Wer dieser Tage die Lage in Weißrussland mitverfolgt oder als Demonstrant bei den Protesten mitmacht, kommt an der Messaging-App Telegram nicht vorbei. Denn dort lässt sich Nexta abonnieren. Fast im Minutentakt kommen über den Kanal Benachrichtigungen und Videos auf dem Smartphone an: In einem Dorf nordwestlich von Minsk dreschen in Schwarz gekleidete Spezialkräfte auf zwei Männer ein, die dem Dorfältesten eine Petition überreichen wollten; in der Innenstadt von Minsk haben 200 in Weiß gekleidete Frauen eine Menschenkette gebildet; bei den Protesten in Grodno wurde ein fünfjähriges Mädchen verletzt, man sieht es blutüberströmt auf einer Trage liegen.
Mehr als 1,4 Millionen Menschen folgen Nexta inzwischen. Der Name ist ein englisch-weißrussisches Wortspiel. Auf Weißrussisch heißt Nechta „jemand“. Zum Abend hin, wenn die Proteste beginnen, verbreitet der Kanal noch düsterere Meldungen. Ein aus einem Auto aufgenommenes Video, auf dem zu sehen ist, wie Polizisten mit Stöcken auf ein anderes Fahrzeug eindreschen. Ein weiteres Zeugnis der Gewalt: Zwei Verkehrspolizisten schlagen einen Motorradfahrer zusammen. Dann ein Foto, das die Hülse einer Blendgranate zeigen soll – und angebliche Patronenhülsen scharfer Munition.
Selbst dann, wenn Lukaschenkos Regime Internetblockaden hochzieht und die Webseiten von unabhängigen Medien nicht erreichbar sind, funktioniert Telegram oftmals noch. Ohne die Hilfe der App wäre der weißrussische Widerstand gegen den Autokraten Lukaschenko kaum denkbar. Der aus Russland geflüchtete Telegram-Gründer Pavel Durov hatte bei Twitter zudem angekündigt, „Anti-Zensur-Maßnahmen“ seiner App zu aktivieren.
Hinter Nexta steckt keine klassische Redaktion, sondern eine Handvoll überzeugter Lukaschenko-Kritiker. Gegründet wurde der Kanal vor zwei Jahren vom heute 22-jährigen Blogger Stepan Putilo, um das Interesse junger Menschen für oppositionelle Politik zu fördern. Nach dem Motto: „Wer sich nicht für Politik interessiert, für den interessiert sich die Politik“, wie er es damals formulierte.
Der Sohn eines oppositionellen Journalisten, der für den in Polen ansässigen Exilsender Belsat arbeitet, bekam schon als Schüler Probleme mit dem weißrussischen Inlandsgeheimdienst KGB. Die Wohnung seiner Eltern wurde wegen eines Lukaschenko-kritischen YouTube-Videos durchsucht, Kameras und Computer wurden beschlagnahmt. Doch Putilo studierte zu dieser Zeit in Polen – und lebt bis heute dort. Wäre er nach Weißrussland zurückgekehrt, gebe es Nexta heute wohl nicht.
In kürzester Zeit hat Putilo aus dem Exil heraus viel erreicht. Für die Kritiker von Lukaschenko in Weißrussland ist Nexta eine Dokumentationsplattform geworden – für die beispiellose Polizeigewalt in den Tagen und Nächten nach der Präsidentschaftswahl vom vergangenen Sonntag. Wie am Mittwoch bekannt wurde, kommen gegen die Demonstranten inzwischen nicht nur Reizgas, Wasserwerfer und Gummigeschosse, sondern auch scharfe Munition zum Einsatz. So etwa in der Stadt Brest nahe der polnischen Grenze. Die Polizei soll einer Pressemitteilung zufolge von einer „Gruppe von aggressiven Bürgern“ angegriffen worden sein.
Doch Nexta geht es gewiss nicht darum, neutraler Beobachter zu sein. Die Betreiber des Kanals stehen klar auf der Seite der Demonstranten. Die Einsatzkräfte der Polizei werden von ihnen „Faschisten“ genannt. Das Wort ist in der Rhetorik von Nexta so alltäglich, als wäre es eine Berufsbezeichnung. Eine Nachricht beginnt mit diesem Satz: „Heute haben die Faschisten, besonders die der Truppen des Innenministeriums, ihr ganzes tierisches Wesen gezeigt.“ Ein anderes Posting: „Die Bestrafer gehen wieder in Offensive.“
Diese Wortwahl soll die weißrussischen Leser, die inzwischen mehr als ein Zehntel der Bevölkerung des Landes ausmachen, an die schlimmsten Jahre in der Geschichte ihres Landes erinnern. Während der blutigen deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg kamen je nach Schätzung bis zu einem Drittel der Einwohner des Landes um. Truppen der Wehrmacht und der SS hatten damals Tausende Dörfer ausgelöscht. Das Lukaschenko-Regime wird heute auf ähnliche Weise zu einer Besatzungsmacht stilisiert, die einen Völkermord begeht.
Solche emotionalen Postings liefert inzwischen nicht der Gründer Putilo selbst, sondern eine vierköpfige Redaktion, die ebenfalls in Polen sitzt. Sie ist nicht zuletzt damit betraut, Videos und Meldungen zu verifizieren, die Nexta zugeschickt bekommt. Doch die Informationsflut zu bewältigen ist manchmal eine fast unlösbare Aufgabe. Während der Proteste bekommt die Redaktion bis zu 250 Nachrichten pro Minute von ihren Lesern, klagte im Interview mit dem russischen Onlinemedium Meduza der Chefredakteur Roman Protasewitsch. Manchmal unterlaufen dem Team auch Fehler, dann entschuldige man sich bei den Lesern.
Sind sie nun Journalisten oder Aktivisten? Eine direkte Antwort gibt Protasewitsch nicht. „Wir sind schon länger die letzte Instanz für viele Weißrussen, wir sind eine Beschwerdestelle“, sagte er ironisch gegenüber dem russischen Medium. Und fügte hinzu: „Aus einem journalistischen Projekt verwandelt sich Nexta in ein Volksprojekt.“ Neben Meldungen von Lesern verbreitet der Kanal auch Postings aus den Telegram-Kanälen klassischer unabhängiger Medien wie Tut.by und Belsat.
Doch ein „Volksprojekt“ zu sein, das heißt auch, dass die Redaktion des Kanals Demonstrationsaufrufe und Vorlagen für Flugblätter teilt. „Die letzten Tage der Brutalität brechen an“, heißt es in einem Aufruf an Mitarbeiter von kommunalen Verkehrsbetrieben und Speditionsfirmen. Sie sollen die Straßen „für die Fahrzeuge der Bestrafer“ sperren. In einem anderen Aufruf geht es um einen Generalstreik, der ab Dienstag beginnen sollte. Er führte allerdings nicht dazu, dass landesweit die Arbeit niedergelegt wurde. Für die Oppositionellen hinter Nexta läuft also nicht alles wie gewünscht oder geplant. Doch einer Sache können sie sich sicher sein: So leicht ist ihr Kanal nicht zum Schweigen zu bringen.