Warum die Wirksamkeit des Lockdowns wissenschaftlich nicht bewiesen ist

Effektivität der Maßnahme Gegenstand von Fachdebatten. Kein Effekt von Frühjahrs-Lockdown. Studiendesign bei Prognosen versagt. (Teil 1)

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Ab dem 16. Dezember wurde von Bund und Ländern ein "harter Lockdown" verhängt, der zunächst bis zum 10. Januar gelten soll. In einer Serie von drei Artikeln werden die wissenschaftlichen Begründungen genauer beleuchtet. Im ersten Artikel werden die fehlenden wissenschaftlichen Beweise für die Wirksamkeit von Lockdowns thematisiert. Im zweiten Artikel werden die in den Regierungserklärungen ignorierten Kollateralschäden von Lockdowns beschrieben, welche inzwischen durch zahlreichen Studien belegt sind. Im dritten Artikel wird anhand einer kritischen Beleuchtung der vom Robert-Koch-Institut (RKI) veröffentlichten Corona-Fallzahlen diskutiert, inwiefern eine Angst in der Größenordnung, wie sie von den Regierungen, den Medien und manchen Wissenschaftlern vermittelt wird, wirklich gerechtfertigt ist.

Es folgen:
Teil 2: Die ignorierten Kollateralschäden von Lockdowns
Teil 3: Warum wir eigentlich keine extremen Ängste haben müssen

Ab dem 16. Dezember wird das öffentliche Leben in Deutschland erneut drastisch heruntergefahren. Der Einzelhandel mit Ausnahme der Geschäfte für den täglichen Bedarf muss schließen, Schulen und Kindergärten werden geschlossen, weiterhin gelten strikte Kontaktbeschränkungen. Empfohlen hatte einen solchen "harten Lockdown" die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina in ihrer 7. Ad-hoc-Stellungnahme. Konkret heißt es dort:

Die aktuelle Entwicklung der Coronavirus-Pandemie gibt Anlass zu großer Sorge. Trotz Aussicht auf einen baldigen Beginn der Impfkampagne ist es aus wissenschaftlicher Sicht unbedingt notwendig, die weiterhin deutlich zu hohe Anzahl von Neuinfektionen durch einen harten Lockdown schnell und drastisch zu verringern. Die Einführung des Lockdowns sollte bundesweit einheitlich in zwei Schritten erfolgen. Ab dem 14. Dezember 2020 sollte die Schulpflicht aufgehoben und nachdrücklich zur Arbeit im Homeoffice aufgefordert werden. Ab dem 24. Dezember 2020 sollten zusätzlich alle Geschäfte schließen, die nicht der Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten und anderen lebensnotwendigen Waren dienen. Soziale Kontakte sollten auf einen sehr eng begrenzten Kreis reduziert werden.

Die Regierungen sind dieser Empfehlung nicht nur gefolgt, sondern haben die Schließung der Geschäfte sogar bereits ab dem 16. Dezember verordnet, gelten sollen die Regelungen bis zum 10. Januar. Begründet wird dies damit, dass der Anfang November verordnete Teil-Lockdown nicht gereicht habe, es seit einigen Tagen wieder ein exponentielles Wachstum gäbe, mehrere hundert Todesfälle pro Tag zu verzeichnen seien, das Gesundheitssystem überlastet sei und nur mittels eines harten Lockdowns wieder eine Kontrolle über die Virusausbreitung zu erreichen sei.

Liest man als Wissenschaftler die Stellungnahme der Leopoldina und hört sich die darauf aufbauenden Begründungen in den Regierungserklärungen an, stellt sich ein großes Befremden ein. Die Empfehlungen einer "Nationalen Akademie der Wissenschaften" und das Handeln von Regierungen sollte eigentlich zum einen den Prinzipien der Wissenschaft und der evidenzbasierten Medizin verpflichtet sein. Zum anderen sollten Empfehlungen und Entscheidungen zur Verordnung von Maßnahmen den wissenschaftlichen Diskurs nicht nur in Bezug auf die gesundheitlichen Folgen eines spezifischen Virus, sondern auch in Bezug auf die Kollateralschäden der Maßnahmen abbilden.

