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Nur 28.000 Betten - auf Deutschlands Intensivstationen wird es eng

„60 bis 70 Prozent der Bevölkerung könnten infiziert werden“

Angesichts der raschen Ausbreitung des Coronavirus hat sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Bundespressekonferenz geäußert. 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung könnten infiziert werden, sagte Merkel unter Berufung auf Experten.

Quelle: WELT / Matthias Heinrich

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Angesichts rasant steigender Fallzahlen durch das neuartige Coronavirus wächst die Sorge vor einer Überlastung des deutschen Gesundheitssystems. Zwar verfügt Deutschland über 28.000 Intensivbetten, doch im Ernstfall drohen harte Entscheidungen.
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Geisterspiele im Fußball, Verzicht auf Urlaubsreisen, Arbeiten von zu Hause aus, Hamsterkäufe. Das Coronavirus greift schon jetzt stärker in den Alltag ein, als das für die meisten Bürger noch vor drei oder vier Wochen vorstellbar gewesen wäre.

Bisher sind laut offiziellen Angaben in Deutschland 1296 Menschen an der Lungenkrankheit Covid-19 erkrankt, die durch das neue Virus ausgelöst wird. Drei der Patienten sind daran gestorben.

Noch kann das deutsche Gesundheitssystem diesen Ausbruch stemmen. Doch die Sorge darüber, dass die Epidemie mit rasant steigenden Fallzahlen außer Kontrolle geraten könnte, wächst. „Wir müssen alles dafür tun, dass es nicht zu solchen drastischen Maßnahmen wie in Italien kommt“, warnte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) am Mittwoch im Deutschlandfunk.

Das Coronavirus sei gerade für die über 65-Jährigen gefährlich, insbesondere wenn Vorerkrankungen bestehen. Denn diese benötigten Intensivmedizin und möglicherweise später Beatmung, sagte Spahn. Genau in diesem Bereich sei ein Engpass zu vermeiden. Deswegen müsse man den Verlauf der Erkrankung verlangsamen. Nur so könne das Gesundheitssystem damit umgehen.

Wie rasant sich die Lage verschlechtern kann, zeigt der Blick nach Italien. Die Mathematik des Coronavirus-Ausbruchs dort ist gnadenlos: Über 10.149 Menschen sind bislang in Italien erkrankt, gut 2000 mehr als noch am Tag davor, 3400 mehr als noch vor zwei Tagen. Bislang verläuft der Ausbruch trotz der Sperrmaßnahmen exponentiell.

Erschreckend paralleler Verlauf

Einem Bericht eines WHO-Untersuchungsteams zufolge, das die ersten Daten des Ausbruchs im chinesischen Wuhan auswertete, erkranken etwa fünf Prozent der Covid-19-Patienten so stark, dass sie Beatmungstherapie benötigen. Ihre Lungen können ohne mechanische Hilfe nicht genügend Sauerstoff für Niere, Leber und Herz bereitstellen, unbehandelt sterben sie an Organversagen.

In Italien scheinen sogar noch mehr Patienten Intensivpflege zu benötigen. Laut Medienberichten waren bereits am Montag mehr als 440 Patienten in Intensivbehandlung. Somit gerät das italienische Gesundheitssystem schon jetzt an seine Grenzen.

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Entsprechend klingt wie eine Szene aus einem Katastrophenfilm, was Antonio Pesenti, Leiter der lombardischen Kriseneinheit für Intensivtherapie für Covid-19-Erkrankte, der italienischen Zeitung „Corriere della Sera“ im Interview berichtet:

„Aktuell sind wir gezwungen, Intensivpatienten auf dem Korridor, in Operationssälen oder Aufwachräumen zu behandeln. Wir haben ganze Krankenhausstationen für die Behandlung der Infizierten geräumt.“ Das Gesundheitssystem der Lombardei sei kurz vor dem Zusammenbruch. Schon jetzt könne man nicht mehr alle beatmungspflichtigen Patienten behandeln. Die Zahl der Intensivbetten reiche bei Weitem nicht aus.

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Bislang verläuft der Ausbruch in Italien und Deutschland erschreckend parallel. Legt man die Kurven der neu diagnostizierten Fälle pro Tag aus beiden Ländern übereinander, liegt Deutschland noch etwa anderthalb Wochen zurück. Doch die Verlaufszahlen gleichen sich.

