Chuss, Müntschi oder Schmutz

Was passiert wohl, wenn man einem netten Deutschen ein «Müntschi» geben will oder gar einen «Schmutz»? Er wird wohl kaum die Wange hinhalten, sondern eher die Augenbrauen hochziehen: «Wie bitte?» Die Karte für das Wort «Kuss» des neuen «Kleinen Sprachatlas

Von Geneviève Lüscher
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Die Karte für das Wort «Kuss» verzeichnet rund ein Dutzend verschiedener Bezeichnungen für den oralen Körperkontakt. (Bild: Imago)

Die Karte für das Wort «Kuss» verzeichnet rund ein Dutzend verschiedener Bezeichnungen für den oralen Körperkontakt. (Bild: Imago)

Was passiert wohl, wenn man einem netten Deutschen ein «Müntschi» geben will oder gar einen «Schmutz»? Er wird wohl kaum die Wange hinhalten, sondern eher die Augenbrauen hochziehen: «Wie bitte?»

Die Karte für das Wort «Kuss» des neuen «Kleinen Sprachatlas der deutschen Schweiz» verzeichnet rund ein Dutzend verschiedener Bezeichnungen für diesen oralen Körperkontakt: «Chuss» sagt man in der Nordostschweiz, «Schmutz» im Mittelland, um Zürich zieht man den «Schmatz» vor; im Kanton Bern verteilt man «Müntschi», im Freiburgischen «Müntsi» und im Wallis «Muntschi». Originell, aber auf das Appenzell beschränkt, ist das «Trüütli». Dieses Wort stammt vom Mittelhochdeutschen «trût», was lieb, lieber Mensch, Geliebter bedeutete. «Schmutz» ist eine lautmalerische Umsetzung des Küssens, und Müntschi kommt von Mund.

Ob heute noch jemand «Trüütli» verteilt, muss aber bezweifelt werden. Denn die Karten des kleinen Sprachatlas basieren auf Daten, die bereits ein halbes Jahrhundert alt sind. Das mag ein kleiner Wermutstropfen sein, aber Dialekt-Interessierte werden dennoch ihre Freude am Atlas haben. «Unsere Gesellschaft war kaum je zuvor so multikulturell. Vielleicht erhält deshalb die Sprachlandschaft als geistige Heimat heute eine so ungemein emotionale Bedeutung», erklärt die Germanistin und Mitherausgeberin Helen Christen.

Wortschatzkarten der Deutschschweiz (Bild: «Kleiner Sprachatlas der deutschen Schweiz»)

Wortschatzkarten der Deutschschweiz (Bild: «Kleiner Sprachatlas der deutschen Schweiz»)

Der neue Atlas stellt eine Auswahl von 120 Karten aus dem 2003 veröffentlichten grossen Sprachatlas der Schweiz (SDS) vor, ist aber für ein breites Publikum konzipiert und kartografisch vereinfacht.

Vergangene Welten

Einige Karten zeigen auch Bezeichnungen einer vergangenen Lebenswelt. So zum Beispiel die Karte «Kiltgang». Damit bezeichnete man den «abendlichen Besuch eines Burschen bei einem Mädchen». Das war nicht einfach ein beliebiger Abendspaziergang, sondern die «fest vorgeschriebene, brauchmässige Form zur Einleitung der Ehe». Im Dialekt hiess der Kiltgang in der westlichen Deutschschweiz «z Chilt gaa» (Chilt ist ein altes Wort für Nacht, Dunkelheit), um Zürich «z Liecht gaa», im Wallis geht man «uf Karess», und in St. Gallen und im Appenzell gehen die Männer «uf d Wiibi».

Die Karten sind im Sprachatlas in zwei Gruppen aufgeteilt: Karten, die unterschiedliche Wörter für den gleichen Gegenstand zeigen, und Karten, die das gleiche Wort in seiner regional unterschiedlichen Aussprache abbilden. Wortschatzkarten sind die beiden hier abgebildeten Karten für den Kuss und den Flachkuchen.

