Zehn Jahre nach dem Amoklauf Seit Winnenden kämpft Roman Grafe für ein Waffenverbot – und erhält dafür Morddrohungen

Seit dem Amoklauf von Winnenden engagiert sich Roman Grafe für ein Verbot von Sportwaffen, rechts die Karte zeigt Sportwaffen-Opfer seit 1990 laut den Recherchen seiner Organisation
© R. Grafe/Sportmordwaffen.de
Das neue Buch "Spaß und Tod" behandelt nicht nur Amokläufe in Deutschland und die Entwicklung des Waffenrechts, sondern auch, warum Politiker sich mit Betroffenheit begnügen, anstatt sich mit der Sportschützenlobby anzulegen.

Mehr als 200 Menschen sind in Deutschland seit 1990 von Sportschützen erschossen worden, sagt Journalist und Buchautor Roman Grafe. Er hat zehn Jahre nach dem Amoklauf von Winnenden ein Buch geschrieben. Er schildert nicht nur Amokläufe in Deutschland und die Entwicklung des Waffenrechts, sondern auch, warum Politiker sich mit Betroffenheit begnügen, anstatt sich mit der Sportschützenlobby anzulegen. 

Sie haben nach dem Amoklauf von Winnenden die Initiative "Keine Mordwaffen als Sportwaffen!" gegründet. Zehn Jahre sind vergangen. Jetzt veröffentlichen Sie ein Buch mit dem provokanten Titel "Spaß und Tod".

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Zuerst sollte dieses Buchkind anders heißen. In den vier Jahren Schreibzeit ist mir klargeworden, was der Kern des Konflikts ist: Schießen mit scharfen Waffen macht Spaß, sagen die Schützen. Und riskieren damit den Tod weiterer Sportwaffen-Opfer. Das tut ihnen nicht weh, jedenfalls nicht so sehr, dass sie auf ihr tödliches Spaß- und Spielzeug verzichten. Sie nennen ihre Pistolen und Gewehre "Sportgeräte". Und die Gesellschaft lässt das zu. "Vom Sportwaffen-Wahn", lautet der Untertitel des Buches.

Wenn man Ihr Buch liest, hat man den Eindruck, dass sich seit dem 11. März 2009 in Deutschland so gut wie nichts geändert hat: Nach Amokläufen ist die Betroffenheit erst einmal groß, Politiker finden tröstende Worte für Angehörige, aber dann ändert sich wenig. Oder ist das zu verkürzt?

Kurz gesagt war es so, genauer betrachtet ist es schlimmer: Selbst die tröstenden Worte erscheinen im Nachhinein verlogen. Wie tief war denn das oft bekundete "tiefe Mitgefühl", wenn die Verantwortlichen danach nicht alles tun, um den Horror und das Leid eines solchen Schulmassakers künftig zu vermeiden? Als Hinterbliebene aus Winnenden forderten, dass der Zugang zu Waffen eingeschränkt wird, antworteten die Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien, man nehme das "sehr ernst". Ein paar Wochen später stand fest: Sportschützen dürfen weiter tödliche Waffen besitzen. So ist es bis heute, das Risiko weiterer Legalwaffen-Morde ist unvermindert.

Nach dem Amoklauf von Winnenden wurde die Altersgrenze für das Schießen mit großkalibrigen Waffen angehoben. Waffen und Munition müssen sicher und getrennt voneinander aufbewahrt werden. Waffenbesitzer müssen sich gefallen lassen, dass die Behörde sie "verdachtsunabhängig" zu Hause kontrolliert. Reicht das oder ist das reine Kosmetik? 

Das sind billige Beruhigungspillen, Schlafsand fürs Volk. An den Voraussetzungen, die das Winnender Schulmassaker ermöglicht haben, wurde nichts verändert. Die meisten deutschen Sportschützen-Mörder bewahren ihre Waffen wahrscheinlich ordnungsgemäß auf – bis zum Tattag. Und auch Kleinkaliberwaffen sind tödlich. Darauf hatte unsere Initiative bereits vor den Sportschützen-Amokläufen von Lörrach und Newtown hingewiesen, allein man wollte es nicht hören. Die Legende von der Waffenrechts-Verschärfung wird gern geglaubt. Es ist schwer, einen kollektiven Mythos zu erschüttern, wenn dieser Mythos der Beruhigung dient.

Mit einem Aufruf zur Schulverweigerung versuchte die Initiative "Keine Mordwaffen als Sportwaffen!" nach dem Winnender Amoklauf, eine wirksame Verschärfung des Waffengesetzes zu erreichen – vergebens. Hier Roman Grafe beim Verteilen des Aufrufs am 17. März 2009 vor der Max-Beckmann-Schule in Frankfurt (Main).
© Archiv R. Grafe

Stellen Sie mit Ihrer Forderung, tödliche Sportwaffen in Deutschland zu verbieten, nicht alle Schützen unter Generalverdacht? Die meisten sind doch nun wirklich friedlich. 

