Infektionsrisiko bei Kindern :
Der Konflikt mit dem Pieks

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Eine zugelassene Impfung schützt Kinder vor der Infektion, trotzdem wird sie von der Ständigen Impfkommission nicht für alle Kinder empfohlen.
Immer wieder sterben Kinder an Infektionen mit Meningokokken B – kürzlich erst in Südhessen. Durch eine Impfung könnte man sie schützen. Warum impft man nicht alle?

Das Thema Impfen ist in Deutschland ja mittlerweile ein heikles. Die Zeiten, in denen Eltern der Wissenschaft einfach nur dankbar waren, dass es gegen tödliche Erreger nun eine Waffe gibt, sind zumindest in bestimmten Kreisen vorbei. Da denkt man nicht: Durch Impfungen schütze ich mein Kind – sondern hängt ganz anderen Ideologien an. An diesem Phänomen moderner Zeiten wird sich vermutlich so schnell auch nichts mehr ändern, trotz wieder steigender Masernfälle in Deutschland. Gerade in den vergangenen Wochen wurde bekannt: Laut Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) hat sich hierzulande die Zahl der Maserninfektionen 2017 im Vergleich zu 2016 nahezu verdreifacht. Und nicht nur das, vor einigen Tagen wurde berichtet, dass eine Jugendliche aus Guatemala nach einem Schüleraustausch in Deutschland die Viruserkrankung wieder in das mittelamerikanische Land eingeschleppt hat. Guatemala galt zuvor seit zwanzig Jahren als frei von Masern.

Doch nicht nur die Masernimpfung kursierte dieser Tage mal wieder in den Medien, sondern auch die gegen Meningokokken B. Trauriger Anlass dafür: In Südhessen ist ein zweijähriges Kind an den Folgen einer Meningokokken-B-Infektion gestorben. Infektionen mit dem Bakterium sind in Deutschland selten, zumindest die dramatischen Fälle, invasive Meningokokken-Infektionen genannt, bei denen das Bakterium schwerste Hirnhautentzündungen hervorruft, ins Blut übertreten kann und eine Sepsis auslöst.

In Deutschland erkrankten laut RKI in den Jahren 2013 bis 2016 im Mittel jährlich 315 Personen an invasiven Meningokokken-Infektionen, davon 211 an Infektionen durch Meningokokken der Serogruppe B. Rund fünf bis zehn Prozent dieser Infektionen verlaufen tödlich. Am häufigsten betroffen von dieser Erkrankung sind Kinder in den ersten Lebensjahren. Einen zweiten Gipfel gibt es bei Jugendlichen. Die Erkrankungsrate ist in den vergangenen Jahren aber rückläufig; warum und wie lange dieser Trend anhält, wissen auch Experten nicht.

Meningokokken - gegen den Typ C des Bakteriums werden alle Kinder geimpft, beim Typ B herrscht noch Zurückhaltung.
Meningokokken - gegen den Typ C des Bakteriums werden alle Kinder geimpft, beim Typ B herrscht noch Zurückhaltung.Science Photo Library

Eine zugelassene Impfung schützt Kinder vor einer solchen Infektion, trotzdem wird sie von der Ständigen Impfkommission (Stiko), die in Deutschland dafür zuständig ist, allgemeine Impfempfehlungen auszusprechen, nicht für alle Kinder empfohlen, sondern nur für solche mit einem Immundefekt. Und auch in deutschen Kinderarztpraxen herrscht durchaus Zurückhaltung bei der Beratung der Eltern, ihr Kind gegen Meningokokken B impfen zu lassen, obwohl zahlreiche Krankenkassen die Impfung auch Kindern ohne Immundefekt bezahlen.

Eine solch unklare Situation befeuert Vorbehalte bei Eltern gegenüber Impfungen, gerade in Zeiten, in denen Impfgegner mit allen Mitteln versuchen, ihre Botschaften unters Volk zu bringen.

Größere Heilungschancen

Gegen den Meningokokken-C-Stamm gibt es schon seit 2006 eine für alle Kinder empfohlene Schutzimpfung, die auch in den offiziellen Impfkalender aufgenommen ist. Meningokokken des Stamms C verursachen aber in unseren Breiten nur rund 30 Prozent der Meningokokken-Infektionen, rund 70 Prozent werden durch den Stamm B ausgelöst. Warum also diese Zurückhaltung gegenüber der Impfung? Der Grund scheint eine Aneinanderkettung von Konflikten zu sein – das gilt für die Stiko, die Kinderärzte und am Ende auch für die Eltern.

