Mediziner: Nur noch 295 Intensivbetten in Deutschland für Corona-Patienten frei

Die Kliniken in Deutschland sind überlastet. An Corona Erkrankte können kaum noch aufgenommen werden. Besonders dramatisch: Die Patienten werden immer jünger.

Eine Intensivpflegerin auf einer Covid-19-Station.
Eine Intensivpflegerin auf einer Covid-19-Station.Foto: dpa/Jens Büttner

Berlin-Wann werden sie endlich gehört? Den Intensiv- und Notfallmedizinern in Deutschland reicht es. „Es brennt. Das Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps“, sagt Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), am Freitag bei einer Pressekonferenz. „Bis Ende April rechnen wir mit mehr als 5000 Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen. Wir haben einen ungebremsten dramatischen Anstieg.“

Die Zahl der Corona-Patienten in intensivmedizinischer Behandlung hatte über Ostern erstmals seit zwei Monaten wieder die Marke von 4000 überschritten. Aktuell liegen 4474 Covid-19-Fälle auf der Intensivstationen (Stand Donnerstag), wie die DIVI bekannt gab.

Die Zahl der bundesweit freien Intensivbetten wird mit etwa 3600 angegeben. Ein Großteil dieser Betten muss allerdings für Nicht-Covid-19-Patienten frei bleiben – für Notfälle wie Schlaganfälle oder Unfallpatienten. Doch diese Kapazitäten werden knapp. „Wir sehen anhand der Zahlen, dass einige Krankenhäuser nicht mehr aufnahmefähig sind“, sagt Christian Karagiannidis, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin und wissenschaftlicher Leiter des DIVI-Intensivregisters.

Momentan seien deutschlandweit 295 Intensivbetten frei, die für Covid-19-Patienten reserviert sind. In zehn Tagen würden die Kapazitäten, bei mehr als 20.000 Neuinfektionen am Tag, komplett ausgeschöpft sein – vor allem in den Ballungszentren. Der Past-Präsident der DIVI, Uwe Janssens, erklärt, dass im Schnitt 1,3 Patienten, die an Sars-CoV-2 erkranken, einen schweren Krankheitsverlauf entwickeln. „Wir können heute voraussagen, dass wir in zehn bis 14 Tagen bis zu 370 neue Covid-19-Patienten haben werden, die intensivmedizinisch betreut werden müssen.“

Kaum noch Kapazitäten für Patienten

Diese Entwicklung bestätigt auch Steffen Weber-Carstens, wissenschaftlicher Leiter des DIVI-Intensivregisters und Mitglied der erweiterten Klinikleitung der Klinik für operative Intensivmedizin an der Charité Berlin. „Wir haben eine klare dramatische Belastungssituation. Aus diesem Grund mussten wir wieder den Notfallbetrieb einleiten“, sagt der Mediziner während der DIVI-Pressekonferenz. Bereits am Donnerstag hatte Europas größte Uniklinik angekündigt, den normalen Betrieb stark einzuschränken. Ab kommender Woche werden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wieder vermehrt auf Covid-19-Stationen eingesetzt, planbare Eingriffe werden zurückgefahren.

In Berlin ist die Auslastung der Intensivbetten mit Covid-19-Patienten in den vergangenen Tagen weiter angestiegen. Sie liegt bei 23,9 Prozent. Laut Corona-Lagebericht werden 282 Covid-19-Patienten in der Hauptstadt intensivmedizinisch betreut, 217 Menschen müssen beatmet werden. 

Als letzte Option bleibt die nationale Notfallreserve mit 10.000 zusätzlichen Intensivbetten. Allerdings würden die Kliniken gezwungen, in einen katastrophenähnlichen Zustand zu gehen. „Damit werden wir Triage-Situationen zwar verhindern können. Patientinnen und Patienten werden nicht alle qualitativ betrachtet die gleiche intensivmedizinische Behandlung bekommen können“, so Weber-Carstens.