Schon jetzt regionale Betten-Engpässe

Sollte sich dieses Muster so fortsetzen, könnten stark betroffene Regionen in Deutschland wie etwa Nordrhein-Westfalen in etwa zwei Wochen vor einem ähnlichen Engpass stehen wie aktuell die Lombardei.

Zwar hat Deutschland mit gut 0,3 pro 1000 Einwohner die höchste Zahl an Intensivbetten weltweit. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), der Dachverband der deutschen Krankenhausträger, bestätigte auf Anfrage, dass es auf den Intensivstationen deutscher Krankenhäuser insgesamt 28.000 Intensivbetten gibt. Doch wie viele davon für Covid-19-Patienten kurzfristig frei sind, ist auch für die DKG-Experten unklar: „Natürlich wissen wir nicht, wie viele Intensivbetten derzeit belegt sind.“

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In sozialen Medien warnen Praktiker aus den Krankenhäusern längst vor Engpässen. Denn die meisten dieser 28.000 Betten sind belegt – das durch diverse Reformen optimierte deutsche Gesundheitssystem erlaubt es Krankenhäusern nicht, teure Intensivbetten über den Alltagsbedarf hinaus in großer Zahl bereitzuhalten.

Dass das schon jetzt zu Problemen führen kann, machte ein junger Intensivmediziner aus München deutlich, der am Dienstagabend einen Screenshot aus dem internen Belegungssystem Ivena der Münchner Notfallleitstelle veröffentlichte: Dort war um 21 Uhr genau eine von 15 Münchner Intensivstationen mit freien Kapazitäten gemeldet. Der Rest war wegen Vollbelegung geschlossen.

Punktesystem entscheidet über Leben

In seinem Beitrag warnte der Arzt, dass die Münchner Krankenhäuser bislang nicht damit begonnen hätten, sich auf eine Ausweitung der Coronavirus-Epidemie vorzubereiten. Er wandte sich per Facebook direkt an den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU):

„Nach Rücksprache mit betroffenen Kollegen in Norditalien ist davon auszugehen, dass wir in den kommenden Tagen und Wochen einen extremen Anstieg an intensivpflichtigen Covid-19-Erkrankten haben werden. Wie genau sollen die versorgt werden?“

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Das Bild ist nur eine Momentaufnahme, bislang ist in München noch kein Coronavirus-Patient auf einer Intensivstation gelandet. Doch es zeigt die Realität in deutschen Kliniken. Wobei gerade in der Intensivmedizin die Planung ohnehin schwierig ist – und im Krisenfall an ihre Grenzen stößt.

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„Die Intensiv- und Notfallmedizin kann nur mit wahrscheinlichen Szenarien arbeiten. Jederzeit für jeden Eventualfall vorbereitet zu sein wäre exorbitant teuer. Das hat auch nichts mit dem bestehenden Kostendruck im Gesundheitswesen zu tun“, erklärt Joachim Winter, Professor für empirische Wirtschaftsforschung und Gesundheitsökonom an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Sind die Kapazitäten knapp, werden Patienten in der Intensivmedizin nach ihrem Behandlungsbedarf eingeordnet, im medizinischen Fachjargon „Triage“ genannt. Dabei kommen sogenannte Scoring-Systeme zum Einsatz.

Im Normalfall werden dabei je nach Schweregrad der Erkrankung Punkte vergeben – für Zeichen von Organversagen, für Sepsis-Blutwerte, für niedrigen Sauerstoffgehalt im Blut. Die Patienten mit der höchsten Punktzahl gelten als besonders kritische Fälle und bekommen in der Regel ein Intensivbett.

„Laufen auf heftigen Engpass zu“

Doch im Falle einer Epidemie, wo binnen kurzer Zeit sehr viele – und schnell eben auch zu viele – solcher Betten benötigt werden, sehen die internationalen Leitlinien für die Intensivmedizin erweiterte Regeln vor. Dann nämlich müssen die Intensivmediziner entscheiden, welche Fälle so schwer erkrankt sind, dass sie vermutlich ohnehin nicht überleben werden – etwa weil sie zum Beispiel sehr alt sind und bereits multiple zusätzliche Krankheiten haben.

