Der Mensch wird nicht mehr derselbe gewesen sein: Das ist die Lektion, die das Coronavirus für uns bereithält

Weltweit ergreifen Staaten drastische Massnahmen, um die Coronavirus-Epidemie in den Griff zu bekommen. Steuern wir also auf totalitäre Zustände zu, wie Giorgio Agamben mutmasst? Nein, die Revolution spielt sich ganz woanders ab.

Slavoj Žižek
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Wir werden nach der Krise vielleicht nicht mehr dieselben sein: Arbeiter in der chinesischen Provinz Sichuan gehen beim Mittagessen auf Distanz.

Wir werden nach der Krise vielleicht nicht mehr dieselben sein: Arbeiter in der chinesischen Provinz Sichuan gehen beim Mittagessen auf Distanz.

Zhong Min / EPA

Vor allem linke und liberale Kommentatoren haben festgehalten, dass die Coronavirus-Epidemie staatliche Massnahmen zur Kontrolle und Lenkung der Menschen rechtfertige, die in einer demokratischen Gesellschaft des Westens bisher undenkbar waren.

Und in der Tat: Ist die totale Abriegelung Italiens nicht wie der wahr gewordene üble Traum eines totalitären Herrschers? Wen wundert es, dass China (das bereits weithin praktizierte Arten digitaler sozialer Kontrolle anwendet) sich als am besten vorbereitet erwies, mit katastrophalen Epidemien fertigzuwerden? Und wenn China Vorbildcharakter hat, liegt es dann nicht auf der Hand, dass wir uns langsam, aber sicher einem globalen Ausnahmezustand annähern?

Diejenigen, die so argumentieren, berufen sich gerne auf den italienischen Philosophen und Ausnahmezustand-Theoretiker Giorgio Agamben. Er hat seine Sicht der Dinge, wonach der Westen auf ein Regime des Ausnahmezustands zusteuert, in den letzten zwanzig Jahren in zahlreichen Büchern dargelegt. Nun hat er sich auch in die Debatte um die Auswirkungen der Coronavirus-Epidemie eingeschaltet.

Giorgio Agambens Sicht

In einem Beitrag beklagte Agamben die «hektischen, irrationalen und völlig unbegründeten Notstandsmassnahmen, die wegen einer mutmasslichen Epidemie des Coronavirus ergriffen wurden», die nichts weiter sei als eine andere Version der Grippe. Und er fragte: «Warum tun die Medien und Behörden alles, um ein Klima der Panik zu schaffen und damit einen echten Ausnahmezustand herbeizuführen – mit schweren Beeinträchtigungen der Bewegungsfreiheit und einer Aussetzung des Alltagslebens und der Arbeitsaktivitäten ganzer Regionen?»

Agamben sieht also den Hauptgrund für diese «unangemessene Reaktion» in «der zunehmenden Neigung, den Ausnahmezustand als normales Regierungsparadigma zu nutzen» – die auferlegten Massnahmen ermöglichen es der Regierung, unsere Freiheiten durch Verwaltungsanordnungen ernstlich einzuschränken. «Es ist eklatant», schreibt er weiter, «dass diese Einschränkungen in keinem Verhältnis zu der tatsächlichen Gefahr stehen, laut dem italienischen nationalen Forschungsrat nämlich einer normalen Grippe, die sich nicht sehr von der Influenza unterscheidet, die uns jedes Jahr befällt. Wir könnten sagen: Nachdem der Terrorismus als Rechtfertigung für ausserordentliche Massnahmen ausgedient hat, könnte die Erfindung einer Epidemie den idealen Vorwand dafür liefern, solche Massnahmen über alle Begrenzungen hinaus auszuweiten.»

Der italienische Starphilosoph schildert einen wichtigen Aspekt der Funktionsweise staatlicher Kontrolle im Rahmen der laufenden Epidemie, doch es bleiben entscheidende Fragen offen: Warum sollte staatliche Macht daran interessiert sein, eine derartige Panik zu fördern, die mit Misstrauen gegenüber der Staatsmacht einhergeht und zudem die reibungslose Reproduktion des Kapitals stört? Liegt es wirklich im Interesse von Kapital und Staatsmacht, eine globale Wirtschaftskrise auszulösen, damit ihre Herrschaft erneuert werden kann? Sollen die deutlichen Zeichen, dass nicht nur die normalen Leute in Panik sind, sondern auch die Staaten selbst, wirklich nichts als ein Trick sein?

Mehr Differenzierung, bitte!