Dramatische Verjüngung der Covid-19-Patienten

Nicht nur die stetig steigende Zahl der Patienten, sondern vor allem die veränderte Altersstruktur der Covid-19-Erkrankten beunruhigt die Mediziner. „Wir stellen eine dramatische Verjüngung der Patienten fest. Etwa ein Drittel sind zwischen 35 bis 59 Jahre alt“, sagt Weber-Carstens. Ein weiteres Drittel sei zwischen 60 und Ende 60. Die Patienten seien deutlich schwerer erkrankt und würden viel länger auf den Intensivstationen versorgt werden müssen als ältere Patienten. Zurückzuführen sei das auf die Ausbreitung der britischen Corona-Mutante B.1.1.7.

„Wir brauchen einen harten Lockdown von zwei bis drei Wochen und vor allem ein bundeseinheitliches Vorgehen. Es ist jetzt keine Zeit für Lockerungen“, appelliert Marx. Die Kontakte müssten klar reduziert werden, um die Infektionszahlen in den Griff zu bekommen. Nicht nur, weil sich die britische Corona-Mutante weiter ausbreitet und auch nicht nur, weil die Betten in den Krankenhäusern immer knapper werden, sondern auch, weil die Pflegekräfte am Ende ihrer Kräfte sind. Das Personal in den Kliniken könne die Aufgaben kaum noch stemmen. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeitet hätten in Umfragen angegeben, den Beruf nicht länger ausüben zu wollen. „Wir müssen die Kolleginnen und Kollegen dringend entlasten“, lautet die Botschaft. „Jeder Tag zählt.“

„Das Erschreckende ist, dass wir diese Entwicklung vorhergesagt hatten“, sagt Marx. Auch das Robert-Koch-Institut hatte Anfang des Monats eine Modellrechnung veröffentlicht, aus der sich der Anstieg der Fallzahlen ablesen lässt, wenn die Corona-Maßnahmen nach kurzer Zeit wieder gelockert werden. Virologin Sandra Ciesek sagte dazu in der aktuellen Folge des NDR Info Podcasts „Coronavirus-Update“: „Weder bei den Todesfällen noch in den Intensivbettenbelegungen reichen vier Wochen im April aus, um den Verlauf wirklich nachhaltig zu verändern. Das ist, glaube ich, auch eine der wichtigen Messages, die man mitnehmen kann, dass kurze Kontaktebeschränkungen einfach zu wenig sind.“

Uwe Janssens betont, dass die Hausärzte sowohl für den Verlauf der gesamten Pandemie als auch für die Entlastung der Intensivstationen eine entscheidende Rolle spielen. „Immerhin wurden neun von zehn Patientinnen und Patienten mit Sars-CoV-2 ambulant behandelt“, sagt er. Wichtig sei es nun, sie in die Impfstrategie stärker einzubeziehen. Der Impfkampagne könne dadurch ein maximaler Schub verleiht werden. Hausärzte würden ihre Patienten und vor allem Hochrisikopatienten kennen und damit genau wissen, wer einen Impfstoff schnellstmöglich braucht.

Christian Karagiannidis ergänzt, dass man auch die Möglichkeit der passiven Immunisierung nicht vergessen dürfe. Antikörper-Medikamente, die in Teilen auch in Deutschland zum Einsatz kommen, können einige schwere Corona-Fälle verhindern – vor allem wenn Patienten das sogenannte Rekonvaleszentenplasma sehr früh bekommen, kann der Verlauf der Erkrankung positiv beeinflusst werden. Zu überlegen wäre, ob Hausärzte künftig diese Medikamente auch verabreichen können.

Der bundesweite Sieben-Tage-R-Wert lag laut RKI-Lagebericht von Donnerstagabend bei 0,80 (Vortag: 0,76). Das bedeutet, dass 100 Infizierte rechnerisch 80 weitere Menschen anstecken. Die Intensivmediziner rechnen jedoch mit einem deutlich höheren Wert: „Wir haben im Moment das Problem, dass die aktuellen Zahlen wahrscheinlich nicht die wahren Zahlen sind“, so Christian Karagiannidis. „Wir glauben, dass die Inzidenz momentan bei mehr als 150 liegt, wie hoch werden wir aber erst in der kommenden Woche sehen. Nach unseren Daten schätzen wir eher 160 bis 170.“