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Sehnsucht nach einem Solo: Mein Leben als eineiiger Zwilling

Eineiige Zwillinge: Nicht immer ein Zuckerschlecken
© Privat
BRIGITTE.de-Leserin Marlene Koller* hat eine eineiige Zwillingsschwester - aber ihr Leben hat nichts mit Hanni und Nanni gemein ...

Ich startete mein Leben als „Fighting twin“

„Eigentlich bist du ja ein Klon“: Dieses Verdikt wurde mir nicht nur einmal an den Kopf geworfen, wenn ich erzählt habe, dass ich eine eineiige Zwillingsschwester habe. Die Leute sind regelmäßig völlig aus dem Häuschen wegen unserer Ähnlichkeit. Zugegeben, neulich habe ich sie auf einem Foto sogar selbst für mich gehalten.

Schon unser Start ins Leben war eine schwierige Angelegenheit. Geboren in den Siebzigern als Zwillinge, zwei ganze Monate vor dem errechneten Geburtstermin per Kaiserschnitt. Und ich hatte mir als Erstgeborene - als „fighting twin“ - schon im Mutterleib meinen Platz erkämpft.

Wochenlang im Brutkasten. Schon damals lag meine Schwester drei Wochen länger im Krankenhaus, während ich zu Hause sein durfte. Damit war mein Schicksal als Stärkere besiegelt.

In der Beziehung meiner Eltern hatte es schon vorher gekriselt. Mit Zwillingen war mein Vater völlig überfordert. Es dauerte nicht lange, bis er sich aus unserem Leben schlich.

Mit Hanni und Nanni hatte unser Leben nichts zu tun

„Spielt ihr damit euren Lehrern eigentlich Streiche?“, war eine der Standardfragen, die wir unsere gesamte Schulzeit zu hören bekamen. Warum sollten wir das tun? Was war denn daran witzig, für den anderen gehalten zu werden - nervig genug, dass das sowieso dauernd passierte.

Mit Kinderromanen wie „Hanni und Nanni“ oder gar dem „doppelten Lottchen“ konnten wir nichts anfangen.

Was für normale Menschen eine Selbstverständlichkeit ist, nämlich beim Namen genannt zu werden, ist für einen eineiigen Zwilling eine tägliche Herausforderung.

Schon als Kind dämmerte mir, dass mir eine eigene Identität jenseits der Zwillingssymbiose nicht gleichgültig war und dass ich mir diese selbst erschaffen musste.

Bis zum Alter von ungefähr elf Jahren machte es uns nichts aus, dass wir die gleichen Klamotten besaßen. Wir waren trotzdem nicht gleich gekleidet. Irgendwie gehörten wir schon damals nicht zu den Zwillingspärchen, die eine Geheimsprache erfinden und sich selbst genug sind. Regelmäßig stritten wir um Freundinnen.

Ich hatte Sehnsucht nach einem eigenen Leben, mit Freunden, die ich nicht ständig teilen muss, mit Geburtstagen, die ich für mich alleine feiern darf, und mit einem Partner, der nur mich sieht.

Verliebt sein? Von Anfang an ein leidiges Thema

„Wie kann man euch beide eigentlich auseinander halten?“ - „Silke ist doch die Hübschere“, kam meist als Antwort. Mir war schon selbst aufgefallen, dass meine Schwester die schmalere, geradere Nase besaß, die volleren Lippen, eine ästhetischere Augenpartie und das symmetrischere Gesicht. Das entging dem anderen Geschlecht ebenfalls nicht.

„Du kommst dir wohl vor wie der ungeputzte Spiegel“, meinte eine Freundin mal zu mir, bei der ich mich regelmäßig ausheulte. Ja, das traf ziemlich genau meine Gefühle.

Der Kampf war eröffnet - bis hin zur Essstörung

Im Versuch, zu eigenständigen Individuen heranzureifen, lieferten meine Schwester und ich uns einen ständigen Konkurrenzkampf: Wer hat die besseren Noten, wer hat die schönere Frisur, wer die bessere Figur? Ohne das Zwillingsein hätten wir solche Probleme nie gehabt, weil der Vergleich nicht gegeben gewesen wäre. Schafften wir es mal, uns nicht miteinander zu vergleichen, tat es unser Umfeld.

„Wie kann man euch beide eigentlich auseinanderhalten?“, wurden wir immer noch gefragt, obwohl wir inzwischen unterschiedliche Frisuren trugen und einen unterschiedlichen Kleidungsstil entwickelt hatten.