„Als wir Kinder- und Jugendärzte vor Jahren davon gehört haben, dass es nun eine Impfung gegen Meningokokken B geben soll, waren alle ganz euphorisch“, sagt Barbara Mühlfeld, Pädiaterin aus Bad Homburg bei Frankfurt. „Jeder Kinder- und Jugendarzt hat in seiner Ausbildung auf Intensivstationen gearbeitet und schwerkranke Kinder mit einer Meningokokkeninfektion gesehen, da freut man sich, wenn das in Zukunft zu verhindern ist.“ Außerdem lebe man als Arzt immer mit der Angst, eine solche schwer verlaufende Infektion, die meist mit unspezifischen Symptomen wie Fieber, Unruhe und Übelkeit beginnt, einmal zu übersehen. Denn das Tückische an diesen Erkrankungen ist, dass sie sich rapide verschlimmern, also innerhalb weniger Stunden. Je früher mit einer Behandlung durch ein Antibiotikum begonnen wird, umso größer sind die Heilungschancen. Doch als der Impfstoff 2013 dann tatsächlich da war, „war die Euphorie doch etwas gedämpft, und das ist bis heute so“, sagt Mühlfeld.

Was sie damit andeutet: Der Meningokokken-B-Impfstoff ist ein relativ neuer Impfstoff, etwa im Vergleich zum Masern-Impfstoff. In der Studienphase vor seiner Zulassung hat er zwar seine Wirksamkeit und Verträglichkeit gezeigt, aber trotzdem gibt es noch offene Fragen:

1. Es ist nicht klar, wie lange der Impfstoff dem Geimpften tatsächlich Schutz bietet. Ausgegangen wird im Moment von nur rund zwei Jahren.
2. Es fehlt an Erfahrung mit eventuellen Nebenwirkungen, die sich erst nach längerer Zeit zeigen können.
3. Es ist noch nicht bewiesen, ob der Impfstoff im Sinne der Herdenimmunität nicht nur die Geimpften, sondern auch die Ungeimpften schützt. Damit würde man auch seine Übertragbarkeit bremsen.
4. Die momentane Meningokokken-B- Impfung bietet vermutlich nur einen Teilschutz, bewahrt den Geimpften damit aber nicht vor allen Bakterien dieser Gattung.

In Hessen fehlt die Empfehlung

„Durch diese Situation stellt sich für uns Kinder- und Jugendärzte in der Beratung der Eltern eine ganz andere Situation dar, als wenn wir den uneingeschränkten Empfehlungen der Stiko folgen könnten. Auch aus rechtlicher Sicht“, sagt Mühlfeld. Mit rechtlich meint sie: Ist eine Impfung nicht öffentlich empfohlen und es kommt (theoretisch) zu einem Impfschaden, hat der Betroffene keinen Anspruch auf Entschädigung. Auch das ist bei der Meningokokken-B-Impfung in Deutschland von Bundesland zu Bundesland verschieden. In Sachsen und Bayern etwa ist diese Impfung von den Gesundheitsbehörden öffentlich empfohlen, damit besteht ein Recht auf Entschädigung. In Hessen etwa fehlt die Empfehlung.

Professor Ulrich Heininger kennt all diese offenen Fragen und Diskussionen um die Meningokokken-B-Impfung. Der leitende Arzt der pädiatrischen Infektiologie und Vakzinologie am Universitäts-Kinderspital in Basel hat sich seine positive Einstellung zu dieser Impfung aber deshalb nicht nehmen lassen. „Erst einmal haben wir hier einen guten Impfstoff, der Todesfälle bei Kindern verhindern kann, weshalb ich ihn allen Eltern empfehlen würde, die ihr Kind davor schützen möchten.“ In seiner Heimat, der Schweiz, die nicht Mitglied der EU ist, ist der Impfstoff noch gar nicht auf dem Markt. Heininger kennt aber zahlreiche Eltern, die sich ein Privatrezept ausstellen lassen, um den Impfstoff für ihre Kinder in Deutschland zu holen.

