Räumliche Trennung wird gefordert. Vor allem kleinere Kinder sollten aber eben nicht länger ganz allein in ihr Zimmer verbannt werden, sagt eine Expertin. Sie brauchen Nähe und Trost, gerade in Krisenzeiten.
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Bielefeld "Das kann man nicht ernst nehmen": Bielefelder Quarantäne-Vorgaben schockieren Eltern

Auch das Bielefelder Amt fordert, kleine Kinder zuhause von der Familie zu trennen. Und droht mit Konsequenzen bei Nichteinhaltung. Das wird jetzt zur Chefsache.

14.08.2020 | 16.08.2020, 16:15

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Bielefeld. Dass die Behörden im Kreis Offenbach (Hessen) und auch anderswo mit Kindesentzug gedroht haben, sollten Eltern Coronavorgaben nicht einhalten, hat viele geschockt. Die Quarantäne-Schreiben, die Eltern in Bielefeld vom Gesundheitsamt bekommen, enthalten ganz ähnliche, aus Sicht vieler absolut unpassende, Passagen. „Sollten Sie den Ihre Absonderung betreffenden Anordnungen nicht nachkommen, so hat die Absonderung zwangsweise in einer geeigneten geschlossenen Einrichtung zu erfolgen“, heißt es. „Das kann man doch nicht ernst nehmen“, sagt ein Vater, dessen dreijährige Tochter aufgrund eines Coronafalls in ihrer Kita in Dornberg in Quarantäne musste. Er möchte anonym bleiben.

„Wie soll das in der Praxis funktionieren?“

Seine Tochter solle „nach Möglichkeit eine zeitliche und räumliche Trennung von den anderen Haushaltsmitgliedern einhalten. Eine zeitliche Trennung kann z. B. dadurch erfolgen, dass Mahlzeiten nicht gemeinsam, sondern nacheinander eingenommen werden. Eine räumliche Trennung kann z. B. dadurch erfolgen, dass sie sich in einem anderen Raum als die anderen Haushaltsmitglieder aufhält“. Wie solle das in der Praxis funktionieren? Die Maßnahmen müssten im Verhältnis stehen, pädagogisch sinnvoll sein. Das sei bei solchen Vorgaben zu bezweifeln. Zudem seien sie nicht zu Ende gedacht. „Konsequenter wäre es doch, einen Elternteil mit in Quarantäne zu schicken, wie es anderswo der Fall ist", sagt der Vater.

Seine Familie habe das Glück, einen eigenen Garten zu haben. Denn auch Spaziergänge im Wald seien nicht erlaubt, habe das Gesundheitsamt auf Anfrage mitgeteilt. „Man muss sich mal überlegen, was das für Familien, die in einer kleinen Wohnung leben, heißt - vor allem jetzt bei der Hitze“, ergänzt der Vater. Viele Eltern hätten jetzt mit Öffnung der Kitas und Schulen Angst vor Quarantäne, so Susann Purucker vom Jugendamtselternbeirat. Sie fühlten sich durch die Schreiben eingeschüchtert. Sollten sie also auch Kleinkinder in ihr Zimmer sperren und das Essen vor die Tür stellen? Die Anordnungen der Behörden sind realitätsfremd und lassen sich nicht umsetzen, so die Kritik von Kinderschutzbund und Elternvertretern.

„Absonderung“ ist ein ganz furchtbares Wort

„Die Formulierungen sind wirklich sehr unglücklich, schüren eher Angst, anstatt dass sie den Familien helfen“, sagt Anna Sotnikova, Fachärztin und Leitende Oberärztin in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Evangelischen Klinikum Bethel (EvKB). Das sei so sicher nicht zielführend. „Gerade kleinere Kinder brauchen Nähe und Trost“, sagt Sotnikova. Eine so strikte Anweisung verletze viele Rechte von Kindern und Eltern. Eltern hätten auch eine Fürsorgepflicht. „Absonderung“ sei ein ganz furchtbares Wort. Durch die Formulierungen würde hohe Unsicherheit geschürt, emotionale Anspannung in die Familien gebracht. „Das beeinflusst das Vertrauensverhältnis zur staatlichen Instanz, die ja eigentlich eine Schutzrolle, keine Bedrohung darstellen sollte“, ergänzt Sotnikova. Viel sinnvoller sei doch, den Familien konkrete Hilfsangebote zu machen. „Man muss eine gesunde Balance finden zwischen Schutzbedürfnis und -verpflichtung“, sagt die Expertin.

Der Bielefelder Kinderarzt Marcus Heidemann bezeichnet die Drohung der Herausnahme eines Kindes aus der Familie als schwachsinnig. „Wo soll das Kind denn untergebracht werden? Im Kinderheim?“ Behörden sollten auf das Alter betroffener Kinder Rücksicht nehmen.

Infektionsschutzgesetz unterscheidet nicht zwischen Erwachsenen und Kindern

„Das Infektionsschutzgesetz unterscheidet leider nicht zwischen Erwachsenen und Kindern“, sagt Sozialdezernent Ingo Nürnberger. Auch bei demenzkranken Menschen sei das ein großes Problem. Die rechtliche Verpflichtung müsse deutlich gemacht, die Allgemeinheit geschützt werden. Aber: „Bei den Formulierungen müssen wir nachbessern“, sagt er. Die habe Bielefeld seines Wissens nach vom Robert-Koch-Institut übernommen. Er wolle sich jetzt persönlich darum kümmern, „weil mich das selbst auch emotional bewegt und so nicht überzeugt“. Mit der Öffnung von Kitas und Schulen könne es noch häufiger zu Quarantäne-Fällen kommen. Zu überlegen sei, welche Hilfsangebote man den betroffenen Familien machen kann. „Wir haben keine Absicht, Kinder aus der Familie zu nehmen, wenn sonst alles in Ordnung ist“, ergänzt Nürnberger.