DFB-Debatte Mesut Özil und seine vielen Treffen mit Erdogan

Am 24. Dezember 2011 besucht Özil den damaligen türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Ankara und überreicht dabei ein von den Spielern signiertes Trikot von Real Madrid
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Seit seinem Foto mit dem türkischen Präsidenten sieht sich Mesut Özil drastischer Kritik ausgesetzt. Treffen zwischen den beiden - und Fotos davon - gab es vorher bereits einige. Die Geschichte der Treffen erzählt dabei auch etwas über die Geschichte von Mesut Özil.

Mindestens fünfmal hat er es getan. 2011, 2012, 2016, 2017 und 2018. Viermal hat es niemanden besonders interessiert. Doch nun diskutiert Deutschland seit Wochen darüber, dass Fußballer Mesut Özil sich mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan getroffen und ihm die Hand geschüttelt hat. Genauso lang versucht Deutschland zu verstehen, was Mesut Özil wohl dazu zu sagen hat, wie er sich rechtfertigt, warum, bitte, hat er sich mit Erdogan getroffen?

Zwischen all dem steht Mesut Özil, ein Özil, der eine WM-Enttäuschung verarbeitet, der sich vielleicht selbst hinterfragt, der womöglich aber auch Deutschland hinterfragt: Warum verlangt ihr schon wieder eine Erklärung von mir? Ich habe doch schon soooo häufig was gesagt: zu meinem Verhältnis zur Türkei, zu meiner Liebe zu Deutschland. Könnte er ja denken. Allein: Man weiß es nicht. Denn er sagt ja nichts. Und wer nichts sagt, dem kann man eben viele Gedanken und Worte in den Mund legen. Wenn man nichts sagt, gibt es immer Spekulationen.

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Weihnachten 2011: Ein Real-Trikot für Erdogan

Weihnachten 2011 neigt sich ein starkes Jahr für Özil dem Ende entgegen. Er ist spätestens seit der WM 2010 ein weltweiter Superstar, spielt bei Real Madrid mit Cristiano Ronaldo und wird dort als "Magier" gefeiert. An diesem Weihnachten überreicht Özil Erdogan ein vom Team signiertes Trikot von Real Madrid. Ein knappes Jahr später trifft Özil erneut auf Erdogan. Am 27. November 2012 ist der türkische Präsident in Madrid zu Gast – und Özil schüttelt ihm die Hand. Dass Özil sich mit Erdogan zeigt, ist keinem deutschen Medium ein Bericht wert. Warum auch? In der Türkei boomt gerade die Wirtschaft, sie nähert sich Europa an, es gab noch keine "Gezi-Proteste", keinen Putsch, kein Präsidialsystem, keinen türkischen Staat, der deutsche Journalisten bei ihren Recherchen einsperrt.

Am 27. November 2012 treffen sich der damalige türkische Premierminister Erdogan und Mesut Özil in Madrid
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Und auch Mesut Özil muss sich damals nicht rechtfertigen. Er hat sich da schon häufig genug zu seinen Gefühlen rund um seine Heimat geäußert. "Ich spiele für Deutschland, weil ich mich als Deutscher fühle. Gleichzeitig betone ich aber, dass ich stolz bin auf meine türkischen Wurzeln." Gesagt im August 2010 gegenüber dem Männermagazin "GQ". "Es war von Anfang an klar, dass ich für Deutschland spielen werde. Ich musste warten, bis ich nominiert wurde, danach war ich überglücklich und stolz. Wenn ich auf dem Platz stehe, bin ich immer noch stolz und bekomme Gänsehaut." Gesagt 2010 im Interview mit der "Zeit".

Türkei im Jahr 2018: Präsidialsystem und ein Erdogan, der keine Rücksicht nimmt

Im Mai 2018 ist die Lage eine andere. Erdogan baut die Türkei nach seinen Vorstellungen um, er herrscht wie ein Autokrat, hatte im Frühjahr kurzerhand neue Wahlen für den Juni ausgerufen, die Meinungsfreiheit leidet, der deutsche Journalist Deniz Yücel war in der Türkei eingesperrt, wurde unter Umständen festgehalten, die zeigen, dass die Türkei kein Rechtsstaat mehr ist. In dieser Gemengelage empfängt Özil mit seinem Nationalmannschaftskollegen Ilkay Gündogan Erdogan in London. Ausgerechnet am Tag vor der WM-Nominierung. Mit anderen Worten: Mehr Öffentlichkeit geht nicht, auch wenn sie selbst die Bilder nicht verbreitet haben. Natürlich hätten sie wissen müssen, dass die AKP die Fotos stolz veröffentlicht und natürlich hätten beide, hätte Özil ahnen können, ahnen müssen, dass es ein anderer Zeitpunkt ist als Weihnachten 2011.

Mesut Özil: Vielleicht ärgert er sich über sich selbst?

Vielleicht ärgert sich Özil nun selbst darüber. Vielleicht hat er es aber auch einfach unterschätzt. Er hat Erdogan schließlich auch 2016 und 2017 nochmals getroffen – da war die politische Lage die gleiche. Es gab den Putsch, es gab Erdogans Autokraten-Tendenzen, es gab die Yücel-Affäre.

