Die in einer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde in New York aufgewachsene Autorin Deborah Feldman hat ihre Heimat in Berlin gefunden. (Bild: Dominik Butzmann / Laif)

Die in einer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde in New York aufgewachsene Autorin Deborah Feldman hat ihre Heimat in Berlin gefunden. (Bild: Dominik Butzmann / Laif)

Interview

Deborah Feldman: «In Deutschland bedeutet jüdisch sein, sich mit dem Antisemitismus zu identifizieren»

Die Autorin Deborah Feldman ist eine vernehmbare Stimme der jüngeren Generation von Juden in Deutschland. Die Diskussion um den neuen Antisemitismus hält sie für übertrieben. Die deutsche Erinnerungskultur betrachtet sie kritisch.

Claudia Schwartz
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Deborah Feldman, Sie sind vor zehn Jahren der orthodoxen Gemeinschaft der Satmarer Chassidim in Williamsburg, New York, entflohen. Hatte Ihre Flucht Vorbildcharakter für andere?

Es gibt verschiedene Faktoren. Als ich ging, waren es vielleicht um die vierzig Leute weltweit, von denen ich wusste, dass sie gerade auch überlegten zu gehen oder dass sie gerade ausgestiegen waren. Das liegt nicht nur an mir, es gab auch andere Leute, die darüber geschrieben oder Filme gemacht haben. Heute sind es ein paar tausend! Ich war Teil der ersten Welle, kann man sagen.

Was könnten dann die Gründe sein?

Anfang der 2000er Jahre gab es plötzlich Smartphones, die waren sehr schwierig zu kontrollieren. Die Leute hatten plötzlich Zugang zu Google. Sie konnten dort eintippen: «Google, gibt es Gott?», und Google hat gesagt: «Vielleicht»; «Jein»; «Schau dir mal die Antworten anderer an». Das hat ganz viel Zweifel in die Gemeinde gebracht. Und dann ist es ja auch so, dass wenn man Männer fragt: «Warum bist du gegangen?», dann sagen sie: «Weil ich eine Glaubenskrise hatte.» Viele Männer gehen raus, weil sie denken, sie lebten eine Lüge. Frauen steigen oft aus sehr existenziellen Gründen aus, weil sie von Gewalt bedroht sind, wegen Missbrauchs oder weil sie denken, sie könnten ihre Kinder nicht schützen.

Sie sagen, dass das Internet und soziale Plattformen den Leuten auf ihrem Weg in die Freiheit helfen. Glauben Sie, dass es in Zukunft schwieriger wird für diese Gemeinde zu überleben, erodiert hier etwas?

Also, die Situation ändert sich auf jeden Fall. Aber die Gemeinde ist darin geübt, sich an Änderungen anzupassen, sie wird strenger. Was für mich als Mädchen möglich war, dass ich mich in eine Bibliothek reinschleichen konnte, das wird nicht mehr möglich sein. Und Sie müssen daran denken, dass die Familien dieser Gemeinde zwischen zehn und zwanzig Kinder haben. Und so ist die Haltung: «Wenn wir ein paar verlieren, haben wir immer noch genug.» Das sagen ja auch die Rabbiner: «Eigentlich ist es uns egal, solange wir den Rest behalten können.»

Frauen der Satmarer Chassidim-Glaubensgemeinschaft in Brooklyn. (Bild: Stephanie Keith / Reuters)

Frauen der Satmarer Chassidim-Glaubensgemeinschaft in Brooklyn. (Bild: Stephanie Keith / Reuters)

Sie sind nach Ihrer Flucht durch ganz Europa gereist. Warum sind Sie ausgerechnet in Deutschland geblieben?

Also, ich bin ja erst mal nach Berlin gekommen. Berlin ist voll mit Ausländern, Amerikanern, Juden, Israeli. Berlin ist der letzte Ort in der westlichen Welt, wo man auch das Gefühl hat, die Dinge bewegen sich. Es ist eine sehr attraktive Stadt vor allem für Entwurzelte. Ich habe hier viele entwurzelte Personen kennengelernt.

Warum haben Sie den deutschen Pass beantragt?

Ein Freund hat mir das 2014 empfohlen, damit ich einen europäischen Pass habe. Das war damals rein strategisch. Und ich dachte mir, stimmt, ich habe deutsche Vorfahren, ich mache das. Im Zuge dieses Verfahrens musste ich entdecken, dass es ein grosses Familiengeheimnis gab, nämlich dass mein Urgrossvater, von dem ich dachte, er sei ein ganz normaler deutscher Jude gewesen, tatsächlich ein uneheliches Kind eines deutschen Katholiken war. Der hat inbrünstig versucht, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erlangen, und das hat – aus antisemitischen Gründen – nicht geklappt. Das hat er nie überwunden. Und mir war es nun irgendwie wichtig, für ihn diese Staatsangehörigkeit zu erwerben, sie an seiner Stelle zu bekommen.