Agambens Reaktion ist nur die äusserste Form einer bei der Linken weitverbreiteten Einstellung. Die durch die Ausbreitung des Virus verursachte «übertriebene Panik» soll demnach dem doppelten Zweck dienen, einerseits durch soziale Kontrolle Macht auf Menschen auszuüben und anderseits Rassismus salonfähig zu machen («gebt China die Schuld»). Diese gesellschaftliche Interpretation behandelt das Virus also als Konstrukt und blendet den Realitätsgehalt der Gefahr vollständig aus. Ja, die Welt ist wohl gerade ziemlich verrückt – aber diese reduktionistische Sicht ist es nicht minder.

Quarantäne und ähnliche Massnahmen schränken unsere Freiheit ein, und hier brauchen wir zweifellos neue Julian Assanges, um deren möglichen Missbrauch aufzudecken. Doch die Gefahr einer Virusinfektion brachte auch einen ungeheuren Auftrieb für neue Formen lokaler und globaler Solidarität mit sich; ausserdem machte sie deutlich, dass eine Kontrolle über die Macht selbst nötig ist. Die Menschen halten die Staatsmacht zu Recht für verantwortlich: Ihr habt die Macht, jetzt zeigt, was ihr könnt! Die Herausforderung für Europa besteht darin, zu beweisen, dass das, was China gemacht hat, auf transparentere und demokratischere Art zu schaffen ist.

Der amerikanische Soziologe Benjamin Bratton hat mir geschrieben: «China hat Massnahmen getroffen, die in Westeuropa und in den USA wahrscheinlich nicht toleriert würden, möglicherweise zu ihrem eigenen Schaden. Offen gesagt, ist es ein Fehler, alle Formen von Messung und Modellbildung reflexhaft als ‹Überwachung› und aktive Steuerung als ‹soziale Kontrolle› zu deuten. Wir brauchen ein anderes und stärker differenziertes Vokabular für Interventionen.» Ich finde: Bratton hat absolut recht – wir brauchen weniger Pauschalisierung und mehr Differenzierung.

Alles hängt von diesem «stärker differenzierten Vokabular» ab: Die aufgrund der Epidemie erforderlichen Massnahmen sollten nicht automatisch auf das übliche Paradigma von Überwachung und Kontrolle reduziert werden, das früher von Denkern wie Michel Foucault oder heute von Giorgio Agamben propagiert wird. Mehr als die in China (und Italien und anderswo) ergriffenen Massnahmen fürchte ich, dass sie die Massnahmen lasch durchführen. Am Ende greifen sie nicht und dämmen die Epidemie nicht ein, wobei die Behörden zugleich die echten Daten manipulieren und verschleiern. Und das wäre aus meiner Sicht ein mögliches Worst-Case-Szenario.

Die philosophische Revolution

Doch rechte und linke Konstruktivisten weigern sich, die tatsächliche Realität der Epidemie zu akzeptieren. Das ist Ideologie in ihrer reinsten Form. Trump und seine Anhänger reden immer wieder so, als sei die Epidemie ein von den Demokraten und China geführter Anschlag, der dafür sorgen solle, dass er, Trump, die anstehende Präsidentschaftswahl im November verliere. Einige auf der Linken dagegen verurteilen die vom Staat und den Gesundheitsapparaten vorgeschlagenen Massnahmen als Ausdruck fremdenfeindlichen Handelns und bestehen deshalb darauf, sich weiter die Hand zu geben. Eine solche Einstellung verfehlt jedoch die paradoxe Situation: Die heutige Form von Solidarität besteht gerade darin, sich nicht die Hand zu geben und sich auch abzusondern, wenn es erforderlich ist.

Besonders ärgerlich finde ich jedoch, wie die meisten Medien, wenn sie eine Schliessung oder eine Absage ankündigen, regelmässig eine zeitliche Begrenzung hinzufügen – Formeln wie «Die Schulen werden bis zum 4. April geschlossen bleiben». Sie suggerieren damit, dass die Dinge nach dem Höhepunkt, der schnell erreicht werden sollte, wieder zur Normalität zurückkehren – in diesem Sinn hat man mir schon mitgeteilt, dass ein Unisymposion einfach auf den September verlegt werde. Der Haken dabei ist, dass die Coronavirus-Epidemie unser Zusammenleben fundamental verändern wird. Das Leben wird, selbst wenn es am Ende wieder zur Normalität zurückkehrt, auf andere Weise normal sein, als wir es vor dem Ausbruch gewohnt waren.

Dinge, die wir gewöhnlich als Teil unseres Alltags erlebt haben, werden nicht mehr als normal gelten; wir werden gelernt haben, ein weit zerbrechlicheres Leben mit ständigen Bedrohungen zu führen. Wir werden unsere gesamte Einstellung gegenüber dem Leben anpassen – gegenüber unserer Existenz als Lebewesen inmitten anderer Lebensformen. Anders gesagt: Wenn wir Philosophie als Bezeichnung für unsere Grundorientierung im Leben verstehen, werden wir eine echte philosophische Revolution erfahren. Wir werden nach Corona anders über uns selbst denken als zuvor. Nur wie?

