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Jude als Schimpfwort weit verbreitet - Viele Lehrer fürchten Konflikte

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ef64e23e-9656-4867-af89-6dc0eaa5783f.jpg © privat

Professorin Julia Bernstein (46) untersucht Diskriminierung an Schulen und fragt danach, was Antisemitismus bei jüdischen Schülern anrichtet. Die Kulturanthropologin und Soziologin ist Inhaberin des Lehrstuhls für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft.

Frau Professor Bernstein, wie äußert sich Antisemitismus an Schulen? Was passiert dort?

JULIA BERNSTEIN: Sehr verbreitet ist es, Jude als Schimpfwort zu verwenden. Du Scheißjude, sei doch kein Jude, mach doch kein Judending und so weiter. Jude wird als Synonym verwendet für Verrat, Geiz, Aggressivität, die Verkörperung des Bösen.

Richtet sich das ausschließlich gegen jüdische Schüler?

BERNSTEIN: Juden werden häufig so beschimpft. Aber Jude als Schimpfwort wird auch sonst häufig gebraucht. Da will sich etwa ein Schüler von einem anderen ein Lineal ausleihen, der will das aber nicht, und der erste sagt: Mach doch keine Judenaktion.

Welche Folgen hat das?

BERNSTEIN: In so einer Umgebung wird es schwierig, jüdische Identität positiv zu besetzen. Jüdische Kinder und Jugendliche verbergen dann oft, dass sie Juden sind. Sie fangen an, sich zu schämen, nehmen ihr Juden-Sein als Makel wahr, verstecken Symbole wie Davidstern oder Kippa. Sie haben Angst, dass andere von ihnen Abstand halten, wenn sie als Juden erkennbar sind, und genau das passiert leider auch.

Wie gehen Lehrkräfte mit einer solchen Situation um? Ignorieren sie das oder reagieren sie darauf?

BERNSTEIN: Häufig nehmen die Lehrkräfte solche Äußerungen nicht als antisemitisch wahr. Sie führen das auf Unwissen zurück oder argumentieren, es gebe ja gar keine Absicht, mit solchen Wörtern jüdische Schüler persönlich zu beleidigen. Es sei einfach so daher gesagt, kindlicher Unfug eben. Und schließlich könnten sie sich ja auch nicht jedes Mal aufregen, wenn im Unterricht ein Schimpfwort gebraucht werde.

Es stimmt ja vielleicht auch teilweise, dass der Gebrauch von Jude als Schimpfwort der Unwissenheit entspringt und gar nicht persönlich gemeint ist.

BERNSTEIN: Aber dadurch ist es nicht weniger schlimm oder weniger antisemitisch. Ich würde das Banalisierung der kommunikativen Gewalt nennen. Das ignoriert, dass eine Grenze überschritten wird.

Geschieht diese Banalisierung auch noch, wenn Sätze fallen wie: Dich haben sie wohl vergessen zu vergasen?

BERNSTEIN: Es gibt Lehrkräfte, die reagieren sehr emotional und sind empört, wenn so etwas gesagt wird. Die schimpfen dann und verbieten solche Äußerungen, aber sie erklären nicht, warum so etwas nicht gesagt werden darf. Hinter so einem Satz stehen Vernichtungsfantasien, auch wenn er vielleicht unbedarft und ohne historische Kenntnisse der Judenvergasung im Nationalsozialismus gesagt wird. Selbst einige Lehrer gebrauchen den unbedachten Ausdruck „bis zum Vergasen“, um etwa Überdruss oder Überlastung bei der Arbeit zu äußern. Aber für Juden ist das Teil ihrer Familiengeschichten, das ist dort noch sehr präsent und trifft die Schülerinnen und Schüler. Das ganze Leid und der ganze Schmerz der Familien wird evoziert und macht sie wieder zum Opfer. Es kränkt sie tief und lähmt sie regelrecht.

Wie sollen sich die Pädagogen verhalten?