Sie haben hier eine Heimat gefunden?

Es war auch das Gefühl, dass man seine Wurzeln wieder findet in diesem Land, das von meinen Vorfahren einmal verlassen werden musste. Im Zusammenhang mit der Geschichte der Mutter meines Urgrossvaters wurde mir klar, wie viele Juden, die aus dem Schtetl flohen, während der Aufklärungszeit nach Berlin gekommen sind, um da in Freiheit zu leben. Ich hatte mich sowieso schon in dieser Tradition gesehen: Ich bin jetzt aus dem Schtetl geflohen und bin in die Stadt der Aufklärung gekommen. Das hat mir erst einmal das Gefühl gegeben, dass ich hier richtig bin. Und ich kann mir nicht vorstellen, Berlin zu verlassen.

Sie schreiben einmal, die Frage aller Fragen sei: «Wie kann ich mein Jüdischsein für mich erträglich machen?»

Das war ein langer Kampf, ja. Ich erkläre auch am Anfang des Buches, wie man mir beigebracht hat, was das Jüdischsein zu bedeuten hat, und als wie belastend ich das empfunden habe. Die Frage ist, wie ich als Kind damit umgehen kann, wenn man mir sagt, dass Jüdischsein bedeutet, immer verfolgt zu werden und nie in der Aussenwelt akzeptiert zu werden und immer für irgendetwas büssen zu müssen und immer Angst vor Gott zu haben. Es hat lange gedauert, bis ich realisiert habe, dass die jüdische Identität keine Belastung bedeuten muss.

Sind Sie der Meinung, dass die Deutschen mit ihrer Erinnerungskultur sich von ihrer Schuld befreien wollen?

Nein, das ist für mich nicht relevant, weil das alles so abstrakte Argumente sind. Was mich sehr stört, ist diese Erinnerungskultur von oben herab, es ist von oben herab aufgezwungen. Es gibt eine öffentliche kollektive Erinnerungskultur, bei der es keinen Platz für das Individuum gibt.

Welche Erinnerungskultur meinen Sie?

Ich meine den gesellschaftlichen Diskurs, die Art, wie das in den Schulen verbreitet wird, diese Kultur von Beschämung. Es gibt diesen Zwiespalt, dass der Deutsche an einer öffentlichen Erinnerungskultur teilnimmt, aber innerlich eine ganz andere Entwicklung durchläuft. Man muss halt bereit sein zu sehen, dass es immer noch ganz viel Hässlichkeit in der Gesellschaft gibt.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Ich habe zum Beispiel bei einer Diskussionsveranstaltung einen Mann erlebt, der war fast 90 Jahre alt, und er behauptete, dass er als Kind 1943 in einem von NSDAP-Mitgliedern bewohnten Haus lebte und mit einer Jüdin im Hof gespielt hatte. Auf die Frage, was mit ihr passiert sei, sagte er, sie sei ins Krankenhaus gebracht worden, die Operation sei nicht gelungen, und da sei sie gestorben. Bei diesem Mann, der sich lebenslang aufrichtig für das Thema interessierte, zeigte sich diese Unfähigkeit, mit der Wahrheit klarzukommen. Der Mann hat zwar diese kollektive Erinnerung mitgemacht, aber er hat die individuelle Erinnerung davon abgehängt. Er sieht immer noch sein Leben als eine Ausnahme. Aber das Ziel jener Veranstaltung war zu zeigen, dass es um meine Generation geht. Meine Generation ist nicht traumatisiert. Sie hat die Chance, dass man das endlich einmal richtig hinkriegt, und sie findet, dass sich der Diskurs ändern muss, dass eine Erneuerung zustande kommen soll.

Was halten Sie von Max Czolleks Forderung, sich als Jude heute in Deutschland zu desintegrieren?

Er hat eine bewundernswerte Haltung. Aber ich bin natürlich als ein Kind der Aufklärung anderer Meinung, stehe eher in der Tradition von Hannah Arendt: Integriert euch, ändern wir die Gesellschaft. Was mich an Czollek beeindruckt hat, ist diese Aussage, die er macht, und die ist ja nicht neu. Es gibt eine ganz alte Tradition im Judentum, die sagt: Vermengt euch nicht, integriert euch nicht. Das beruht auf dem Mythos der Diaspora, die begründet ist in einer Geschichte, wonach die Juden nach der Zerstörung des zweiten Tempels ins Exil vertrieben wurden. Und dann kam Gott und sagte: «Ich werde einen dritten, einen ewigen Tempel aufbauen, aber dafür müsst ihr drei Dinge schwören: Ihr werdet nie das Land zurückerobern, ihr werdet euch immer bedingungslos im Exil unterwerfen und ihr werdet euch immer von den fremden Völkern unterscheiden.» Die ganze Geschichte der Juden in der Diaspora gründet darauf. Wenn die Juden diese Schwüre einhalten, bekommen sie den dritten Tempel. Das bedeutet, dass sie sich in den Tausenden Jahren nicht haben vermengen, nicht haben integrieren lassen. Für mich ist das, was Czollek sagt, ähnlich wie das, was die Rabbiner in meiner Gemeinde gesagt haben, und die sind ja nicht so weit damit gekommen. Aber ich glaube, ich bin da einfach befangen wegen meines Hintergrundes.