Aus der Perspektive eines solchen Selbstverständnisses verletzt die 7. Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina und das Handeln der Regierungen die Prinzipien wissenschaftlicher und ethischer Redlichkeit. Wie ich im Folgenden aufzeigen werde, wird die Empfehlung eines harten Lockdowns in der Stellungnahme der Leopoldina anstatt mittels wissenschaftlicher Studien mittels arbiträr gewählter – und zudem falsch interpretierter – Fallbeispiele begründet, welche die angebliche Wirksamkeit eines harten Lockdowns stützen, ohne dass diese Auswahl nachvollziehbar gemacht oder wissenschaftlich begründet wird. Das ist umso problematischer, als dass keine belastbare wissenschaftliche Evidenz existiert, welche die Wirksamkeit von Lockdowns nachweisen würde.

Wissenschaftlich fragwürdige Begründung des harten Lockdowns

In der Stellungnahme (S. 3) wird die Empfehlung eines harten Lockdowns folgendermaßen begründet:

Die Erfahrungen aus vielen anderen Ländern (z.B. Irland) im Umgang mit der Pandemie zeigen: schnell eingesetzte, strenge Maßnahmen über einen kurzen Zeitraum tragen erheblich dazu bei, die Infektionszahlen deutlich zu senken.

Als "Beleg" wird folgende Abbildung präsentiert:

Zahl täglicher Neuinfektionen (pro Mio. Einwohner) in Deutschland und Irland im Zeitraum 1. März bis 6. Dezember 2020. Grafik entnommen am 8. Dezember von Our World in Data / CC-BY-4.0

Anstatt auf die existierenden wissenschaftlichen Studien zur Wirksamkeit von Lockdowns einzugehen, in welche die Daten aus zahlreichen Ländern einfließen (siehe unten), wird hier auf das Einzelbeispiel eines einzigen Landes verwiesen. Ein solches Vorgehen ist zutiefst unwissenschaftlich. Es lassen sich zum einen Länder finden, welche auch ohne einen harten Lockdown einen ähnlichen Verlauf der Virusausbreitung zeigen wie Irland (z.B. Schweiz), zum anderen lassen sich Länder finden, wo sich trotz harter Lockdowns kein entsprechender Rückgang der Virusausbreitung gezeigt hat (z.B. Peru). Der Verweis auf Einzelbeispiele, welche den Anschein einer Wirksamkeit von Lockdowns erwecken, ist insbesondere deswegen hochproblematisch, weil der aktuelle Stand der Forschung keinen klaren Hinweis auf eine Wirksamkeit erkennen lässt (siehe unten).

Zudem zeigt ein genauerer Blick, dass selbst das gewählte Beispiel Irland irreführend dargestellt ist. In der folgenden Abbildung ist der genaue Startpunkt des harten Lockdowns in Irland eingezeichnet sowie der frühestmögliche Zeitpunkt der Wirkung auf die gemeldeten Neuinfektionen, welcher aufgrund Inkubationszeit und der Zeitverzögerung zwischen Erkrankungsbeginn und Meldezeitpunkt frühestens in etwa zehn Tagen – typischerweise eher noch später – nach dem Startpunkt der Maßnahme liegt:

Grafiken/Quelle: Our World in Data / CC-BY-4.0

Wie die Abbildung zeigt, lässt sich bei einem korrekten Einbezug der Zeitverzögerung zwischen dem Zeitpunkt der Einführung einer Maßnahme und dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Maßnahme kein Effekt eines harten Lockdowns erkennen.

