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Panorama TV-Dokumentation

Solange abtreiben, bis ein Junge geboren wird

Die entscheidende Frage: Wird es ein Junge oder Mädchen? Die entscheidende Frage: Wird es ein Junge oder Mädchen?
Die entscheidende Frage: Wird es ein Junge oder Mädchen?
Quelle: ZDF und Rafael Ben-Ari
Schwanger mit einem Mädchen? In China und Indien ist das eine schlechte Nachricht, dort werden gezielt weibliche Föten abgetrieben. Doch auch in Europa ist der sogenannte „Genderzid“ trauriger Alltag.

Monda sieht fertig aus. Sie hat viel zu tiefe Falten für eine 33-Jährige. Sie sagt: „Ich fühle mich wie tot, wie zerstört.“ Dreimal hintereinander hat sie abgetrieben. Nicht, weil sie die Kinder nicht wollte. Ihr Mann zwang sie dazu, weil es jedes Mal Mädchen waren.

Die junge Frau muss aber endlich einen Sohn, einen Stammhalter gebären. Sie haben zwar schon zwei süße Töchter, aber die zählen nicht viel. „Mein Mann ist so erzogen worden: Entweder einen Sohn oder das Leben in der Familie wird zur Hölle.“ Selbst die Schwiegereltern verachten sie. Die Frau ist schuld. Ganz klar. Willkommen in Europa, genauer gesagt in Albanien 2015.

Für ihre Dokumentation „Hauptsache ein Junge“, die am Mittwochabend um 20.15 Uhr auf 3sat läuft, reisen Birgit Wuthe und Magdalena Schüßler nicht nach China oder Indien, sondern forschen in Albanien, Armenien und sogar in der indischen Community in England. Überall dort ist die geschlechtsbezogene Abtreibung, der sogenannte Genderzid gängige Praxis.

Aktuell kommen in Albanien auf 100 Mädchen 112 Jungen. Nur in China und Aserbaidschan werden laut der Dokumentation noch mehr Kinder abgetrieben. Der Grund in Albanien: Der Trend zur Kleinfamilie und die Tradition. Zwei Kinder sollen es sein, eins davon muss männlich sein. Auch dort ist die Abtreibung bis zur 12. Schwangerschaftswoche erlaubt. Zu dem Zeitpunkt kann man aber das Geschlecht noch nicht eindeutig erkennen, also treiben die Frauen viel später ab.

Monda geht in eine Privatklinik zur illegalen Abtreibung. Da ist der Fötus bereits sechs Monate alt. „Die Ärztin sagte, dass ich Tabletten nehmen müsste, weil das Baby schon so groß ist. Ich ging nach Hause, nahm die Tabletten, bis die Fruchtblase geplatzt ist. Dann ging ich zurück ins Krankenhaus, bekam eine Narkose. Ich merkte nicht viel. Das Kind landete im Mülleimer.“

Sechs Monate nach der letzten Abtreibung wurde sie dann endlich schwanger mit einem Jungen. Er kann bei den Dreharbeiten gerade mal laufen und spielt fröhlich mit seinen beiden Schwestern, während die Mutter in der Minieinzimmerwohnung das Interview gibt. Ihr Mann erlaubt ihr, das Interview zu geben, aber nur weil er dafür 200 Euro bekommt.

Millionen werden keine Frau finden

Er selbst taucht nur auf einem Foto auf. Darauf lächelt er happy mit seinen beiden Töchtern um die Wette. Als seine Frau aber keinen Jungen bekam, rastete er aus und schlug sie. Warum hat sie ihn nicht verlassen? Was denken Frauen, die verzweifelt versuchen, ein Kind zu bekommen, wenn sie sehen, dass Mädchen in anderen Ländern abgetrieben werden? Doch schnell wird klar, eine eigene Entscheidung treffen oder Flucht ist leider oft keine Option. Diese Frauen sind vom Geld des Mannes abhängig. Monda sagt: „Wäre ich in einer besseren finanziellen Situation, hätte ich nie abgetrieben.“

Alleine hat sie keine Chance, sich eine Existenz aufzubauen. Egal ob Muslime, Christen oder Orthodoxe: Religionsunabhängig ist sich die Mehrheit in Albanien einig: Alle wollen einen Jungen.

