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Experte verrät So holst du das Beste aus dir heraus – und aus den anderen

Autor Rutger Bregman über das Gute im Menschen: Frau hat andere Frau Huckepack
© Look Studio / Shutterstock
Nicht die Stärksten haben in der Menschheitsgeschichte überlebt, sondern die Freundlichsten, sagt der Historiker und Autor Rutger Bregman. Weil wir eine Supermacht haben, die uns von anderen Spezies unterscheidet: die Fähigkeit zur Kooperation.
INTERVIEW Nadja Bossmann

Brigitte Woman: Sie stellen in Ihrem neuen Buch eine gewagte These auf: Der Mensch ist gut. Ihre Leser sind verblüfft, oder?

Rutger Bregman: Natürlich. Unser Menschenbild ist ja allgemein geprägt von Zynismus und Pessimismus: Menschen sind egoistisch. Sie sind faul. Alles andere gilt als naive Wunschvorstellung. Ich denke aber, dass die wirklich naiven Menschen diese Zyniker sind. Realistisch ist, dass sich der Mensch seit jeher ziemlich anständig verhält. Er ist nicht besonders stark oder klug. Studien haben gezeigt, dass ein Schwein klüger ist als ein zweijähriges Kind. Aber der Mensch hat eine Fähigkeit zu Freundlichkeit und Zusammenarbeit, die es im Rest des Tierreiches nicht gibt. Diese Fähigkeit erklärt, warum wir in der Lage sind, voneinander zu lernen und uns zu verständigen, Pyramiden zu bauen, auf dem Mond zu landen. Soziologen, Anthropologen, Psychologen, Archäologen, sogar Ökonomen sprechen vom "survival of the friend­liest", Überleben der Freundlichsten.

Corona ist die Nagelprobe für Ihren Ansatz. Wir sehen, wie egoistisch oder altruistisch Menschen sein können: Die einen stehlen Desinfektionsmittel aus Krankenhäusern, die anderen gehen für ihre Nachbarn einkaufen. Fühlen Sie sich bestätigt?

Wer die Zahlen auswertet, sieht, dass die große Mehrheit sich sozial verhält, Abstand wahrt und einander hilft. Aber es ist eine psychologische Tatsache, dass wir negative Dinge viel deutlicher wahrnehmen als positive. Wir kennen das aus dem eigenen Leben: Ein Kompliment nehmen wir hin. Kritik verdirbt uns den ganzen Tag. Soziologen untersuchen seit Jahrzehnten, was in Krisenmomenten geschieht, etwa bei Naturkatastrophen: Es kommt immer und immer wieder zu einer Explosion an Uneigennützigkeit.

Woher kommt dann das schlechte Image des Menschen?

Das begleitet uns schon seit der Antike. Wir haben die Vorstellung, zivilisiertes Verhalten sei nur eine dünne Fassade, hinter der immer noch ein wildes Tier lauert. Das christliche Konzept der Sünde, Machiavelli, die Aufklärung, Romane wie "Herr der Fliegen", Filme wie "Outbreak" – immer dasselbe Konzept. Wir werden als absolute Egoisten dargestellt. Dieses Konzept ist nicht nur falsch, es hat fatale Folgen: Denn was wir vom anderen erwarten, bestimmt, wie der sich verhält. Wenn wir davon ausgehen, dass er selbstsüchtig ist, bringen wir ihn dazu, sich von seiner schlechtesten Seite zu zeigen. Wir sind geworden, was wir lehren.

Was schlagen Sie vor?

In Norwegen gibt es Gefängnisse, in denen Mörder und Vergewaltiger trotz ihrer abscheulichen Taten die Freiheit haben, ins Kino zu gehen, Musik zu machen, sich mit den Gefängniswachen anzufreunden. Zustände, die im Widerspruch zu unserer Intuition stehen. Aber Statistiken zeigen, dass dieses Miteinander funktioniert und die Rückfallquote der Insassen extrem niedrig ist. Was bedeutet das? Wenn man Menschen menschlich behandelt, verhalten sie sich menschlich. Wenn man Menschen wie Dreck behandelt, verhalten sie sich wie Dreck. Manchmal dürfen wir nicht auf unsere Intuition vertrauen, sondern müssen bewusst rational entscheiden, um Dinge zu ändern.

Der These, dass der Mensch des Menschen Wolf sei, stellen Sie in Ihrem Buch die Legende des guten und des bösen Wolfes entgegen, den jeder Mensch in sich trägt. Es sei unsere Entscheidung, welchen von beiden wir füttern, damit er wächst.

