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DIE WELT

Kannibalismus an sich selber

Unheimliches Psycho-Leiden: Es gibt Menschen, die sich selber fressen

„Autophagie“ - ein harmlos klingendes Wort für eine unheimliche psychische Erkrankung. „Auto“ heißt selbst, „phagie“ bedeutet fressen. Auf der Zellebene ist Autophagie ein ganz normaler Vorgang, der Stoffwechsel baut nicht mehr funktionsfähige Eiweißstrukturen ab. Auf der körperlichen Ebene ist es nicht mehr normal. Menschen nagen Teile ihres Körpers an oder verstümmeln sich. Die Kranken schneiden sich Ohren oder Fingerstücke ab, ritzen sich die Haut auf oder reißen sich ganze Haarbüschel aus. Im Unterschied zu anderen Formen von selbstverletzenden Handlungen essen sie Ohren, Hautstücke und Haare auf.

Etwa 2000 Patienten jährlich kommen in die Sprechstunde von Professor Harald Freyberger, dem Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald am Hanse-Klinikum Stralsund. Im Lauf der Zeit hat er viele Leidensgeschichten erlebt. An einen Fall kann er sich noch besonders gut erinnern. Eine Frau hatte sich die Fingerkuppe des rechten Ringfingers abgeschnitten und das Fingerglied aufgegessen. Warum?

„Diese Phänomene sind sehr selten. In den 15 Jahren meiner psychiatrischen Praxis sind mir nur drei bis vier Fälle begegnet“, sagt Freyberger. Kein Wunder, daß wissenschaftliche Literatur Mangelware ist und nur vereinzelte Fallbeschreibungen existieren. „Autophagie tritt immer im Kontext schwerer Persönlichkeitsstörungen wie zum Beispiel dem Borderline-Syndrom auf. Beobachtet wurde es auch hin und wieder im Zusammenhang mit sexuellen Perversionen und in Gefängnissen“, erläutert Freyberger. Der Name Borderline stammt aus der Zeit, als man dachte, es würde sich dabei um einen Grenzfall (englisch borderline) zwischen Psychose und Neurose handeln. Menschen mit einer solchen Störung sind oft extrem impulsiv, haben sich nicht unter Kontrolle und teilen sich die Welt in Schwarz oder Weiß auf. Typisch sind starke Stimmungsschwankungen und selbstverletzende Verhaltensweisen.

Die Patientin von Professor Freyberger litt unter dem Borderline-Syndrom. „Meines Erachtens ist es kein Zufall, welche Körperteile gegessen werden. Sie haben eine symbolische Bedeutung und diese kann man in einer Therapie aufdecken“, meint Freyberger. Im Verlauf einer mehrjährigen Psychotherapie stellte sich heraus, daß die Frau als Kind von ihrem Vater sexuell mißbraucht worden war. Den Finger, dessen letztes Glied sie sich abgeschnitten hatte, mußte sie immer zur Stimulation benutzen. „Eine solche Gewalttat an sich selbst passiert natürlich nur in Ausnahmezuständen.“ Die Kranken können die Welt nur noch verzerrt wahrnehmen. Dissoziativer Spannungszustand nennt die Psychiatrie eine solche Erfahrung. Während eines traumatischen Ereignisses schaltet die Psyche einzelne Sinneswahrnehmungen oder auch alle aus, um das Ereignis überhaupt ertragen zu können. Später erinnert man sich zum Beispiel nur noch an Geräusche, aber nicht mehr an den Schmerz. Durch bestimmte äußere oder innere Reize können die Erinnerungen aber plötzlich wieder aufbrechen. Die Menschen erleben das Trauma dann von neuem und sind ihren Emotionen und ihren zum Teil heftigen Reaktionen darauf hilflos ausgeliefert.

Extreme Verhaltensweisen können auch in harmlosen Varianten auftreten. Jeder kennt Situationen, in denen er sich am liebsten die Haare raufen würde. Manche Kinder und Jugendliche, die unter einer großen Anspannung stehen, kauen ihre Fingernägel ab oder essen ihre Haare auf. In solchen Momenten nutzt man einen Teil des Körpers, erklärt Freyberger, um Spannungen zu mildern. Selbstverletzendes Verhalten existiert in allen nur denkbaren Spielarten. Am bekanntesten dürfte die Form sein, bei der sich Menschen durch Schnitte an den Armen verletzen. In der Regel wissen sie um ihre Handlungen und können sie anderen gegenüber auch zugeben. Ärzten in Krankenhäusern begegnet hin und wieder das „Münchhausen-Syndrom“. Die Betroffenen täuschen Krankheiten vor oder erzeugen sie künstlich, indem sie zum Beispiel Schmutzwasser trinken oder Blut in die Atemwege einführen. Sie sind krank, sie simulieren nicht, weil sie sich selbst schädigen, um möglichst oft in Krankenhäusern behandelt zu werden.

Die ganz schweren Fälle ausgenommen, gibt es für Menschen, die sich selbst verletzen, gute Heilungschancen. Auch der Patientin von Professor Freyberger hat die jahrelange Therapie geholfen. Sie heiratete, bekam drei Kinder und kann ein normales Leben führen.

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