Mit den offenen Fragen zur Impfung geht der Professor pragmatisch um: „Wenn sich herausstellt, dass der Impfstoff tatsächlich nur zwei Jahre wirkt, dann muss man den Kindern eben eine Auffrischimpfung geben.“ Auch die Diskussion um die Nebenwirkungen sieht er gelassen. Ein paar Tage Fieber nach der Impfung stünden in keinem Verhältnis zu der Schwere der Erkrankung, vor der die Impfung schütze. Und auch das Risiko für ernste, unentdeckte Nebenwirkungen schätzt er als gering ein. Es sei abzuwägen gegen die Wahrscheinlichkeit, mit der das Kind an Meningokokken-B-Bakterien erkranke. Aber Pädiater Heininger hat auch Verständnis für seine deutschen Kollegen: „Es ist für sie ein Konflikt. Sie sind verpflichtet, über alle verfügbaren Impfungen aufzuklären, auch wenn sie nicht durch die Stiko empfohlen wurden, und am Ende bleibt das Gefühl: Es gibt einen gut wirksamen, zugelassenen Impfstoff, der offiziell nicht empfohlen wird. Das ist eine Kluft!“

Und auch der Konflikt, in dem die Stiko steckt, ist Heininger bewusst. Eine individuelle Impfberatung für Eltern ist etwas anderes, als eine nationale Impfempfehlung auszusprechen. „Diese muss Kritik standhalten. Sie lässt das einzelne Schicksal außer Acht und schiebt das öffentliche Interesse in den Mittelpunkt. Außerdem muss am Ende ein günstiges Kosten-Nutzen-Verhältnis entstehen.“

Auch Professor Rüdiger von Kries spricht am Telefon von einem ethischen Dilemma, in dem die Stiko sich in Bezug auf die Meningokokken-B-Impfung befinde. Von Kries ist Mitglied der Stiko und Leiter der Abteilung Epidemiologie am Institut für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München. „Als Stiko möchte man der Bevölkerung Segensreiches nicht vorenthalten, aber man will ihr auch nichts zumuten, bei dem man sich über den Nutzen für die Allgemeinheit nicht ganz sicher ist.“

Ernsthaftere Komplikationen sind sehr selten

Dann redet er vom Benefit für alle, von Evidenzen, fehlenden Daten, von der Frage, wie hoch die Kosten sein dürften, damit der Nutzen noch gerechtfertigt sei. „Bei sehr niedrigen Krankheitszahlen geht es außerdem um die ethische Frage: Wie viele Kinder durch die Impfung gerettet werden müssen, damit eine allgemeine Empfehlung gerechtfertigt ist – eine Impfung ist schließlich weder für Eltern noch Kind ein Vergnügen.“ Immer könne es zu Nebenwirkungen wie Schwellungen und zu Schmerzen an der Einstichstelle oder zu Fieber kommen. Ernsthaftere Komplikationen seien hingegen sehr selten.

Eine besonders große Rolle für die Stiko spielt bei der Entscheidung auch die Tatsache, dass der Impfstoff – Stand heute – nur den Geimpften schützt, aber nicht alle anderen. Eine nachgewiesene Herdenimmunität wäre einer offiziellen Empfehlung sicherlich dienlich.

Viel Hoffnung setzen Wissenschaftler wie Kries deshalb in Daten aus England. In England ist die Erkrankungsrate an Meningokokken deutlich höher als in Deutschland, deshalb werden dort seit einigen Jahren alle Säuglinge geimpft. „Wir hoffen, dass diese Daten, die voraussichtlich in den kommenden zwei, drei Jahren veröffentlicht werden, einige unserer offenen Fragen beantworten werden“, sagt von Kries. Bis dahin halte die Stiko aber an ihrer Aussage fest, aufgrund der Evidenzlage und einer niedrigen Meningokokken-B-Krankheitslast in Deutschland keine allgemeine Empfehlung auszusprechen, diese Entscheidung aber im Fall weiterer Daten neu zu bewerten. Dann fügt von Kries noch an: „Aber nur, weil die Stiko es nicht empfehlt, handelt es sich für den Einzelnen ja um keinen schlechten Impfstoff. Nach individueller Nutzen-Risiko-Abwägung kann mit jedem in Deutschland zugelassenen Impfstoff geimpft werden. Bei der Entscheidung, ob alle geimpft werden sollten, müssen wir nur auch andere Dinge im Blick haben.“

Das Pharmaunternehmen Glaxosmithkline gibt auf Nachfrage übrigens bekannt, dass vom Meningokokken-B-Impfstoff Bexsero seit Markteinführung über 800 000 Dosen nach Deutschland ausgeliefert wurden. Weltweit belaufe sich die Zahl auf über 15 Millionen.

Wie viele es im kommenden Jahr werden, liegt am Ende wohl auch an den Eltern. Da sind sich alle Experten dann doch einig, und es heißt ziemlich einhellig: Wir können beraten und aufklären, aber ob und wie man sein Kind schützen will und welche Risiken mehr Relevanz für den Einzelnen haben, das können nur die Eltern selbst entscheiden.

Eine Aussage, die ohne Zweifel richtig ist, manche Väter und Mütter aber auch in einen Konflikt bringen kann.