BERNSTEIN: Sie müssen erst einmal lernen, was Antisemitismus ist. Dass das nicht erst anfängt, wenn Menschen direkt angegriffen werden. Sie dürfen nicht banalisieren oder ignorieren, sondern sie müssen intervenieren, also eingreifen und damit ein klares Zeichen setzen, halt, so geht das nicht. Das ist nicht in Ordnung. Wenn sie das nämlich nicht tun und die auf Juden bezogenen Schimpfwörter ignorieren, lernen die Schüler, dass judenfeindliche Äußerungen in Ordnung zu sein scheinen und man diese auch benutzen kann. Und die Pädagogen müssen unterscheiden zwischen der Kritik an einer bestimmten Politik Israels, am Verhalten einzelner Politiker, einer legitimen politischen Meinung und dem Hass, der gegen ganz Israel und die Juden überhaupt geäußert wird. Hass ist keine Meinung.

Haben Lehrkräfte Angst, judenfeindliches Verhalten anzusprechen?

BERNSTEIN: Sie haben im Laufe ihres Studiums nicht gelernt, damit umzugehen, und sie haben Angst, große Konflikte austragen zu müssen. Sie wollen nicht, dass es in ihrer schönen Klasse so etwas wie Rassismus oder Antisemitismus gibt. Das beschädigt ihren Ruf und ihr professionelles Selbstbild. Also ignorieren sie es oft, obwohl es in der Tat für die Betroffenen längst die Realität ist. Aber das Gegenteil wäre richtig, sie müssten sich damit auseinandersetzen. Ihr Ruf und der ihrer Schule wäre gerettet, wenn sie Antisemitismus beim Namen nennen und etwas dagegen unternehmen würden. Wenn ich Lehrerin wäre, würde ich als erstes meine Klasse sehen, in der es ein friedliches positives Gemeinschaftsklima geben soll, egal ob Jude, Muslima oder Christ, Zuwanderer aus Russland, Jugoslawien oder was auch immer in der Klasse sitzen.

Sollen Besuche in Gedenkstätten zur Pflicht für alle Schulklassen werden?

BERNSTEIN: Die Erfahrung zeigt, dass der unmittelbare Kontakt mit Zeitzeugen, mit lebendigen Menschen sehr viel in den Köpfen bewegen kann und hilft, Vorurteile zu widerlegen und das respektvolle Umgehen miteinander zu stärken. Besuche in Gedenkstätten können auch helfen, aber dazu müssen die Lehrkräfte sehr sensibel sein. Wenn das nur abgearbeitet wird oder die Schüler mit einer moralisierenden Ansprache konfrontiert sind, nützt das gar nichts oder schadet sogar.

Welchen Einfluss hat Migration auf die Zunahme von Antisemitismus? Viele Geflüchtete kommen aus Ländern, in denen Israelfeindlichkeit zur Staatsdoktrin gehört.

BERNSTEIN: Es ist komplizierter. Richtig ist, dass in bestimmten Regionen Hass gegen den Staat Israel sehr verbreitet ist. Der Verweis auf diesen importierten Antisemitismus hat aber eine Entlastungsfunktion für Judenfeindlichkeit, die überhaupt nicht von Einwanderern, Geflüchteten oder überhaupt Muslimen kommt. Es wäre falsch zu sagen, dass diese Gruppe in erster Linie für Antisemitismus verantwortlich ist. Hakenkreuze, Hitlergrüße, Gassprüche, üble verbale und körperliche Angriffe auf Juden gibt es, wo überhaupt keine Muslime sind, und bei weitem nicht nur in rechtsextremen Szenen.

Haben die Ergebnisse Ihrer Studie Sie erschreckt? Oder haben Sie das, was sie herausgefunden haben, so erwartet?

BERNSTEIN: Was mich erschreckt hat, ist die Banalisierung all dieser Nazi-Symbole, die so oft verwendet werden. Kennen Sie das Auschwitz-Spiel?

Nein, was ist das?

BERNSTEIN: Da fängt ein Schüler im Unterricht an, leise Auschwitz zu sagen. Der nächste muss dann schon lauter reden, und immer so weiter, bis der Lehrer es hört und reagiert. Dieser Schüler hat dann verloren. Das machen nicht Muslime, das passiert in Klassen mit ganz unterschiedlichen Schülern. Auschwitz ist ein Vernichtungslager, in dem Millionen Menschen ermordet wurden. Mich trifft das zutiefst. Ich verstehe nicht, wie man 73 Jahre nach der Shoah so ein Spiel spielen kann, ohne dahinter reale Menschenleben zu sehen. Genau so wie man in diesem Land den Ausdruck „bis zum Vergasen“ alltäglich benutzen kann.

von PETER HANACK

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