Studien weisen auf Unwirksamkeit von Lockdowns hin

Anders als von der Leopoldina in der Stellungnahme mittels des arbiträr gewählten und falsch interpretierten Fallbeispiels Irland der Anschein erweckt wird, legen inzwischen zahlreiche und zum Teil sehr umfassende Studien nahe, dass Lockdowns die Virusausbreitung nicht in relevanter Weise eindämmen könnten. So ergab eine Analyse der 50 Länder mit den höchsten Infektionszahlen zum Zeitpunkt des 1. Mai, dass sowohl die Anzahl der schweren Covid-19-Fälle als auch die Anzahl der Covid-19-Todesfälle zwar durch Faktoren wie Fettleibigkeit, Rauchen, Höhe des Bruttoinlandprodukts und Anzahl des Krankenpflegepersonals beeinflusst wurde, nicht aber durch die von den Regierungen ergriffenen Maßnahmen. Die Autoren schreiben dazu im Ergebnisteil (Übersetzung durch den Autor):

Maßnahmen der Regierungen wie Grenzschließungen, strikte Lockdowns und eine hohe Rate an COVID-19-Tests waren nicht mit einer statistisch signifikanten Verringerung der Anzahl kritischer Fälle oder der Gesamtmortalität verbunden.

Bestätigt werden diese Ergebnisse durch eine neuere Studie, in welcher der Einfluss von Faktoren im Bereich der Demografie, der öffentlichen Gesundheit, der Wirtschaft, der Umwelt und des Regierungshandelns in Bezug auf Maßnahmen in den ersten acht Monaten des Jahres 2020 für Länder mit mindestens zehn Covid-19-Todesfällen (160 Länder) untersucht wurde. Es zeigte sich, dass die Lebenserwartung, der allgemeine Gesundheitszustand der Bevölkerung, die Wirtschaftskraft und Umweltfaktoren wie Temperatur oder geographische Lage die Anzahl der Covid-19-Todesfälle pro 100.000 Einwohnern beeinflusste – nicht aber die Intensität der ergriffenen Maßnahmen. Die Autoren schreiben dazu in der Studie (Übersetzung durch den Autor):

Covid-19 hat eine breite Palette von Reaktionen von Regierungen auf der ganzen Welt ausgelöst, doch die Ansteckungs- und Sterblichkeitskurven sind zwischen den Ländern sehr ähnlich (33). Dies wird durch unseren Befund eines fehlenden Zusammenhangs mit den während der Pandemie ergriffenen Maßnahmen der Regierungen untermauert. In diesem Sinne scheinen demografische Faktoren sowie Gesundheits-, Entwicklungs- und Umweltfaktoren viel wichtiger zu sein um die tödlichen Folgen von Covid-19 antizipieren zu können, als die Maßnahmen der Regierungen, insbesondere wenn solche Maßnahmen eher von politischen als von gesundheitsbezogenen Zielen geleitet werden.

Einer der überzeugendsten empirischen Beweise zur Unwirksamkeit von Lockdowns stammt aus einer als Preprint veröffentlichten Studie, in welcher der Zusammenhang zwischen der Mobilität – gemessen über die Mobilitätsreporte von Google – und der Anzahl der aufgetretenen "Covod-19-Todesfälle" für Länder und Regionen untersucht wurde mit mehr als 100 Todesfällen bis Ende August (medRxiv; N = 87; nur Regionen mit qualitativ verlässlichen Daten).

Positiv anzumerken ist, dass zur Umgehung der mit einer mathematischen Modellierung der Virusausbreitung verbundenen Probleme (siehe unten) auf ein regressionsanalytisches Verfahren in Bezug auf die Varianzen in den Zeitreihen (Todesfälle und Mobilität) zwischen Ländern zurückgegriffen wurde, welches keine mathematischen Modellierungen nötig macht. Die Ergebnisse fassen die Autoren folgendermaßen zusammen (Übersetzung durch den Autor):

Wir konnten die Varianz in der Anzahl der Todesfälle pro eine Million Einwohner in verschiedenen Regionen der Welt nicht durch Unterschiede im Ausmaß der Isolation - hier analysiert als Unterschiede im Zu-Hause-Bleiben - erklären.

