Stutthof ist heute eine Gedenkstätte
Quelle: picture alliance / Andreas Keuch

So jedenfalls steht es in der Anklage der Staatsanwaltschaft Hamburg vom 8. April 2019. Nun hat die zuständige Kammer des Landgerichts Hamburg entschieden, das Verfahren zu eröffnen.

Sie will am 17. Oktober mit der Verhandlung beginnen. Also muss sich der 92-jährige Bruno D. jetzt, am Ende seines Lebens, mit dem Vorwurf der Beihilfe zum Mord an mindestens 5230 Menschen auseinandersetzen. Damit könnte im Herbst einer der letzten NS-Prozesse in Deutschland beginnen.

Vom 9. August 1944 bis zum 26. April 1945, dem Tag der Evakuierung des Lagers, versah B. dort seinen Dienst. Der frühere Wachmann hat sich im vergangenen Jahr in Vernehmungen ausführlich eingelassen und zugegeben, Hunderte Leichen gesehen und auch Schreie aus der Gaskammer gehört zu haben. Viele Menschen seien an Krankheiten gestorben, und er habe aus Erzählungen gewusst, dass Frauen vergast worden seien.

Ein Rädchen in der Tötungsmaschine

Konkrete Taten wirft ihm Oberstaatsanwalt Lars Mahnke in seiner 79-seitigen Anklageschrift nicht vor. Doch allein durch seine Zugehörigkeit zur Wachmannschaft sei er ein kleines Rädchen in der Tötungsmaschine gewesen, die das KZ Stutthof war.

Das Argument der Ankläger: Ohne die bewaffneten Aufpasser, die Fluchtversuche verhindern oder aufhalten sollten, wären die Verbrechen im Lager nicht möglich gewesen. Und die „Sicherung des Häftlingslagers“ gehörte dem Historiker Stefan Hördler zufolge nicht nur zu den wichtigsten Wachaufgaben des Postens, sondern war Grundvoraussetzung für das Funktionieren des KZs.

Pflichtbesuche können das Problem sogar verstärken

CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer hat nach ihrem Besuch in Israel verpflichtende Besuche von Schülern in Holocaust-Gedenkstätten vorgeschlagen. Sie ist der Überzeugung, dass der Besuch einer Gedenkstätte auf jedem Lehrplan stehen muss.

Quelle: WELT

Hördler hat die Arbeit der SS-Wachmänner recherchiert und in einem Gutachten festgehalten. Er wird im Prozess auftreten und war bereits im Stutthof-Verfahren von Münster 2018 als Sachverständiger geladen.

Ihm zufolge gab es zwei Postenketten, die sich um das Lager legten. Wachmänner geleiteten Häftlinge zu ihrer Arbeit, bewachten die Außenkommandos, sicherten die Wachtürme und ankommende Transporte. Sie hielten Gefangene auch bei Selektionen und beim Abtransport in Vernichtungslager in Schach. Regelmäßig nahmen sie an ideologischen Schulungen teil und absolvierten Schießtrainings.

Anzeige

Aus dem KZ Dachau sind die Wachvorschriften für SS-Angehörige erhalten geblieben. Sie dürften in allen KZ angewandt worden seien.

Lesen Sie auch

Dort finden sich unter anderem folgende Anweisungen: Aufgabe des Postens ist insbesondere, jede geplante Flucht oder gewaltsame Befreiung der Lagerinsassen zu verhindern, sowie Revolten mit allen Mitteln zu begegnen. „Wenn nötig, ist von der Schusswaffe Gebrauch zu machen.“ – „Wer versucht, den Kopf zu heben und so Anzeichen von Flucht ahnen lässt, wird sofort erschossen.“

Mit Blick auf die Frage der Schuld erscheint Hördlers Recherche wichtig, wonach sich jeder Wachmann versetzen lassen konnte – indem er sich an die Front meldete. Wer also nicht mitmachen wollte, konnte demnach das Lager verlassen. Denn der Dienst an der Kriegsfront spiegelte das heroische Bild des SS-Soldaten besser als der Dienst im Konzentrationslager.