Eine Hypothese

Um das deutlicher herauszuarbeiten, möchte ich eine Definition zitieren, die vom amerikanischen Philosophen Daniel Dennett stammt: Viren sind «alle möglichen ansteckenden, gewöhnlich ultra-mikroskopisch kleinen Wirkstoffe, die aus Nukleinsäuren in einer Proteinhülle bestehen (entweder DNS oder RNS). Sie infizieren Tiere, Pflanzen und Bakterien und pflanzen sich ausschliesslich in lebenden Zellen fort. Viren gelten als nicht lebendige chemische Entitäten oder gelegentlich als lebende Organismen.»

Diese Oszillation zwischen lebendig und tot ist entscheidend: Im Sinne der gewöhnlichen Bedeutung dieser Worte sind Viren weder lebendig noch tot; sie sind eine Art von lebenden Toten – ein Virus lebt dank seinem Drang, sich fortzupflanzen. Doch dabei handelt es sich um eine Art Leben auf Ebene null, eine biologische Karikatur, wenn auch weniger eine des Todestriebs als eine des Lebens auf seinem simpelsten Niveau von Fortpflanzung und Vermehrung.

Viren sind nicht die Lebensform, aus der höher entwickelte Formen hervorgegangen sind; sie sind reine Parasiten und pflanzen sich fort, indem sie höher entwickelte Organismen infizieren (wenn wir durch ein Virus infiziert werden, dienen wir einfach als Kopiereinrichtung). In diesem Zusammenfallen der Gegensätze – elementar und parasitär – liegt das Mysterium der Viren begründet: Sie sind ein Fall für das, was für Schelling «der nie aufhebbare Rest» ist; ein Rest niedrigster Lebensform, der als Produkt einer Fehlfunktion höherer Vermehrungsmechanismen in Erscheinung tritt und sie weiterhin heimsucht (infiziert), ein Rest, der niemals wieder in das untergeordnete Moment einer höheren Ebene des Lebens integriert werden kann.

Hier treffen wir auf das, was Hegel als spekulatives Urteil bezeichnet – die Identität des Höchsten und des Niedrigsten. Hegels bekanntestes Beispiel ist «Der Geist ist ein Knochen» aus seiner Analyse der Phrenologie in der «Phänomenologie des Geistes», und unser Beispiel sollte lauten «Der Geist ist ein Virus» – ist der menschliche Geist nicht auch eine Art Virus, das als Parasit im Menschentier lebt, es für die eigene Fortpflanzung ausbeutet und manchmal droht, es zu vernichten? Und soweit das Medium des Geistes die Sprache ist, sollten wir nicht vergessen, dass Sprache auf ihrer elementarsten Ebene auch etwas Mechanisches ist, eine Angelegenheit von Regeln, die wir zu lernen und zu befolgen haben.

Der britische Evolutionsbiologe Richard Dawkins behauptet, Memes seien «Viren des Geistes», parasitäre Wesen, welche die Macht des Menschen kolonisieren und sie als Mittel zur eigenen Vermehrung nutzen. Und Daniel Dennett schreibt: «Eine Person ist ein Hominide mit einem infizierten Gehirn, dem Wirt für Millionen kultureller Symbionten. Deren wichtigste Wegbereiter sind die als Sprache bekannten symbiotischen Systeme.» Doch war es niemand anderer als Leo Tolstoi, der diese Idee als Erster vorbrachte.

Die Grundkategorie von Tolstois Anthropologie ist die Infektion. Er sieht das menschliche Wesen als ein passives leeres Medium, das von affektbeladenen kulturellen Elementen infiziert ist, die wie ansteckende Bazillen sich von einem Individuum zum anderen ausbreiten. Und Tolstoi geht hier bis ans Ende: Dieser Ausbreitung affektiver Infektionen setzt er keine echte geistige Autonomie entgegen; er schlägt keine heroische Vision einer Selbsterziehung zu einem autonomen ethischen Subjekt vor, das sich zu diesem Zweck der ansteckenden Bazillen entledigt. Es gibt allein den Kampf zwischen guten und schlechten Infektionen: das Christentum selbst ist eine Infektion, wenn auch – für Tolstoi – eine gute.

Das die verstörendste Lektion, die die anhaltende Virus-Epidemie für uns bereithält: Der Mensch ist viel weniger souverän, als er denkt. Er trägt weiter, was ihm zugetragen wird. Er spricht und weiss nicht, was er sagt. Er taucht auf – und irgendwann verschwindet er wieder von der Erdoberfläche. Das muss er aushalten können, ohne verrückt zu werden.

Slavoj Žižek ist Philosoph und Psychoanalytiker. Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Reuter.