Zumindest haben sie noch keinen erschossen und werden es absehbar auch nicht tun. Manche haben es getan. Nicht so viele, dass alle entwaffnet werden müssten, sagen die Schützen. Zu viele, als dass die Gesellschaft weiter mit diesem tödlichen Risiko leben darf, sagen wir. Nichts spricht dafür, dass künftig kein Sportschütze seine Waffe dafür gebraucht, wofür sie hergestellt worden ist: zum Töten oder Verletzen. Doch bisher hat die Minderheit der Schützen ihr Privileg tödlicher Sportwaffen noch immer erfolgreich durchgesetzt.

Wie viele Menschen haben den Aufruf Ihrer Initiative unterschrieben? 

In den vier Jahren nach dem Winnender Schulmassaker haben rund achttausend Bürger den Appell zum Verbot tödlicher Sportwaffen unterschrieben. Danach nur noch wenige. Dabei haben mehr als 99 Prozent der Deutschen keine scharfen Sportwaffen: Nach der Datenbereinigung des Nationalen Waffenregisters hat sich Ende 2017 herausgestellt, dass nur rund 350.000 Sportschützen privat tödliche Schusswaffen besitzen.

In Großbritannien sind Faustfeuerwaffen für Privatleute tabu. Nachdem 1996 in Dunblane ein Sportschütze 16 Erstklässler und ihre Lehrerin erschossen hatte, entwaffnete die konservative Regierung ihre Bürger. Über eine Million Briten hatten mit einer Unterschriftensammlung ein solches Waffenverbot gefordert. Die Politik reagierte. Warum tun sich Politiker hierzulande so schwer, das Waffenrecht wirklich zu verschärfen? 

Die Waffen-Lobby droht seit Jahrzehnten mit ihrem Wählerpotential. Der Deutsche Schützenbund sprach 1993 in diesem Zusammenhang von "mehr als sechs Millionen Wählerstimmen". Der sich so sportlich gebende DSB marschierte schon vor dem Sportschützen-Schulmassaker in Erfurt 2002 an der Spitze der Schützen-Lobby. Und auch nach dem Amok in Winnenden kämpft der DSB bis heute für uneingeschränkten Schießspaß. Einschließlich halbautomatischer AR-15-Sturmgewehre und Glock-Pistolen mit 30-Schuss-Magazinen, obwohl das gar keine Waffen für DSB-Wettkämpfe sind. Und auch Pumpguns gehören – dank DSB – noch immer zur Ausrüstung friedlicher Sportschützen. Mit Pumpgun und 30-Schuss-Glock war auch der Erfurter Amokläufer ausgerüstet. Die Geschosse seiner Sport-Pistole haben die Körper der Opfer mit einer Geschwindigkeit von etwa 1.200 km/h getroffen. Schon ein Sechstel davon genügt, um die Haut zu durchdringen und im Körper gefährliche Verletzungen zu verursachen. So macht man es Mördern leicht. Die verantwortlichen Politiker tun mehrheitlich nichts dagegen. Sie sind den Lobbyisten hörig.

"Getötet mit Schusswaffen von Sportschützen" – Opfer-Landkarte der Sportmordwaffen-Initiative (1990 bis 2020, ohne Suizide)

Reden Sie eigentlich mit Sportschützen? Wie laufen solche Gespräche ab? 

Mit dem Chef-Propagandisten der deutschen Schützen-Lobby, DSB-Vizepräsident Jürgen Kohlheim, habe ich öffentliche Streitgespräche geführt, mehrmals in der ARD. Einmal auch mit seinem Chef, Josef Ambacher. Die beiden haben schamlos geschwindelt und gelogen. Teilweise war es grotesk. Ich habe das detailliert in meinem Buch beschrieben. Bei einer einstündigen Live-Sendung von Radio Bremen in einem dortigen Verein haben etliche Sportschützen lauthals dazwischengepöbelt, sobald ich etwas sagte. Da vergeht einem die Lust auf Gespräche. Ich habe zudem unzählige Hass-Mails von Waffenfanatikern bekommen, auch Morddrohungen. Einige Sportschützen schrieben uns, dass sie unsere Forderung unterstützten. Es waren wenige. Ein deutscher Meister verabredete sich mit mir und meinte, es sei ihm peinlich, was sein Schützen-Vizepräsident, Jürgen Kohlheim, sagt. Einmal traf ich mich mit dem Präsidenten eines Landesverbandes zum vertraulichen Gespräch. Er sagte, er sei eigentlich unserer Meinung, doch wenn er das am nächsten Tag seinen Sportschützen sagte, wäre er nicht mehr lange Präsident.

Die Opfer von Sportschützen werden in Deutschland offiziell nicht gezählt. Sie tun das. Wie viele Menschen sind es seit 1990? 

