Der Trick mit dem Vitamin C

Während die meisten Säugetiere in der Lage sind, selbst Vitamin C herzustellen, haben höhere Primaten einschliesslich des Menschen diese Fähigkeit im Verlauf der Evolution verloren. Das Gleiche gilt für früchtefressende Fledermäuse und für Meerschweinchen. All diese Tiere – und auch

Sibylle Wehner-v. Segesser
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Während die meisten Säugetiere in der Lage sind, selbst Vitamin C herzustellen, haben höhere Primaten einschliesslich des Menschen diese Fähigkeit im Verlauf der Evolution verloren. Das Gleiche gilt für früchtefressende Fledermäuse und für Meerschweinchen. All diese Tiere – und auch wir Menschen – müssen das Vitamin deshalb mit der Nahrung aufnehmen. Gelingt das nicht, droht Skorbut, eine schwere Mangelerkrankung, die früher unter Seeleuten grassierte. Die Substanz, an der es den Kranken mangelte, wurde im frühen 20. Jahrhundert isoliert und wenig später synthetisiert. In Anlehnung an den Skorbut erhielt sie den Namen Ascorbinsäure. Als Vitamin C ergänzte sie die damals noch kurze Liste der bekannten chemischen Substanzen, die vom Menschen nur in geringsten Mengen benötigt werden, deren Mangel jedoch zu spezifischen Erkrankungen führt.

Das Unvermögen, selbst Vitamin C herzustellen, beruht auf einer Veränderung im Gen jenes Enzyms, das für den letzten Syntheseschritt benötigt wird. Bei der Entwicklung der höheren Primaten erfolgte diese Mutation nach der Abspaltung der Evolutionslinie der Lemuren und ihrer Verwandten, die bis heute zur Vitamin-C-Synthese befähigt sind, und damit vermutlich vor 40 bis 50 Millionen Jahren. Doch die höheren Primaten – wie auch die anderen betroffenen Säuger – arrangieren sich erstaunlich gut mit ihrem angeborenen Stoffwechselfehler: Beim Menschen genügt schon eine tägliche Vitamin-C-Ration von 1 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht, um Mangelerscheinungen zu verhindern. Dagegen benötigen Säugetiere, die das Vitamin selber herstellen, wesentlich grössere Mengen. So produzieren Ziegen täglich 200 Milligramm Vitamin C pro Kilogramm Körpergewicht.

Wie eine Studie jetzt gezeigt hat, kommt der geringe Bedarf beim Menschen und bei anderen Säugern ohne Vitamin-Eigenproduktion durch einen speziellen Mechanismus zustande, der das aufgenommene Vitamin C äusserst effizient bewirtschaftet.¹ Die Schlüsselrolle spielt dabei ein Protein namens Glut1 in der Zellmembran der roten Blutkörperchen. Dieses Transportprotein, das normalerweise vor allem Glukose bindet, ist laut der neuen Arbeit bei Säugern ohne körpereigene Vitamin-C-Produktion darauf spezialisiert, oxidierte – und damit nicht mehr als Antioxidans wirksame – Ascorbinsäure-Moleküle effizient in die roten Blutkörperchen einzuschleusen. Unterstützt wird es dabei durch ein Membranprotein namens Stomatin. Im Inneren der roten Blutkörperchen wird das Vitamin dann zu seiner wirksamen (reduzierten) Form rezykliert und anschliessend im Körper verteilt. Da die Milliarden roter Blutkörperchen, die im Körper zirkulieren, äusserst dicht mit Glut1-Proteinen besetzt sind – jedes rote Blutkörperchen trägt über 200 000 solche Moleküle –, hat das System einen sehr hohen Wirkungsgrad.

Dieses spezielle Transportsystem haben die Wissenschafter ausschliesslich bei jenen Säugetieren gefunden, die die Fähigkeit zur Vitamin-C-Herstellung verloren haben; bei anderen Säugern wie Hunden, Katzen, Ratten und Mäusen konnten sie es nicht nachweisen. Der biochemische Trick mit den Glut1-Transportern auf den roten Blutkörperchen, so folgern die Autoren, habe sich also vermutlich als Antwort auf den Ausfall der Vitamin-C-Synthese herausgebildet.