Inwiefern?

Meine Lebenserfahrung hat mir etwas anderes beigebracht, nämlich: Man muss Verbindungen aufbauen, man muss Brücken bauen, es geht für mich nicht darum, sich einer Leitkultur zu unterwerfen. Dieses Abschotten, das finde ich destruktiv und unmodern, anachronistisch.

Deborah Feldman glaubt, dass die jüngere Generation in Deutschland ihren eigenen Weg finden muss im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. (Bild: Sean Gallup / Getty)

Deborah Feldman glaubt, dass die jüngere Generation in Deutschland ihren eigenen Weg finden muss im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. (Bild: Sean Gallup / Getty)

Kürzlich hat die EU-Kommission Umfrageergebnisse zum Antisemitismus veröffentlicht: Mehr als ein Drittel aller Juden in der EU haben in den vergangenen fünf Jahren ans Auswandern gedacht. 41 Prozent von über tausend Befragten in Deutschland haben angegeben, schon eine antisemitische Erfahrung gemacht zu haben. Der europäische Durchschnitt diesbezüglich liegt bei 28 Prozent. Und 85 Prozent der Juden in der EU bezeichnen Antisemitismus, die Fragen der Sicherheit und Judenfeindlichkeit als ihr grösstes Problem.

Ich weiss nicht, ob die Situation in Amerika so gross anders ist. Aber jeder Jude, der in seinem Leben einmal Antisemitismus erlebt hat, wird bei dieser Frage sagen, Antisemitismus sei sein Hauptproblem. Das ist eine Frage der psychologischen Einstellung. Vor allem in Deutschland bedeutet jüdisch zu sein eigentlich, sich hauptsächlich mit diesem Problem zu identifizieren, egal, ob man das erlebt hat oder nicht. Natürlich erleben viele Juden Antisemitismus. Aber es gibt Leute, die hier freiwillig leben, hier bleiben wollen und gleichzeitig sagen können, sie hassten es, hier zu sein; sie hassen die Menschen, die sie umgeben, und glauben, dass sie hauptsächlich von Antisemitismus umgeben sind. Und das zeigt auch einen Zwiespalt, den die jüdische Gemeinde antreibt, nämlich dass man sich einerseits ständig bewusst ist, dass man als Jude Feinde hat und die Lage schlimm ist, weil es ständig so dargestellt wird. Andrerseits ist das alltägliche Leben ganz schön und okay. Und wenn man dann fragt: «Warum gehst du denn nicht, du sagst doch immer, dass du nach Israel gehst», dann kommt die Antwort: «Ja, aber in Israel ist das alles ganz scheisse.» (Lacht.) Deshalb muss man bei solchen Umfragen «follow-up questions» stellen. Natürlich, jeder Jude würde sagen: «Klar, ich denke immer darüber nach, wann ich gehe.» Das ist eine sehr komplizierte Situation.

Wie reagieren Sie, deren geliebte Grossmutter die ganze Familie im Holocaust verloren hat, auf Aussagen wie jene von Alexander Gauland?

Ja, Sie kennen die Antwort. Es ist natürlich eine grosse Beleidigung, das ist eine tiefe, tiefe Verletzung. Wenn Herr Gauland sagt, der Holocaust sei ein Vogelschiss, beleidigt das die Deutschen, diese ganze Aufarbeitung in Deutschland, worauf man auch stolz sein kann und soll. Dass jemand vor dem Volk aufstehen kann und immer noch so etwas sagen kann, das ist zutiefst enttäuschend. Aber wir müssen an Leuten wie Gauland vorbeikommen können.

Wie soll die deutsche Gesellschaft darauf reagieren?

Also mein Gefühl ist ein bisschen Mitleid, dass einer so wenig Fortschritte machen kann. Ein bisschen Trauer. Aber trotzdem heisst das, dass solche Leute nicht unsere Gesellschaft bestimmen, das ist nicht Deutschland. Man sollte diese Leute nicht so in den Fokus stellen. Sie sind nicht die Mehrheit.

Deborah Feldman, 1986 in New York geboren, verliess im Alter von 23 Jahren die ultraorthodoxe Satmarer Glaubensgemeinschaft in Williamsburg, New York, und brach damit alle Verbindungen zu ihrer Familie ab. In ihren autobiografischen Büchern «Unorthodox» (2016 in deutscher Übersetzung erschienen) und «Überbitten» (2017) beschreibt sie Kindheit, Jugend und Neubeginn in Deutschland. Feldman lebt in Berlin.