Mehr als zweihundertfünfzig Menschen wurden seitdem in Deutschland mit Waffen von Sportschützen getötet. In den zehn Jahren nach dem Massaker in Winnenden waren es mehr als achtzig. Das bedeutet, sieben Mal so viel wie in der Winnender Schule! Nur dass diese Opfer – von Schützen-Funktionären und Politikern als "bedauerliche Einzelfälle" abgetan – überregional meist keine größere Aufmerksamkeit bekamen.

Eine Schülerin aus Winnenden schrieb einen Abschiedsbrief während des Amoklaufs
© Archiv R. Grafe

Geben Polizei und Staatsanwaltschaft Ihnen bereitwillig Auskunft über die Täter und deren Waffen?

Überwiegend ja. Wobei öfter erst auf Nachfrage bekanntgegeben wird, dass die Tatwaffen von Sportschützen legal erworben wurden. Einige Anfragen der Initiative wurden verschleppt oder völlig abgeblockt. Als wäre der Waffenbesitz eine Privatangelegenheit der Täter. Die Opferzahlen und die Tätergruppen von Gewalttaten detailliert öffentlich zu dokumentieren, ist eigentlich Aufgabe der für die öffentliche Sicherheit verantwortlichen Behörden. Also der Innenministerien von Bund und Ländern, des Bundeskriminalamtes und der Landeskriminalämter. Das ist Teil der Kriminalprävention. Der frühere Referatsleiter Waffenrecht im Bundesinnenministerium Jürgen Brenneke forderte bereits 2005, die "statistische Kuschelecke für legale Waffenbesitzer zu beseitigen". In Großbritannien ist das längst geschehen.

An einer Stelle im Buch behaupten Sie, das Bundesinnenministerium würde lügen. Ist das nicht übertrieben? 

Das BMI behauptete 2014 in seiner Antwort auf eine parlamentarische Anfrage, seit dem Jahr 2000 seien 18 Menschen von Sportschützen getötet worden. Ein Zehntklässler findet in ein paar Minuten Internet-Recherche heraus, dass allein die Sportschützen-Opferzahl aus Erfurt und Winnenden bald doppelt so hoch ist. Zweitklässler wissen: 31 ist größer als 18.

Sie haben Amokläufe in Deutschland im letzten Jahrhundert recherchiert. Gibt es ein Muster? Was sind das für Täter? 

Die Motive der Täter sind so verschieden, wie sie selber. Das Warum der Tat lässt sich nie ganz klären. Das Womit, mit welchen Mitteln, steht fest: Die meisten Schusswaffen-Amokläufe wurden mit legalen Privatwaffen durchgeführt. Das gilt für alle demokratischen Staaten. Der Sportschützen-Amokläufer von Jokela in Finnland schrieb vor seinem Schulmassaker 2007 in einem Internet-Forum: "Verrücktes Land, das einem Verrückten wie mir eine Waffe gibt." Das ist das Muster.

Sportschützen-Verein Leutenbach: Hier hat der Winnender Amokläufer Tim Kretschmer das Schießen trainiert
© R. Grafe

Sie haben auch Kontakt zu Angehörigen in Winnenden. Wie hat der Amoklauf das Leben dieser Menschen verändert? 

Ihre Kinder sind tot. Die Schwester, der Bruder. Und im benachbarten Wendlingen erschoss der Amokläufer noch zwei Väter. Was das aus dem Leben der Hinterbliebenen macht, lässt sich mit wenigen Worten nicht sagen. Ein wenig von dem habe ich in meinem Buch beschrieben, ein paar Dutzend Seiten lang.

Was muss passieren, damit es keine Amokläufe mehr mit Sportwaffen gibt? 

Wenn die Mehrheit der waffenlosen Bürger das Grundrecht auf Leben genauso engagiert und machtvoll verteidigt, wie die Minderheit der Legalwaffen-Besitzer ihr Recht auf Schießfreiheit, dann gibt es keine Sportmordwaffen mehr. Die Lobbyisten sind so stark, wie Parlamentarier schwach sind. Und Parlamentarier sind so schwach, wie es ihnen ihre Wähler erlauben. Der Schlüssel zur Beendigung des Sportwaffen-Wahns liegt im Parlament. Da liegt er seit über hundert Jahren: Das Bremer Legalwaffen-Schulmassaker war 1913.

Das Interview wurde in schriftlicher Form geführt.

Roman Grafe ist Journalist, Buchautor und Filmemacher. Am Tag des Winnender Schulmassakers im März 2009 gründete er mit anderen die Initiative "Keine Mordwaffen als Sportwaffen!". Er ist Sprecher der Initiative, deren Ziel ein Verbot tödlicher Sportwaffen, egal welchen Kalibers, ist. 2010 legte Roman Grafe, gemeinsam mit Hinterbliebenen aus Winnenden, beim Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen das deutsche Waffengesetz ein. 2009 und 2016 sprach er als Sachverständiger für Waffenrecht im Deutschen Bundestag. Die "Winnender Zeitung" nannte Roman Grafe "den wohl streitbarsten Kämpfer in dieser Republik für ein strengeres Waffengesetz".

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