Dass der Wortschatz der am wenigsten stabile Teil einer Sprache ist, diese Erfahrung hat wohl jeder schon selber gemacht. Da gibt es Ausdrücke, die man als Kind gebraucht hat, die heute völlig passé sind, während die Jugend neue Wörter für sich kreiert. Einige Wörter gehen also verloren, aber andere bleiben und behalten ihre Vielfalt. Das sind vor allem Ausdrücke, bei denen eine emotionale Komponente im Spiel ist. Beispielsweise beim Schluckauf: Gluggsi, Hitzgi, Higger, oder beim Holzsplitter in der Haut, der Schine, Schprisse, Spiisse oder Schüpfe heissen kann.

Viele Wörter entziehen sich der Darstellung auf einer Karte, weil es zu viele Ausdrücke für sie gibt. Die Herausgeber liefern einige Beispiele in Listenform: Für die Tätigkeit des Purzelbaumschlagens gibt es über 130 verschiedene Ausdrücke, die Sommersprossen bringen es auf immerhin 42.

Der Wortschatz wird auch durch die Umwelt ständig erweitert. So eroberte die Kartoffel erst Ende des 18. Jahrhunderts die Speisezettel, und das Sofa, beziehungsweise Canapé, fand seinen Platz in den bürgerlichen Stuben erst im 19. Jahrhundert. Immerhin haben es diese Wörter noch geschafft, in verschiedenen Formen aufzutreten. «Heute sind neue Wörter überall in der Schweiz gleich; oft sind es Ausdrücke aus dem Hochdeutschen, zum Beispiel die <Fernsehübertragung>», sagt Christen, «diese neuen Ausdrücke werden dann nur je nach Dialekt eingefärbt.»

Oobe, Aabe, Oobig, Aabun

Und damit wären wir bei der zweiten Kartengruppe, die das gleiche Wort in verschiedener Aussprache zeigt. Die regional gefärbten Laute sind wesentlich beständiger als der Wortschatz. Sie verändern sich nur über lange Zeiträume hinweg. Ein Beispiel für die Lautveränderung ist die Karte zum Wort Abend: Oobe, Obe, Aabe, Oobig, Aabig, Oobet, Aabet, Oubet, Aabut, Aabun. Etwas komplizierter sind die Konjugationen von Verben und die Deklinationen von Substantiven. So kennt der Walliser drei Mehrzahlformen: «wier mache, iir machet, schi machunt». Andere Dialekte besitzen nur noch eine oder zwei Mehrzahlendungen. Diese Laute und Formen, oft winzige Unterschiede, färben den Dialekt und machen ihn – unabhängig vom Wortschatz – sofort erkennbar.

Die Kartierung der Dialektgrenzen hat gezeigt, dass es «die» Grenze nicht gibt, sondern eine Vielzahl davon. Dennoch haben sich Nord-Süd- und Ost-West-Gegensätze herausgeschält. Besonders die Nord-Süd-Grenze staffelt sich aber breit vom Mittelland bis ins Wallis. Sie wird mit alemannischen Besiedlungsschüben in Zusammenhang gebracht. Die West-Ost-Grenze hingegen ist eine alte Kulturgrenze, die mehr mit politisch-konfessionellen Unterschieden zu tun hat. Je nach dem, auf welcher Seite man wohnt, spielt man mit unterschiedlichen Jasskarten und hält Braunvieh statt Fleckvieh.

«Ob wir den Dialekt verlieren werden? Nein!», ist Helen Christen überzeugt. «Das glaubte man schon vor 200 Jahren und hat deshalb das Idiotikon ins Leben gerufen.» Heute wird der Dialekt von allen gesellschaftlichen Schichten gesprochen. «Der Dialekt ist bei uns kein Makel, im Gegenteil, man ist stolz, diese oder jene Mundart zu sprechen.»

Der «Kleine Sprachatlas der deutschen Schweiz», erscheint bei Huber, Frauenfeld, und ist im Buchhandel ab dem 20. Oktober erhältlich. 324 Seiten, 120 farbige Karten, broschiert, Fr. 29.90.

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