Am 5. Januar 2016 trifft Özil in der Türkei. Türkische Medien berichten, sie hätten ein gutes Gespräch über Fußball geführt und Erdogan habe Özil weiterhin viel Erfolg bei Arsenal gewünscht. Über den Putsch natürlich kein Wort. Ende Oktober 2017 ist Mesut Özil beim Empfang zum Tag der Republik eingeladen und trifft auch Erdogan, wie unter anderem ein Foto auf der Sportseite goalbien.com zeigt. Kritische Zeitungsartikel zu den Treffen finden sich nicht, weiterhin zu belanglos erscheint die Begegnung der beiden. Niemand stellt explizit die Frage: Warum, Mesut Özil, treffen Sie sich mit diesem Recep Tayyip Erdogan?

"Ich bin kein Politiker, ich bin Sportler"

Dass es ein schwelendes Thema gab, hätte Özil ahnen müssen. Die "Bild am Sonntag" war die erste Zeitung, die eine Frage in die Richtung stellte. Im März 2017 ist das deutsch-türkische Verhältnis angespannt. Mesut Özil sagt im Interview dazu: "Ich habe sowohl Merkel als auch Erdogan schon treffen dürfen. Aber ich bin kein Politiker, sondern Sportler. Daher will ich mich dazu nicht einmischen."

Vielleicht gilt der Satz für Özil auch weiterhin. Allein, man weiß es nicht, Özil sagt ja nichts. Und vielleicht ahnt er auch, dass dieser Satz niemals mehr reichen würde. Dafür ist Özil zu groß. Sowohl bei Deutschen als auch bei Türken. Und als Sportler hat er eben den Zeitpunkt nicht mitbedacht. 

Das Treffen von Özil und Erdogan am 13 Mai 2018 in London schlägt Wellen
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Özil steckt in der Klemme. Eigentlich kennt er ja diese Situation, jahrelang wurde er gefragt, warum er die deutsche Hymne nicht mitsinge und seine Antwort von damals könnte auch symbolisch für die aktuelle Situation, für seine Zerrissenheit, stehen. "Ich kenne den Text der Nationalhymne natürlich. Jeder muss für sich wissen, ob er mitsingt. Man muss ja nicht unbedingt die Mundbewegung machen, vielleicht singt einer auch von innen. Obwohl ich nicht mitsinge, identifiziere ich mich hundertprozentig mit Deutschland."

Özil ist hin- und hergerissen, das war er schon immer. Auf der einen Seite sagt er Sachen wie 2013 bei "Goal.com": "Meine Familie und ich werden immer türkisch sein, aber ich bin in Deutschland geboren und lebe dort. Ich fühle mich wohler im deutschen Trikot." Auf der anderen Seite wundert es ihn, dass er als Deutsch-Türke bezeichnet wird. Er sei "nicht genervt, aber schon verwundert. Denn nur ich werde so bezeichnet. Bei Sami Khedira sagt keiner 'der Deutsch-Tunesier' oder bei Lukas Podolski und Miroslav Klose 'der Deutsch-Pole'. Viele vergessen, dass ich in Gelsenkirchen geboren wurde, in Deutschland aufwuchs." Was für ihn die wirkliche Heimat sei, hat er eben auch immer klargemacht: Gelsenkirchen. "Man darf nicht vergessen, wo man herkommt", sagte er 2015 der "11 Freunde".

Viele Vielleichts

Nun steht Özil also da. Mit sich und seiner Geschichte im doppelten Sinne. Sein DFB-Kollege Gündogan hat sich geäußert. Das Treffen sei eine höfliche Geste gewesen. Er wolle es nicht als politisches Statement verstanden wissen, sagte er. Bei den Auftritten auf dem Feld war zu erahnen, dass die Statements ihn nicht befreiten. Der Fehler war da. Entschuldigung hin oder her. So spielte Gündogan jedenfalls.

Özil schweigt weiter. Vielleicht ist er ganz froh darüber. Vielleicht ärgert er sich über sich selbst. Vielleicht hat er politisch sogar eine klare Meinung, nur hat Angst sie auszusprechen – in beide Richtungen. Vielleicht hat er politisch auch keine Meinung und hat Angst, dass das genauso gefährlich ist. Vielleicht hat er auch das Gefühl, genug dazu gesagt zu haben nach all den Jahren. Vielleicht ahnt er aber auch, dass die Zeit und der Zeitpunkt so bedeutend war, dass es kaum reicht, nichts zu sagen. Vielleicht hat er Angst zu verletzen, Deutschland oder die Türkei. Vielleicht ist er innerlich auch zu zerrissen, um sich darüber klar zu sein, was er denkt. Vielleicht liebt er einfach weiter beide Länder. Deutschland und die Türkei. Egal ob Merkel, Erdogan oder was auch immer.

Es sind viele Vielleichts in diesen Tagen. Aber vielleicht gibt Mesut Özil irgendwann ja auch doch noch Einblick in seine Gefühlswelt.

Im Video: "Özil im Mittelpunkt der Kritik? Unterstützer stärken ihm auf Twitter den Rücken"

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