Wir litten beide und niemand verstand uns. In den Köpfen der Menschen herrscht das Bild vom harmonischen Zwillingspärchen, das bis ins hohe Alter die gleichen Klamotten trägt, ähnliche Ehepartner hat und den gleichen Beruf ausübt.

Aber auch hier gingen wir unterschiedliche Wege. Meine Schwester studierte Theologie, ich entschied mich für das Lehramt an Förderschulen.

Inzwischen hatten wir zwar geheiratet, doch unsere Partner kamen mit unseren spezifischen Problemen an ihre Grenzen. Unsere Ehen zerbrachen beide. Mit 40 Kilo Körpergewicht zog ich die Reißleine.

Die Trennung tat uns gut

Es war an der Zeit, mich zu befreien. Mein Studium legte ich erstmal auf Eis. Mithilfe eines neunwöchigen Klinikaufenthalts gelang es mir, mich neu zu definieren, nach verschiedenen Therapien fand ich zu mir selbst. Frisch getrennt, startete ich mit gesunden 53 Kilo Körpergewicht in einer fremden Stadt neu durch. Meine Schwester lebte inzwischen in Chicago, wohin sie für einen Auslandsaufenthalt ihres damaligen Mannes gezogen war.

Wir hatten damals recht guten Kontakt, die räumliche Trennung half uns enorm. Nichtsdestotrotz erIebte ich mich immer noch als den stärkeren Zwilling, der für den anderen da sein musste. 

Allein im Mama-Land

Nach meinem Studium lernte ich meinen jetzigen Mann kennen. Die Jahre vergingen und ich wurde schwanger. Alles wäre perfekt gewesen, doch meine Schwester, inzwischen wieder in Deutschland, hatte noch keine Kinder und es sah in ihrem Beziehungsleben leider auch nicht danach aus. Zudem war es schwer für sie, mit ihrem Auslandsabschluss eine gute Arbeit zu finden. Der Job war immer der falsche, die Männer sowieso.

Ich stehe im Standesamt, ich stehe vor dem Traualtar, ich liege mit Wehen im Kreißsaal. In meinem Kopf nur eine Frage: Wie bekomme ich meine Schwester glücklich?

„Wie kann man euch auseinanderhalten?“- „Du bist die ohne Kinder“, antworteten die Fragesteller meist selbst und zeigten auf meine Schwester. Ich war im Mama-Land und konnte sie nicht mitnehmen.

Gefangen im Zwillingsdrama

Was sich über Jahre angebahnt hatte, wurde unerträglich. Ich die Starke, der Zwilling zum Anlehnen, sie diejenige, die mich ständig brauchte. Gute Momente waren selten. Klar, sie liebte meine Kinder über alles und die Kinder liebten sie. Aber eine eigene Familie war etwas anderes.

Auch meine zweite Ehe war durch unsere Zwillingsbeziehung extrem belastet. Ich recherchierte nächtelang nach Therapeuten für Zwillinge. Es konnte doch nicht sein, dass nur wir so eine problematische Beziehung hatten? Ist denn bei den anderen Zwillingspärchen immer alles so harmonisch wie im Klischee?

Heute weiß ich: Ich bin nicht allein

Nach intensiver Suche stieß ich auf Dr. Barbara Klein aus Los Angeles, die sich in ihrer therapeutischen Arbeit auf eineiige Zwillinge spezialisiert hat. Sie ist selbst betroffen und ich spürte, dass diese Frau mich versteht. Ich fing an, ihr Buch „ Alone in the Mirror“, das das ganze Dilemma in Worte fasst, zu lesen und musste abbrechen. Zu viel kam in mir hoch. Ich hielt es nicht mehr aus und rief sie an.

Wir hatten über ein Jahr lang Sitzungen über Skype - mitten in der Nacht und auf Englisch. Ich wurde Mitglied in einer ihrer Skype-Gruppen, die sich ausschließlich aus Personen zusammensetzen, die sich von ihrem eineiigen Zwilling entfremdet haben, aus welchen Gründen auch immer. Ich weiß jetzt: Ich bin nicht allein.

„Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende ...“ Klar weiß ich, dass damit Liebespaare gemeint sind. Aber hätte ich einen Wunsch frei, würde ich mir das für mich und meine Schwester wünschen.

*Name ist der Redaktion bekannt

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