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Literatur

Scheue Existenzialistin

Chefredakteur
Angelica Blechschmidt hat Deutschland eine „Vogue“ geschenkt, die das egalitäre Land lustvoll herausforderte. Jetzt ist die geniale Blattmacherin verstorben. Ein persönlicher Nachruf

Angelica Blechschmidt war ein Alien. Als ich sie das erste Mal sah, als ich 1988 bei der „Vogue“ anfing zu jobben, war Angelica Blechschmidt Art Direktorin, aber die Chefredakteurinnen waren Chefinnen von ihren Gnaden. Sie war als Co-Chefin stets wachsam, ob alles auch einer „Vogue“ angemessen war. Als fränkisches Reihenhauskind in scheußlichen New-Wave-Klamotten kam ich aus dem Staunen nicht heraus. Noch nie hatte ich so einen kurzen Rock bei einer so zeitlosen Dame gesehen, noch nie so große, Hände verwandelnde Ringe, noch nie so hoch toupiertes Haar, noch nie ein so exaktes Make-up, noch nie hatte ich eine so glockenhelle Stimme gehört.

Das Kraftzentrum der „Vogue“ war ihr Büro in einem schmucklos bis scheußlichen 50er-Jahre-Bau an der Münchner Leopoldstraße, wo es draußen laut, prollig und vulgär war. Angelica weigerte sich, nach draußen zu sehen. Sie ignorierte München weitgehend. Wie so viele Stilikonen war sie in einem sehr bürgerlichen Dresden geboren, landete dann in Schwarz gewandet als Designerin in Hamburg, wurde enge Freundin und Förderin von Jil Sander und war im stockkonservativ dunkelblauen Hamburg eine Sensation.

Als sie Chefredakteurin der „Vogue“ wurde, endlich!, wurde ich Feuilletonredakteur dieser Modezeitschrift, die bislang journalistisch keinerlei Ehrgeiz entwickelt hat. „Aber ich will unbedingt weiterstudieren.“ „Kein Problem“, sagte sie, „Machen Sie, unbedingt. Es gibt genug dumme Texte.“

Für viele Menschen war Angelica eine unnahbare Chefin, ich erlebte sie stets als großzügig, konstant fordernd, noch mehr fördernd. Ihre Liebe zum Luxus und den schönen Dingen war in der egalitären Bonner Republik auch eine Provokation. Für Normalität und das Allgemeine hatte sich Angelica Blechschmidt nie interessiert. Sondern für Kunst und Kultur. Ob ein Godard-Text von Frieda Grafe oder wüste Seiten mit zeitgenössischer Kunst, ob „Spex“-Autoren wie Olaf Dante Marx oder Tom Holert, ob Perlen des „SZ“-Feuilletons wie Claudius Seidl, Michael Althen oder Fritz Göttler: Angelica Blechschmidt freute sich über jeden radikalen Impuls. Kollegen, die sie mochte und denen sie vertraute, schickte sie um die ganze Welt. Es war ein Privileg, als ihr Auge und Ohr um den Globus zu jetten, Botschafter zu sein für Blechschmidts Glaube an Schönheit, Qualität und Kreativität. Ihr langjähriger Modechef Edgar Otte war so einer, der vielleicht wüsteste Exzentriker, den die sonst so modebiedere Bonner Republik hatte. Angelica blieb oft in ihrem Büro und fuhr dann auf ihr Schloss weit vor den Toren Münchens.

In ihrer Zeit als Chefredakteurin hat sie das Modemagazin intellektuell aufgerüstet. Sie holte den Kulturchef der „TAZ“, Arno Widmann, als ihren Stellvertreter nach München. Sie freute sich über junge Autoren und Illustratoren, nur die jungen Art Direktoren hatten unter und neben ihr einen sehr schweren Stand. Ihre Kritik konnte vernichtend sein. Das war dann, wenn ihr Lachen hinter den Bergen von Zigaretten mit rotem Lippenstift verschwand. Sie wurde nie laut, sondern nur scharf. Das wollte niemand erleben. Keine Ahnung, warum: Wir haben sieben Jahre zusammengearbeitet, und es hat nie gekracht.

Wenn Angelica wie üblich Überstunden machte und den kleinsten Kreis der Vertrauten in ihr Büro bat, sorgte sie für kostbare Snacks, die es in Franken nicht mal im Delikatessengeschäft gab. Kekse aus der Provence, Schokolade aus Japan, Tee aus Nepal. In den 90er-Jahren verließ Angelica ihre Festung und reiste zu den Shows nach Paris, Mailand und New York. Sie war so scheu, dass sie sich immer hinter ihrer kleinen Fotokamera versteckte. Die Fotos dieser Ära, die erst 2003 endete, sind spektakuläre Dokumente: Eine sachliche, deutsche Eleganz spricht aus ihnen. Und die Betextung der Bilder, die es in die „Vogue“ schafften, war ein poetisches Mega-Unterfangen. Oft eine Nervenprobe. Sie war mit ihren Fotos so kritisch wie mit den Werken jener Starfotografen, die sie entdeckte oder förderte.

Angelica hatte ein unglaublich großes Herz. Steckte eine ihrer Redakteurinnen in Schwierigkeiten, half sie. Nach ihrem Ausscheiden zog sie nach Potsdam und wurde ein gern gesehener Gast in der Berliner Bohème. Am Freitagmorgen ist Angelica Blechschmidt in Potsdam nach langer schwerer Krankheit verstorben. Ohne sie wäre Deutschland ein unsinnlicheres Land geworden.

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