Genau. Ich habe kein Buch darüber geschrieben, dass wir alle Engel sind. Das sind wir mit Sicherheit nicht. Wir sind die freundlichste Spezies in der Tierwelt, aber wir können auch die grausamste sein. Mein Buch soll helfen, das Beste in uns allen hervorzubringen.

Das Gute im Gegner zu vermuten, es ihm vorzuleben und bei Bedarf auch die andere Wange noch hinzuhalten – das klingt sehr nach Ihrer christlichen Erziehung. Anderen Menschen erscheint das riskant…

Ist es riskant, anderen zu vertrauen? Die Alternative wäre, niemandem zu vertrauen und damit sicherzustellen, niemals betrogen zu werden. Der Preis für diese Sicherheit wäre doch viel zu hoch. Wie kann man ein glückliches, gesundes Leben führen, wenn man den anderen permanent misstraut? Die rationale Entscheidung ist, zu akzeptieren, dass man ein, zwei Mal im Leben über den Tisch gezogen wird. Das ist keine Schande, im Gegenteil. Wer noch nie betrogen worden ist, sollte sich vielmehr fragen, ob seine Lebenseinstellung stimmt.

Bei menschengemachten Phänomenen wie Klima- und Flüchtlingskrise, Nationalismus, Regierungschefs wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro kann man Leuten ihre Skepsis aber kaum verdenken, oder?

Es gibt keine einfache Antwort auf all das Schlechte in unserer Geschichte. Wie können wir Kriege, Terrorismus oder den Holocaust erklären, die nur unter Menschen passieren? Ich habe noch nie von Pinguinen gehört, die andere Pinguine einsperren. Ich kann da nur den Ansatz einer Antwort geben: Wissenschaftler haben herausgefunden, dass unsere Freundlichkeit auch eine dunkle Seite hat – das Gruppenverhalten. Die schlimmsten Dinge geschehen durch Loyalität zu einer Gruppe, im Namen von Kameradschaft, durch unseren Herdentrieb. Ein anderer, wichtiger Faktor, um menschliche Gräuel zu erklären, ist der Abstand zueinander. Je größer die körperliche und mentale Distanz zum anderen, desto einfacher ist es, ihn zu hassen und zu töten. Selbst im Krieg sind Menschen oft nicht in der Lage, einander aus nächster Nähe zu erschießen. Soldaten, die jemanden getötet haben, kommen tief verstört nach Hause, weil sie etwas in sich selbst getötet haben. Bomben oder Artillerie machen das Töten anonymer und sehr viel einfacher. Ebenso psychologische Distanz durch Konditionierung oder eine Ideologie, die den Gegner entmenschlicht. Das passierte im Holocaust genauso wie im Genozid von Ruanda.

Haben Sie bei Ihren Untersuchungen einen Unterschied im Verhalten von Männern und Frauen entdeckt?

Frauen haben mehr Empathie als Männer, aber die ist ihnen nicht angeboren. Das ist Sozialisation. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Macht so verteilt ist, dass Frauen ständig ihr Bestes geben müssen, um Männer zu verstehen. Daher die ewigen Geschichten über die ungeheure weibliche Intuition. Von Frauen wird einfach erwartet, dass sie sich in die männliche Perspektive versetzen. Das Gegenteil ist viel seltener.

Sie gehen davon aus, dass unsere Entwicklung vor 10000 Jahren eine scharfe Wende zum Schlechten genommen hat. Was lief da schief?

Für etwa 300000 Jahre haben wir als Nomaden ein ziemlich gutes Leben geführt. Unsere Arbeitswoche summierte sich zu 20 bis 30 Stunden, wir hatten viel Bewegung, abwechslungsreiche Kost, Männer und Frauen waren gleichgestellt, es gab flache Hierarchien, die allein auf Fähigkeiten beruhten: War jemand ein guter Geschichtenerzähler, hörten alle zu. War jemand ein guter Jäger, ließen sich die anderen von ihm führen. Gab es Ärger mit anderen Stämmen, zog man weiter. Dann machten wir vor etwa 12000 Jahren den Riesenfehler, sesshaft zu werden. Die Geschichte unserer Zivilisation begann. Der größte Teil dieser Geschichte ist ein absolutes Desaster: Unsere Gesundheit ging den Bach runter, wir bekamen Infektionskrankheiten von Masern bis Polio. Die Landarbeit war sehr hart, und die Arbeitszeit wurde viel länger. Privateigentum entstand, daraus entwickelten sich Machtverhältnisse und das Patriarchat. Den höchsten Preis unserer Zivilisation zahlten die Frauen, für die das Leben fürchterlich wurde. Sie wurden zu Tauschwaren wie Kühe, wurden verschleiert und ans Haus gebunden. Zudem brachen ständig Kriege aus, die es unter Nomaden kaum gegeben hatte. Sich niederzulassen war der größte Fehler in der Geschichte der Menschheit.