Diese Patienten werden dann oftmals nicht mehr intensivmedizinisch behandelt, weil die knappen Intensivkapazitäten für Erkrankte mit besseren Heilungschancen verwendet werden.

Was das konkret für die überwiegend alten und multimorbiden Patienten bedeutet, die normalerweise auf Intensivstationen liegen, hat ein Team von britischen Forschern im Jahr 2009 für Großbritannien erforscht:

Demnach wären 46 Prozent der normalen Patienten auf einer Intensivstation im Pandemiefall nach den entsprechenden Richtlinien in Großbritannien nicht behandelt worden, da sie bereits zu krank waren. Insgesamt 69 Prozent dieser Patienten hätten diese Entscheidung nicht überlebt. Demnach könnten gerade solche Patienten sogar zu versteckten Opfern einer Pandemie werden.

WELT hat mit Intensivmedizinern und Pflegern in NRW, Bayern und Niedersachsen gesprochen, die unter der Bedingung, anonym bleiben zu können, vom Alltag auf ihren Stationen berichten: „Triage betreiben wir bereits jetzt, denn Intensivbetten sind immer ein knappes Gut“, sagt ein leitender Oberarzt eines Krankenhauses in NRW. „Wenn die Zahl der intensivpflichtigen Fälle ähnlich verläuft, laufen wir auf einen heftigen Engpass zu.“

„Ab 2. Mai keine freien Betten mehr“

Die Intensivkrankenschwester einer Lungen-Intensivstation in NRW berichtet, dass ohnehin ein gewisser Teil der deutschlandweit 28.000 Intensivbetten schon jetzt nur in der Theorie belegbar ist: „In der Praxis fehlt es dafür jedoch an Pflegekapazitäten, deswegen werden diese Betten im Alltag nicht belegt. Insbesondere Kräfte mit der notwendigen Qualifikation für Intensiv- und Beatmungstherapie sind knapp.“

Ähnliches berichtet eine Oberärztin aus Bayern: „Der echte Engpass ist nicht die Intensivbetten-Kapazität, sondern der Pflegemangel.“ Laut einer Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts, die zum Jahreswechsel veröffentlicht wurde, sind deutschlandweit rund 17.000 Pflegestellen nicht besetzt.

In anderen Ländern sieht die Lage ähnlich aus. Selbst in den USA – die laut einem internationalen Report unter 195 Staaten sogar als das am besten für eine Pandemie gerüstete Land gelten – wächst die Sorge, dass Covid-19 das Gesundheitssystem in die Knie zwingen könnte.

„Wenn etwa 20 Prozent der Erkrankten ins Krankenhaus müssten – das entspricht ungefähr der Rate, die Forscher für die erste Ausbruchsregion Wuhan in China errechnet hatten –, dann hätten wir ab dem 2. Mai keine freien Betten mehr“, warnte Liz Specht, eine frühere Biochemikerin der Johns-Hopkins-Universität, kürzlich in einem viel geteilten Beitrag auf Twitter. „Sollten es nur fünf Prozent sein, kämen wir bis zum 14. Mai hin.“

Ähnliche Rechenbeispiele könne man auch für die Zahl der verfügbaren Masken, für Beatmungsgeräte oder Kochsalzlösungen anstellen. Das Ergebnis sei stets dasselbe: „Die bereits ergriffenen Maßnahmen sind das Minimum dessen, was wir tun sollten, um den drohenden Höhepunkt in den Fallzahlen so weit wie nur möglich nach hinten zu verschieben, sodass die Gesundheitssysteme weniger belastet werden“, so Specht.

Jeder Tag, um den sich ein weiterer Krankheitsfall nach hinten verschiebe, sei in dieser Situation „ein Gewinn für das Gesundheitssystem“.

Wie das Coronavirus die Wirtschaft weltweit lähmt

Das Coronavirus infiziert die Wirtschaft. Der britische Charterflieger FlyBe musste bereits Konkurs anmelden. Die Lufthansa hat ihren Flugplan kurzfristig um die Kapazität von rund 150 Flugzeugen gestutzt.

Quelle: WELT

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