Weltweit gibt es bereits jetzt ein Defizit von 160 Millionen Mädchen und Frauen, 60 Länder kämpfen mit einer Geschlechterschieflage. „Die extremen Folgen werden erst Jahre später spürbar sein“, warnt der französische Demograf Christopher Guilmoto in der Dokumentation. Millionen von Männern werden keine Frau finden und können keine Familie gründen.

Nur sechs Monate Haft für Mord an der eigenen Frau

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Ein Besuch bei der albanischen Menschenrechtsaktivistin Sevim Arbana. Sie ist die Leiterin der Organisation Useful to Albanian Women. Sie beklagt, dass die Regierung sich bislang kaum bei dem Thema einmischt. Ein Problem sei, dass Frauen, die vor ihren gewalttätigen Männern fliehen, die staatlichen Unterkünfte bereits nach sechs Monaten wieder verlassen müssten.

„Wenn sie rauskommen, hat ihr Mann entweder eine neue Frau oder das Haus verkauft.“ Im schlimmsten Fall bringen die Männer ihre zurückgekehrten Frauen um. Keine Seltenheit. Denn die Männern erwarten meist nur milde Strafen: Sechs Monate Gefängnis seien nicht ungewöhnlich. Arbana fordert: „Diesen missbrauchten, ungebildeten Frauen muss die Möglichkeit zur Weiterbildung gegeben werden.“ Nur so können sie sich selbst finanziell absichern und unabhängig sein.

Ortswechsel England, indische Community: 2012 filmt ein Journalist des „Daily Telegraph“ mit versteckter Kamera, wie eine englische Ärztin, obwohl die indische Patientin zugibt, dass sie nur abtreibt, weil sie ein Mädchen bekommt, sagt: „Ich stelle keine Fragen, wenn Sie eine Abtreibung wollen, bekommen sie eine.“ Oft seien diese Ärzte selbst Teil der indischen Community.

Armenien hat das Problem erkannt

Dann geht die Reise nach Armenien. Es ist laut den Recherchen der Filmemacherinnen das erste Land in Osteuropa, das das Problem der geschlechtsspezifischen Abtreibung erkannt hat und sogar aktiv wird. Schon Ende der 90er fällt auf, dass etwas nicht stimmt. Auf 116 Jungen kommen 100 Mädchen. Heute ist es kaum besser.

Die Regierung will die Zahl der Töchter mit staatlichen Zuschüssen steigern. Und es gibt Kurse von der Hilfsorganisation World Vision: In einem Raum sitzen die Männer mit ihren Frauen. Ihre Hände werden mit einem orangefarbenen Band verbunden. Hier sollen sie lernen, dass Mann und Frau gleich sind. Und auch wenn einige Männer zunächst nur mitgekommen sind, weil es bei Teilnahme kostenlose Kinderkleidung gibt, lernen sie dazu.

Teilnehmer Artur sagt: „Wir haben gelernt, uns zu lieben und mehr aufeinander zu hören, früher hatte nur ich immer recht und traf alle Entscheidungen.“ Nun hilft Artur auch im Haushalt mit. Beim Besuch in ihrer kleinen Wohnung spielt er sehr liebevoll mit seiner Tochter. Seine Frau Susanna sagt: „Es macht nichts, dass das Kind ein Mädchen ist, ist auch ein Kind.“ Liebevoll klingt anders. Spätestens, als sie zu ihrem Sohn geht und sagt: „Ich selbst mag Jungs. Es ist einfach so“, weiß man, dass es noch ein ziemlich langer Weg ist, bis die Mädchen dort genauso willkommen sind wie die Jungs.

„Hauptsache ein Junge“, 11. November um 20.15 Uhr auf 3sat oder direkt in der Mediathek

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