Bestätigt werden diese Ergebnisse auch durch eine weitere als Preprint erschienene Studie, in welcher der Effekt verschiedener Maßnahmen in Europa sowohl mit Mehrebenen-Regressionsmodellen als auch mit Bayesschen verallgemeinerten additiven Modellen untersucht wurde. Die Schlussfolgerung der Autoren lautet (Übersetzung durch den Autor):

Die Anordnung, zu Hause zu bleiben ("Stay at Home") und die Schließung vieler Geschäfte erzeugte keinerlei unabhängigen zusätzlichen Effekt.

Ein sehr überzeugender direkter empirischer Hinweise zur geringen Wirksamkeit selbst drastischer Maßnahmen stammt aus einer im New England Journal of Medicine publizierten Studie, in welcher die Effektivität von militärisch überwachten Maßnahmen zur Ausbreitung des Virus Sars-CoV-2 unter US-Marine-Rekruten untersucht wurde. Um die Virusausbreitung unter den Rekruten einzudämmen wurden dort folgende Maßnahmen ergriffen:

  • Verordnung einer zweiwöchigen vorherigen häuslichen Quarantäne aller Rekruten vor der Ankunft.
  • Testung mittels eines PCR-Tests bei der Ankunft und sofortige Isolation der Sars-CoV-2-positiven Rekruten
  • Umfassender Katalog an Maßnahmen unter militärischer Überwachung - die Beschreibung im Artikel lautet folgendermaßen (Übersetzung durch den Autor):
    Alle Rekruten trugen zu jeder Zeit drinnen und draußen zweischichtige Stoffmasken, außer beim Schlafen oder Essen, hielten durchgehend einen Abstand zueinander von mindestens 6 Fuß, durften den Campus nicht verlassen, hatten keinen Zugang zu persönlichen elektronischen Geräten und sonstigen Gegenständen, die zur Virusübertragung über Oberflächen beitragen könnten, und wuschen routinemäßig ihre Hände. Sie schliefen in Doppelzimmern mit Waschbecken, aßen in gemeinsamen Speisemöglichkeiten und benutzten gemeinsame Badezimmer. Alle Rekruten säuberten täglich ihre Zimmer, desinfizierten die Badezimmer nach jedem Gebrauch mit Desinfektionstüchern und aßen vorgefertigte Mahlzeiten in einem Speisesaal, der nach jedem Essen einer Einheit mit Desinfektionsmitteln gereinigt wurde. Die meisten Anweisungen und Übungen wurden im Freien durchgeführt. Die gesamte Bewegung der Rekruten wurde überwacht und ein unidirektionaler Bewegungsfluss mit ausgewiesenen Ein- und Ausgängen zum Gebäude implementiert, um den Kontakt zwischen Personen zu minimieren. Sechs Ausbilder, die jeder Einheit zugewiesen waren, arbeiteten in 8-Stunden-Schichten und setzten die Quarantänemaßnahmen durch. Wenn Rekruten Anzeichen oder Symptome im Zusammenhang mit Covid-19 meldeten, wurden sie einem schnellen PCR-Test auf Sars-CoV-2 unterzogen und bis zu den Testergebnissen isoliert."
  • Tägliche Fiebermessung und täglicher Symptomchecks mit sofortiger Isolation bei Verdacht
  • Eine wöchentliche PCR-Testung mit sofortiger Isolation von Sars-CoV-2-positiven Rekruten.

Trotz dieses umfassenden Maßnahmenkatalogs trat in einem Zeitraum von zwei Wochen noch immer bei 1,9 Prozent der Rekruten eine Sars-CoV-2 Infektion auf. Das entspricht einer durchschnittlichen Sieben-Tage-Inzidenz von 950 infizierten Fällen pro 100.000 Personen. Leider gibt es in dieser Studie keine Kontrollgruppe ohne entsprechende Maßnahmen. Aber diese Studie zeigt, dass selbst mit extremen Maßnahmen die Virusausbreitung nicht substantiell eingedämmt werden kann.