Geschichtsbücher behaupten das Gegenteil: Sesshaftigkeit habe Fortschritt ermöglicht.

Wir glauben das, weil wir in den letzten 200 Jahren tatsächlich große Fortschritte gemacht haben: Unsere Lebenserwartung ist gestiegen, wir sind gesünder und wohlhabender geworden, es gibt weniger Kriege, Corona ist im Vergleich zur Pest bewältigbar. Aber dies ist nur eine kurze Spanne der menschlichen Existenz, und wir wissen nicht, wie lange sie anhält, wie die Klimakrise beweist.

Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass wir diese Krise gemeinsam in den Griff bekommen?

Ich bin Historiker, kein Hellseher. Ich kann nur sagen, worauf ich hoffe. Ich hoffe, dass wir uns von diesem Zeitalter verabschieden, das uns zu Egoisten, zu einer Plage erklärt hat und unseren Untergang als unvermeidlich ansieht. Ich hoffe, dass ein neues Zeitalter beginnt mit einem realistischen Blick auf den Menschen und die Welt, die er schaffen kann.

Sie nennen die Medien dabei "so schädlich wie Zucker", weil sie permanent Ängste und Hoffnungslosigkeit schürten.

Die Medien beschäftigen sich vor allem mit dem, was schiefläuft: Korruption, Gewalt, Terrorismus. Wer den Nachrichten folgt, meint am Ende des Tages genau zu wissen, wie schlecht die Menschheit ist. Psychologen haben dafür einen Namen: Gemeine-Welt-Syndrom. Das Gute gilt als langweilig. Das ist wie Reality-TV: Wenn man Leute auf einer Insel absetzt und sie machen lässt, was sie wollen, werden sie einfach Freunde. Das ergibt furchtbare Einschaltquoten. Also werden Lügen und Betrug gesät, die Menschen werden mit Alkohol abgefüllt. Und dann passiert vielleicht eine Kleinigkeit, die sich groß aufblasen lässt. So macht man gutes Fernsehen. Unser schlechtes Bild in den Medien hat aber noch einen tieferen Grund. Es wird hauptsächlich von denen propagiert, die an der Macht sind. Wenn wir uns gegenseitig nicht trauen können, benötigen wir die Mächtigen, um uns zu kontrollieren, um sicherzustellen, dass wir uns gegenseitig nicht auffressen. Das Konzept des guten Menschen ist subversiv, denn es bedeutet, dass wir all diese Manager, Generäle und Könige gar nicht brauchen, dass der Kaiser nackt ist, wie in dem Märchen "Des Kaisers neue Kleider".

Für Ihr neues Buch haben Sie den Menschen fünf Jahre lang untersucht, Sie haben nicht nur historische Forschung angestellt, sondern auch viele andere wissenschaftliche Disziplinen in Ihre Analysen miteinbezogen. Ließen sich Ihre komplexen Erkenntnisse vielleicht in dem einen Satz zusammenfassen: Fremde sind Freunde, denen wir noch nicht begegnet sind?

Das gefällt mir. Gehen Sie vom Guten im Menschen aus. Das ist nicht naiv. Das ist realistisch. Sie haben die Wissenschaft hinter sich. Schämen Sie sich nicht für Ihre Freundlichkeit, machen Sie sie sichtbar, denn so inspirieren Sie andere Menschen. Das ist vielleicht die wichtigste Botschaft: Freundlichkeit ist ebenso ansteckend wie ein Virus. Allein sind wir nichts. Gemeinsam sind wir ein Weltwunder.

Rutger Bregman kam 1988 im niederländischen Renesse zur Welt. Nach einem Geschichtsstudium an der Universität Utrecht und der University of California machte er sich einen Namen als Journalist für die "Washington Post" und die BBC. Zweimal wurde er für den "European Press Prize" nominiert. Sein erstes Buch "Utopien für Realisten" wurde 2017 zum Bestseller.

Buchtipp: Rutger Bregman: "Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit" 480 S.; 24,90 Euro, Rowohlt.

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BRIGITTE WMAN 07/2020

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