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Konzerne mache Schule

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Schon Grundschulkinder werden im Unterricht mit gezielten Informationen gelenkt.
Schon Grundschulkinder werden im Unterricht mit gezielten Informationen gelenkt. © imago images / Sven Simon

Zwei Drittel der Dax-Unternehmen bieten Lehrkräften kostenlos Unterrichtsmaterialien an - das zeigt eine Studie. Didaktik-Experte Tim Engartner warnt vor unkontrollierter Lobbyarbeit.

Marode Schulgebäude, fehlende Lehrkräfte und sinkende Etats für Bücher gehören mittlerweile fast zum Alltag an deutschen Schulen. Zugleich mischen immer mehr Unternehmen, Verbände und Stiftungen an vielen Bildungsstätten mit. Sie stellen kostenlos Lehr- und Lernmaterialien zur Verfügung und betreiben damit Lobbyismus - das zeigt eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung zur Einflussnahme von Industrie und Wirtschaft an deutschen Schulen.

Zwei Drittel der 30 Dax-Unternehmen bieten demnach Unterrichtsmaterialien an und wirken so gezielt auf das Curriculum ein. Tim Engartner, Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften und Experte auf dem Gebiet der Lobbyismus-Forschung, hat die Rolle der Dax-Unternehmen im Unterrichtsalltag überprüft. Dabei stellte er sich die Frage, ob die meist kostenfrei angebotenen Materialien einen positiven Effekt auf die Schülerinnen und Schüler haben, oder ob sie als Instrumente zur Beeinflussung dienen.

Laut der Studie „Wie Dax-Unternehmen Schule machen“ vereint das Internet rund 80 000 Gratis-Lehrmaterialien für Lehrkräfte. Ein Großteil stamme von Stiftungen und Unternehmen. Dabei würden schon Grundschulkinder im Unterricht mit gezielten Informationen gelenkt. Das können besondere „Kooperationen“ oder nur das Logo des Unternehmens auf den Materialien sein.

Laut Studienautor Engartner ist es besonders kritisch zu sehen, dass die Projekte, Bücher oder Broschüren der Firmen nicht wie reguläres Unterrichtsmaterial von einer bundesweiten Prüfstelle untersucht werden. Auch kontrollierten weder Schulkonferenzen noch andere Gremien die angebotenen Inhalte.

Doch was haben die Privatunternehmen von dem Aufwand, Broschüren oder Aktivitäten für Schulen anzubieten? Der Studie zufolge spielen vor allem die frühe Kundengewinnung, eine einfache Werbemöglichkeit sowie die Vermittlung eines neuen Weltbildes eine wichtige Rolle.

Durch die Lobbyaktivitäten der Unternehmen komme es zu einem Ungleichgewicht, kritisiert Didaktik-Experte Engartner: Der Schulalltag sei gespalten zwischen privatwirtschaftlichen Akteuren und dem institutionellen Curriculum. Außerdem würden ausschließlich branchenaffine Themen in den Materialien aufgegriffen. Diese beschäftigten sich nur selten mit der Alltagsrealität von Kindern und Jugendlichen. Somit sei nicht sichergestellt, dass Themen und Kompetenzen, die in den gültigen Lehrplänen vorgeschrieben sind, eingehalten würden.

Positiv sieht der Autor den Gestaltungsspielraum der Lehrkräfte, die aus verschiedenen Medien, Themen und Lernmaterialien auswählen könnten. Durch die gezielte Einflussnahme müssten diese nun aber auch ein größeres Augenmerk auf die Auswahl der Materialien legen. Das erschwere den Lehrberuf. Außerdem fragt sich Engartner, ob der Unterricht nicht zu einer „Werbeveranstaltung“ mutiere.

Das Fazit der Studie ist eindeutig: Sie ruft Kultus- und Bildungsministerien dazu auf, eine länderübergreifende Regelung für die privatwirtschaftlichen Lehrmaterialien zu finden. Die Studie drängt auf ein sofortiges Handeln, um die Unterrichtsinhalte nicht an die Privatwirtschaft zu verlieren und die Lobbyarbeit zu verringern. Eine „säkulare Trennung zwischen Schule und Privatwirtschaft“ müsse garantiert werden, fordert Engartner. Außerdem müsse geregelt werden, inwiefern sich Unternehmen in schulische Themen einmischen dürfen.

Die Unternehmen

BASF
Der Chemiekonzern setzt sowohl auf Printmaterialien als auch auf den direkten Kontakt mit Lehrern und Schülern. Er bietet Unterrichts- materialien und Schulprojekte für alle Alters- gruppen sowie Lehrerfortbildungen an. Die Unterrichtsmaterialien beinhalten verschiedene Bücher und Broschüren, die sich mit natur- wissenschaftlicher Bildung und sprachwissenschaftlicher Förderung beschäftigen.

Auf dem Campus besteht zudem die Möglichkeit, an Schülerlabors teilzunehmen. Hier können Lehrkräfte und Schüler ihren Chemieunterricht abhalten. Dabei sorgen eigene Expertinnen und Experten für eine abwechslungsreiche Gestaltung. Die Angebote des in Ludwigshafen ansässigen Unternehmens beschränken sich nicht nur auf den Rhein-Neckar-Kreis. Ein internationales Beispiel für die schulische Einflussnahme ist Brasilien. In dem südamerikanischen Land hat BASF nach eigenen Angaben 800 Lehrerinnen und Lehrer geschult und 12 000 Schülerinnen und Schüler erreicht.

Die Ausgaben für Bildungsaktivitäten beliefen sich 2018 auf 16 Millionen Euro. In den Jahren 2005 bis 2015 unterstützte der Chemiekonzern die jährliche Veranstaltungsreihe „Wie Lernen gelingt“, eine Konferenz, bei der renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über Lernprozesse und frühkindliche Bildung diskutierten.

Deutsche Bank
Das Kreditinstitut hat im vergangenen Jahr knapp sieben Millionen Euro für Bildungs- aktivitäten in Schulen ausgegeben. Nach eigenen Angaben haben rund 650 000 Schülerinnen und Schüler von dem Angebot profitiert. Die Maß- nahmen variieren von Filialbesuchen bis hin zu Bewerbungstrainings. Sowohl die finanzielle Bildung im digitalen Zeitalter als auch die Vermittlung eines differenzierten Bildes von Reichtum werden in den Mittelpunkt der Lernangebote gerückt.

Der Fokus liegt bei allen schulischen Hilfsmitteln auf der finanziellen Bildung: Das Unternehmen finanziert unterschiedliche Schülerwettbewerbe und bietet acht verschiedene Unterrichts- materialien für die Jahrgangsstufen fünf bis 13 an. Die Kinder und Jugendliche lernen dabei den vermeintlich richtigen Umgang mit Geld.

Im Wettbewerb „FinanzTuber“ bietet die Bank Schülern in einer digitalen Lebenswelt die Möglichkeit, sich mit finanziellen Alltagsfragen auseinanderzusetzen und in Gruppen Finanzwissen anzueignen. Einer der Arbeitsaufträge verlangt, sich mit der Auswirkung materiellen Wohlstandes auf das Familienleben, die Gesundheit oder das Freizeitverhalten zu befassen. Am Ende sollen sie Videoclips aufnehmen, um Gleichaltrige über die gewonnenen Erkenntnisse zu informieren. Abgesehen davon engagieren sich Angestellte des Instituts in 180 Bildungsprojekten.

REWE
Der Energiekonzern bietet auf einer Internetplattform viele Unterrichts- materialien sowie Aktivitäten für einen spannenden Schulalltag an. Lehrkräfte und Schüler können über eine Suche mehr als 300 Ziele für eine Exkursion oder Besichtigung auswählen. Außerdem können Schulklassen RWE-Angestellte oder deren Kooperationspartner einladen, die Unterrichtsstunden zum Thema Energie übernehmen.

Kindern zwischen vier und acht Jahren bietet die RWE-Tochter Innogy ein eigenes Theaterstück an: „Hochzeit unter Strom“ ist ein „großes Energieabenteuer für kleine Gäste“ und soll an die Lebenswelt der Kinder anknüpfen. Über Innogy können Schulklassen darüber hinaus Experimentierkoffer für Energiethemen ausleihen.

Die Koffer mit den Namen „SmartGrid Ready-to-go“, „eMobility Ready-to-go“, „Windkraftkoffer“ können im Gegensatz zu anderen Anbietern, bei denen die Anschaffung mit hohen Kosten verbunden sind, kostenfrei für sechs Wochen ausgeliehen werden. Diverse Gewinnspiele runden das Angebot ab.

Die Materialien integrieren eine Vielzahl einsetzbarer Medien und thematisieren alles rund um die Energiegewinnung. Der Autor der Studie kritisiert, dass alle Materialien nur deskriptiv sind und keine Transferleistung in den Alltag anstoßen. Es fehle an energiepolitischen Kontroversen sowie der Orientierung an den Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen. Stattdessen werde der Kauf von Merchandising-Artikeln angeregt.

Heidelbercement
Das Baustoffunternehmen engagiert sich im Rahmen der Bildungsinitiative „KIS: Kooperation Industrie-Schule“ im Bildungssektor. Darunter fallen Ex- kursionen zu Werken und Steinbrüchen sowie Projekte mit ausgewählten Kooperationsschulen, in denen mit speziellen Unterrichtsmaterialien Themen rund um Wirtschaft, Bauen, Umwelt, Energie, Technik und Baukultur behandelt werden.

Diese Kooperationen tragen die Namen „Freiluftklassenzimmer“, „Schüler unterrichten Schüler“, „Schulprojekt im Steinbruchbiotop“, „Bienenvielfalt fördern“ und „Kunst mit Steinen“. Daneben stellt die Firma Lernvideos zu Verfügung, die Schülerinnen und Schüler bei der Herstellung eigener Produkte anleiten.

Kritisch sieht der Autor der Studie die Adressierung der Zielgruppe. So stellt er die pädagogische Sinnhaftigkeit eines Planspiels in Frage, bei dem Kinder der neunten Jahrgangsstufe mit betriebswirtschaftlichen Abläufen am Beispiel von Heidelberg Cement konfrontiert werden. In einem anderen Planspiel sollen Schüler unterschiedliche Rollen annehmen und sich, basierend auf Argumentationen, für oder gegen den Bau eines Steinbruches aussprechen. Obwohl es hier um Biodiversität und Nachhaltigkeit gehe, kritisiert Engartner die didaktische Aufbereitung. Die Aufgabenstellung sei zu kurz beschrieben und es gebe nicht genügend Raum für kritische Reflexion. Dies führe zu zusätzlichem Aufwand für die Lehrperson, die sich trotz der kostenfreien Lehrmaterialien ausführlich in das Thema einarbeiten müsse. 

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