An Typhus starben allein 5000 Menschen

Die Historikerin Janina Grabowska-Chalka beschrieb in ihrem 2004 erschienen Buch „Stutthof. Historischer Wegweiser“ die erschütternden Zustände im Lager, in dem D. arbeitete. Sämtliche Gefangenen, Frauen, Alte und Kinder waren zur Arbeit verpflichtet. Schwere, die menschlichen Kräfte übersteigende Arbeit bestimmte den Rhythmus von Leben und Tod im Lager, so die Autorin.

Die Lebensbedingungen waren darauf ausgerichtet, die Menschen auf schnellstem Wege zum psychischen Zusammenbruch und Erschöpfung ihrer körperlichen Kräfte zu bringen.

Lesen Sie auch

Die Häftlinge wohnten in Holzbaracken und teilten sich einen Raum von etwa 50 Quadratmetern mit 150 bis 200 Menschen. Hunger und Durst, Hitze und Kälte schwächten die Menschen und führten viele in den Wahnsinn. Als im November 1944 eine Typhus-Epidemie ausbrach, gingen die Erkrankten elendig zugrunde. Bis zu 5000 sollen es gewesen sein.

Die Überlebende Judy Meisel erinnert sich an ihre Zeit im Lager, sie tritt als Nebenklägerin Hamburger Verfahren auf. „Es war schlimmer als im Getto, es ging jetzt nur noch ums nackte Überleben“, sagt sie. Bei der Ankunft rissen SS-Männer ihr die Haare aus, sie blutete am ganzen Kopf. Ein Mann brach die goldenen Kronen aus dem Gebiss ihrer Mutter, das Blut lief ihr aus dem Mund. „So standen wir nebeneinander, blutverschmiert, gedemütigt und zu Tode verängstigt“, sagt Judy Meisel.

Die Deutschen ermordeten hier etwa 65.000 Menschen
Die Deutschen ermordeten hier etwa 65.000 Menschen
Quelle: picture alliance / dpa
Anzeige

Die SS-Männer schwingen sich zu Herren über Leben und Tod auf, nehmen sich das Recht, zu foltern, zu schlagen und zu morden.

„Sie haben mir alle Fingernägel herausgerissen. Es hat Jahre gedauert, bis sie wieder da waren“, sagt Meisel. Sie sieht, wie die Deutschen Babys mit dem Kopf an die Wand schlagen, bis sie tot sind. Sie sieht, wie ihre eigene Mutter in die Gaskammer geführt wird, am 21. November 1944, kurz bevor die Rote Armee das Lager befreit.

Bruno D. hätte sich versetzen lassen können

Bruno D. war auf der anderen Seite, ein Mann in einer SS-Uniform mit einem Gewehr um den Hals. Aber war er auch ein Peiniger, ein Unmensch?

Ankläger Mahnke sieht in Bruno D. zwar keinen glühenden Verehrer der NS-Ideologie. Er habe sich auf der anderen Seite aber nie für die Verfolgten eingesetzt und vielmehr geglaubt, er könne die Zeit überstehen, indem er sich wie ein Einzelgänger verhalte, der Befehle einfach ausführe und sich im Übrigen aus der Sache heraushalte.

Auf Nachfragen aber erinnerte sich Bruno D. an einzelne Tötungen. „Ich hab’ da mal von Ferne diese Schreie gehört“, sagte er zu den Morden in der Gaskammer, bei denen die Gefangenen erst nach etwa zehn bis 30 Minuten tot waren und vorher um ihr Leben schrien und kämpften.

Die Morde an den Juden in Stutthof hatten „ohne Zweifel“ verbrecherischen Charakter, schreibt Oberstaatsanwalt Mahnke, und Bruno D. habe das erkannt. Am 6. Juli 2018 sagte er in der Vernehmung: „Ich wusste wohl, dass das Juden waren, die keine Verbrechen begangen haben. Dass die nur dort drin waren, weil es Juden waren. Und die haben genauso ein Recht, zu leben und frei zu arbeiten, wie jeder andere Mensch.“

Insgesamt ermordeten die Deutschen etwa 65.000 Menschen in Stutthof, etwa 70 Prozent davon waren Juden.

Das Gericht will wegen der angegriffenen Gesundheit Bruno D.s an zwei Tagen in der Woche für etwa zwei Stunden verhandeln.

Zum Blog von WELT-Investigativ geht es hier entlang: www.investigativ.de

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema