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LVZ-Interview

Mordfall Sophia: Cousine des Opfers kritisiert Untätigkeit der Polizei

Sophias Cousine sagte am 30. Juli beim Mordprozess am Bayreuther Landgericht im Zeugenstand aus.

Leipzig/Bayreuth. Im Mordprozess Sophia hat die Cousine der Studentin in dieser Woche schwere Vorwürfe gegen die Leipziger Polizei erhoben. Die Beamten hätten tagelang nicht auf Bitten reagiert, aktiv nach der Vermissten zu suchen. Im Interview mit der LVZ erzählt Klara Charlotte Zeitz (34) von Vertrauen, das verloren ging, von der Suche auf eigene Faust und sie stellt Forderungen an die Behörden, was sich ändern muss, damit es anderen nicht auch so ergeht.

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Als Zeugin im Prozess haben Sie detailliert beschrieben, wie die Leipziger Polizei tagelang untätig blieb. Sophias Eltern mussten in Bayern ähnliche Erfahrungen machen. Was lief da schief?

Klara Charlotte Zeitz: Der Fall Sophia wird häufig nur mit den Attributen „Tramperin“ und „Marokkaner“ verknüpft und so als Einzelfall dargestellt. Das aber jede andere Frau bisher auch mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht sofort gesucht werden würde, bleibt außen vor. Es geht hier auch um ein grundsätzliches Problem. Damit die Polizei sofort aktiv handelt, muss Gefahr in Verzug oder ein Fremdverschulden nachgewiesen werden. So etwas ist natürlich von Fall zu Fall unterschiedlich interpretierbar. Die Beamten haben dafür eine Anleitung, die Polizeidienstvorschrift (PDV), in welcher grob Faktoren aufgelistet sind. Diese auf den konkreten Fall anzuwenden obliegt dem jeweils diensthabenden Beamten. Wir haben im Fall Sophia erlebt, dass die Polizei erstmal abwartet, ob die Vermisste nicht von selbst zurückkommt. Dabei vergeht wertvolle Zeit, die Leben retten könnte.

Was müsste sich denn im Ablauf ändern, damit schneller gesucht werden kann?

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Die Faktoren in der Dienstvorschrift müssten klarer und genauer definiert werden und dazu ein Gesetz für alle Bundesländer erlassen werden – damit diese überall gelten. Solche Entscheidung kann allerdings nur die Innenministerkonferenz treffen. Außerdem muss die Kommunikation zwischen den einzelnen Bundesländern verbessert werden.

„Es kamen Sätze wie »Die macht sich einfach eine schöne Zeit im Süden«“

Sie sind ja schon beim Versuch, eine Vermisstenanzeige aufzugeben, mehrfach gescheitert.

Das stimmt. Meine Erfahrung war, dass eine ernsthafte Prüfung des Vermisstenstatus absolut von Tagesverfassung, Empathie und Ausbildungsgrad des Beamten abhängt. Außerdem schienen die Polizisten oft überfordert. Ihre Aussagen uns gegenüber waren zum Teil erschreckend. Ich denke, es sollte Kommunikationsschulungen für die Beamten geben. Das betrifft den Austausch untereinander, aber auch den Kontakt zu den Angehörigen. Letzteres war bei uns in Leipzig eine Katastrophe.

Inwiefern?

Weil keine Kommunikation stattfand. Auch nach Gründung der Sonderkommission noch nicht. Wenn überhaupt, dann kamen nur vorwurfsvolle oder vorurteilsbehaftete Sätze wie: „Ich bin doch nicht der Angehörigenbeauftragte.“ Oder: „Die macht sich einfach eine schöne Zeit im Süden.“ „Bestimmt ist sie betrunken irgendwo in einer Ecke und taucht bald wieder auf.“ Wir als Familie haben alle Fakten im Fall auch nur aus den Medien erfahren, die immer schneller mit ihrer Recherche und Berichterstattung waren als die Polizei.

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Dass Medien heute schneller berichten, ist aber nicht Schuld der Polizei …

Man kann aber nicht mehr darauf warten, dass Entwicklungen erst am nächsten Tag in der Zeitung stehen. Die Polizei, zumindest in Leipzig, ist definitiv nicht auf dem Stand der neuesten Technik und Kommunikationsmethoden. Da bereitet ja selbst die Auslesung eines iPhones oder der Umgang mit Messenger-Diensten wie Telegram schon Probleme.

„Man fühlt sich allein gelassen“

Wann kam der Moment, an dem Sie dachten: Uns wird nicht geholfen, wir müssen jetzt selbst suchen?

Das habe ich nicht allein entschieden. Als ich am Freitag, einen Tag nach Sophias Verschwinden, zwei Mal bei der 110 in einer langen Warteschleife landete, war ich noch geschockt. Als ich beim dritten Mal anrufen dann endlich jemanden am Telefon hatte und fragte, wieso es so lange dauert, hieß es: Sie seien unterbesetzt. Wir sind dann am Freitagabend, 24 Stunden nach Sophias Verschwinden, zum Hauptrevier in die Leipziger Dimitroffstraße gefahren und wollten unsere Erkenntnisse zu Startpunkt und Startzeit von Sophia am Schkeuditzer Kreuz zu Protokoll geben. Der Beamte am Schalter meinte jedoch, er sei nur Wachmann und dass kein Polizist im Haus, der Angaben aufnehmen könnte. Als ich auch am folgenden Samstag auf dem Hauptrevier wieder wegen anderer Zuständigkeiten abgewiesen wurde, verlor ich das Vertrauen. Und als mir schließlich eine Beamtin Samstagnacht – zwei Tage nach Sophias Verschwinden – erklärte, die Zuständigkeiten zwischen Sachsen und Bayern könnte erst am Montag geklärt werden, wenn alle wieder im Büro sind, war ich fassungslos. Außerdem wäre es ohnehin gerade ein höchst ungünstiger Zeitpunkt. Denn es war ja Fußball-Weltmeisterschaft. Man fühlt sich dann allein gelassen und rechnet: Montag wäre schon Tag vier nach Sophias Verschwinden. Wir mussten einfach handeln.

Wie sah die Suche auf eigene Faust aus?

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Wir haben uns in unterschiedliche Teams eingeteilt. Ein Team ist die komplette A9 und Teile der A4 von zwei Richtungen abgefahren, hat auf Rastplätzen und Tankstellen Flyer in elf verschiedenen Sprachen aufgehängt, mit LKW-Fahrern und Mitarbeitern gesprochen. Waldstücke wurden durchsucht, am Schluss in Bayern gemeinsam mit der Polizei. Ein zweites Team hat übersetzt, Flyer erstellt und in alle Netzwerke national und international verteilt, Recherchearbeit übernommen, bei Speditionen, Krankenhäusern, Mobilfunkanbietern, Fähren, Forstwirtschaften, Bahnhöfen, Supermärkten entlang der Strecke angerufen. Ein weiteres Team hat die Organisation und Verpflegung der Gruppe übernommen. Wir hatten dabei unglaublich viel Unterstützung. Ohne diese Gemeinschaft hätten wir nichts erreicht.

Gab es irgendwann auch Unterstützung durch die Leipziger Polizei?

Ja, die gab es auch. Zwei Polizisten waren in Schkeuditz an der Raststätte, zwei am Hermsdorfer Kreuz. Die haben Empathie gezeigt und geholfen. Das waren aber Entscheidungen von Einzelpersonen. Es gab jemanden, der hat entschieden: Jetzt fährt da ein Streifenwagen nach Schkeuditz raus und diese beiden Polizisten haben uns geholfen, den Tankstellenwart von einer Sichtung der Videobänder zu „überzeugen“. Ab Samstagnachmittag lagen somit die Informationen zum gesuchten Lkw, zum Fahrer und zum Kennzeichen schon vor. Trotzdem startete immer noch keine aktive Suche der Behörden. Man bat uns vielmehr, die Polizei in Bayern zu kontaktieren, damit dort gesucht wird. Das wurde nicht intern geregelt. Wenn die Zusammenarbeit zwischen den Bundesländern schon nicht funktioniert, wie soll das dann europaweit oder weltweit funktionieren?

Vier Tage, bis Zuständigkeiten geklärt waren

Was ja in diesem Fall auch nötig gewesen wäre. Der Angeklagte fuhr anschließend nach Frankreich, danach nach Spanien. Dort wurde Sophias Leiche gefunden.

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Es ist für mich absolut nicht nachvollziehbar, dass die Exekutive in den einzelnen Bundesländern noch so unterschiedlich funktioniert und in der Zwischenzeit ein Lkw-Fahrer über mehrere Tage durch Europa fahren kann, obwohl er letztlich sogar mit dringendem Tatverdacht zur Fahndung ausgeschrieben war. Trotz Videoüberwachung auf den Autobahnen, Rastplätzen und Tankstellen, trotz des Mautsystems. Man muss sich das vorstellen: Erst vier Tage nach dem Verschwinden von Sophia und zwei Tage nach Übermittlung der Daten des Fahrers an Interpol und Bundeskriminalamt, wurde die Zuständigkeit der Suche geklärt. Obwohl diese Zuständigkeit gesetzlich ausdrücklich definiert wird: am letzten Aufenthalts- oder Wohnort der vermissten Person. Das war in Leipzig.

Die Rechtsmedizinerinnen gehen von einem Todeszeitpunkt zwischen Samstag und Sonntag aus. Was denken sie heute, wenn sie das hören?

Wir gehen schon länger davon aus, dass sie nicht schon am Donnerstag getötet wurde. Dennoch ist das bisher nur Spekulation. Immerhin wurde inzwischen herausgearbeitet, dass es zwei Tatwaffen gab. Und wenn es zwei Tatwaffen gab, dann gab es auch eine Zeit dazwischen, in der Sophia ja nachweislich gefesselt war. Es bringt sie nicht zurück, dennoch heißt ein späterer Todeszeitpunkt auch, dass sie bei sofortigem Handeln der Behörden hätte gerettet werden können. Das hilft Sophia zwar nicht mehr, aber diese Erkenntnis hilft hoffentlich der nächsten Vermissten.

Was erwarten sie vom Prozess gegen den Angeklagten Boujemaa L.?

Ich hoffe auf eine faire Verurteilung des Täters.

Was meinen Sie mit fair?

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Dass der Täter die Strafe für das bekommt, was er getan hat. Und das am Ende des Prozesses Klarheit über den Tathergang besteht. Aber meine Gefühle dazu sind privat. Mein Fokus liegt darauf, dass andere Mädchen und Frauen so etwas nicht mehr erleiden müssen. Deshalb muss sich jetzt etwas ändern, die Versäumnisse aufgearbeitet werden und die Polizei und Innenminister handeln.

Von Matthias Puppe

LVZ

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