WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Politik
  3. Ausland
  4. Giftgas: Trägt Spanien die Schuld an Krebsfällen in Marokko?

Ausland Giftgas-Einsatz

Spaniens vergessene Schande fordert immer noch Opfer

Immer wieder holen Gespenster der Vergangenheit ein Volk ein. Jetzt trifft es Spanien, das in Marokko Chemiewaffen einsetzte, die noch heute Opfer fordern. Auch Deutschland ist daran nicht unschuldig.

„Sie werden hier keine Familie finden, die kein Krebsopfer zu beklagen hat“, sagt Rachid Rakha. Er spricht vom Rif-Gebiet im Norden Marokkos. Zugegeben hat Spanien es nie – aber dass es zwischen 1921 und 1926 gegen die Rifkabylen, die Berber der Rif-Region, Senfgas eingesetzt hat, ist gut dokumentiert. Viele vermuten darin den Grund für die hohe Zahl an Krebserkrankungen. Rakha hat seinen Vater, drei Onkel und zwei Cousins an die Krankheit verloren. Das Gas sei „die einzige Erklärung, die wir finden können“.

Der Rif-Krieg kostete vor knapp hundert Jahren Tausende das Leben, doch genaue Zahlen über die Opfer chemischer Kampfstoffe fehlen. „Das ist sehr schwierig zu berechnen“, sagt Sebastian Balfour, emeritierter Professor der London School of Economics und einer von wenigen, die sich mit Spaniens schmutziger Vergangenheit befassen. Ob die Krebsrate mit dem Senfgas zu tun hat – es führt bei Tieren zu Mutationen –, bleibt unbelegt, denn die Krebshäufigkeit der Region wurde nie systematisch untersucht. Aber gut die Hälfte der Krebspatienten des Nationalen Instituts für Onkologie sind Rifkabylen – was umso erschreckender ist, als der Rif nur dünn besiedelt ist.

Eine Mauer des Schweigens: Sie beginnt mit der Weigerung Spaniens, zu seiner Vergangenheit zu stehen. Doch auch Marokko und Frankreich mauern mit. Der Einsatz chemischer Waffen blieb Verschlusssache, bis in den Sechzigerjahren Zeugenberichte spanischer Piloten durchzusickern begannen. Genaueres kam in den Neunzigern ans Licht, als Journalisten und Forscher Militärcodes knackten. Dazu zählte auch Balfour. Er sagt, dass dabei „ein massiver Einsatz“ von Chemikalien aufgedeckt wurde.

Spanien verweigert sich der Auseinandersetzung

In Marokko weisen mehrere Organisationen auf die mutmaßliche Vertuschung hin. Rakha ist Vorsitzender der World Amazigh Assembly, einer marokkanischen Nichtregierungsorganisation, die Briefe an König Felipe von Spanien und den französischen Staatspräsidenten François Hollande geschickt hat, in denen sie offizielle Untersuchungen, Reparationen und eine Verurteilung der Angriffe verlangt. Beide Staaten versprachen in ihrer Antwort Ermittlungen; der spanische Königshof leitete die Aufforderung an das Außenministerium weiter, das auf Anfrage allerdings keinen Kommentar gab. Rakha hofft weiter. „Es ist ein gutes Zeichen, dass sie geantwortet haben“, sagt er, auch wenn nur wenige glauben, dass der Staat reinen Tisch machen wird.

2005 brachte der spanische Abgeordnete Joan Tardà einen Gesetzentwurf ein, der vorsah, die Angriffe einzuräumen, Ermittlungen zu erleichtern und die Opfer zu entschädigen. Damals wusste kaum jemand vom Einsatz chemischer Waffen, und das Gesetz wurde damals abgelehnt. Genauso wie die späteren Versuche. Balfour und Tardà meinen, der Staat fürchte nicht so sehr, einen Zusammenhang zwischen dem Einsatz von Chemiewaffen und den vielen Krebsfällen anzuerkennen, als vielmehr, den Einsatz von Chemiewaffen überhaupt zuzugeben.

Spanien verweigert sich schon der Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Bürgerkriegs in den Dreißigerjahren; Balfour und Tardà glauben, dass das Rekonstruieren des Rif-Krieges einen Präzedenzfall dafür schaffen könnte, Verbrechen aus weiteren Jahrzehnten ebenfalls zu untersuchen.

Vielleicht ist es auch eine Frage des Zeitpunkts. Schließlich werden Chemiewaffen seit Jahrhunderten eingesetzt, nicht zuletzt massenweise im Ersten Weltkrieg. Der Versailler Vertrag verbot ihren Einsatz, doch hatte das nur bis 1928 Bestand, als das Genfer Protokoll in Kraft trat. Spaniens Verwicklungen beginnen noch früher: Im Jahr 1912 ersuchte der belagerte Sultan Abd al-Hafid Frankreich um die Bildung eines Protektorats, um seine eigene Macht zu retten. Paris überließ den Nordteil des Landes, darunter die Rif-Region, Spanien zur Bildung eines Protektorats.

Flächenbombardements mit deutscher Hilfe

Spanische Kolonisierungsbestrebungen wurden von Berber-Rebellen in Schach gehalten, und 1920 begann der Guerillaführer Abd el-Krim einen Unabhängigkeitskrieg gegen die spanischen und französischen Besatzer. Das führte 1921 zur Schlacht von Annual: Über 10.000 spanische Soldaten und Zivilisten starben und das Protektorat ging größtenteils verloren. Der Ruf nach Vergeltung wurde laut; spanische Politiker und ein Großteil der Öffentlichkeit forderten ganz offen den Einsatz von Chemiewaffen.

Die ersten Gasgranaten fielen im November 1921. 1923 begann Spanien mit deutscher Hilfe das Flächenbombardement aus der Luft. Die ersten Munitionschargen verkaufte Deutschland an Spanien und unterstützte den Aufbau zweier Fabriken für Chemiewaffen. König Alfonso XIII., der Urgroßvater König Felipes, wusste nicht nur um die Chemiewaffen, sondern unterstützte energisch ihren Einsatz zur „Ausrottung“ des Feindes, wie es in Tardàs Gesetzentwurf heißt. Spanische Felddepeschen aus jener Zeit berichten von Hunderten, die bei jedem Angriff umkamen, und weiteren Hunderten Erblindeter. Die Dokumente erwähnen X-Bomben, auch „Spezialbomben“ genannt, die auf Geschäftsviertel oder zivile Zentren niedergingen – zur kollektiven Bestrafung.

Anzeige

Besonders merkwürdig ist allerdings das Zögern Marokkos bei der Aufklärung. Sowohl Balfour als auch Tardà glauben, der nordafrikanische Staat fürchte mögliche innenpolitische Folgen: Unabhängigkeitsbestrebungen der Berber könnten Auftrieb bekommen – oder es könnte jener grausame Feldzug zur Sprache kommen, den Marokko selber gegen die Rifkabylen führte und in dem 1958 Napalm zum Einsatz kam.

Niemand weiß, wann schließlich die Wahrheit ans Licht kommen wird. Rakha jedenfalls sagt, die World Amazigh Assembly sei bereit, ihr auf juristischem Wege Gehör zu verschaffen, und wenn sie dafür bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen müsste. Wenn auch nur ein Land Klarheit schaffen wolle, müssten die anderen folgen – und den Rifkabylen die unbequeme Wahrheit über den Krebs sagen, der sie umbringt.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema