Der mögliche Laborunfall in Wuhan und die Medien: Wenn Reflexe wichtiger sind als Recherchen

Wer die Theorie infrage stellte, dass das Coronavirus von Tieren übertragen worden sei, wurde in vielen Medien als Aluhut und Verschwörungstheoretiker niedergemacht. Zu Unrecht, wie sich jetzt zeigt.

Stephan Russ-Mohl 42 Kommentare 5 min
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Die Suche nach der Wahrheit ist schwierig: WHO-Vertreter in China, Januar 2021.

Die Suche nach der Wahrheit ist schwierig: WHO-Vertreter in China, Januar 2021.

Ng Han Guan / AP

Es kann nicht sein, was nicht sein darf: So liesse sich zusammenfassen, wie wechselhaft manche Medien monatelang über die These berichtet haben, wonach das Covid-19-Virus nicht zufällig vom Tier auf den Menschen übergesprungen sei, sondern auf einen Laborunfall in Wuhan zurückzuführen sei. Was tatsächlich stimmt, wissen wir nicht, und wir werden es vermutlich auch nie erfahren.

Wenn es ein Laborunfall war, dann hätte die chinesische Staatsmacht allergrösstes Interesse daran, dies zu vertuschen – und auch viele Machtmittel, das weiterhin zu tun. Aber selbst wenn sich ein ähnlicher Unfall im Westen zutragen würde, wäre angesichts der Geheimhaltung in der Militärforschung nicht ohne weiteres zu erwarten, dass unabhängige Journalisten die Wahrheit ans Tageslicht bringen könnten.

Böses «China-Bashing»

Damit ist das Berichterstattungs-Dilemma umschrieben, aber noch nicht die Wellenbewegung erklärt, mit der die Medien über die Entstehung des Virus spekuliert haben. Am Anfang kam Präsident Donald Trump der chinesischen Regierung zu Hilfe: Weil er vom «China-Virus» sprach und sich die Labor-These zu eigen machte, bezogen viele US-Leitmedien reflexartig die Gegenposition.

In US-Medien wurden Trump und andere Republikaner bezichtigt, anti-asiatischen Rassismus zu schüren, «Verschwörungstheorien» zu verbreiten, wobei Vox süffisant darauf hinwies, dass man es mit Leuten zu tun habe, die regelmässig «China-Bashing» betrieben.

Diese Position war auch mangels Beweisen und Recherchemöglichkeiten bequem. Dies gerade in einem Land wie China, das zwar riesengross, aber gegenüber neugierigen westlichen Journalisten zumindest dann hermetisch abgeriegelt ist, wenn es um Regierungsinteressen geht. Hinzu kommt, dass die Labor-These von einigen Verfechtern mit der Behauptung verknüpft wurde, das Coronavirus sei im Rahmen eines chinesischen Biowaffenprogramms entstanden – was es umso leichter machte, die Möglichkeit eines Labor-Lecks ins Reich der Aluhüte und Verschwörungstheoretiker zu verbannen.

Zuvor galten derartige Schmähungen all jenen, die rechtzeitig vor der Pandemie selbst gewarnt hatten. Nachdem die Pandemie unleugbar ausgebrochen war und die Bilder der Leichentransporte von Bergamo um die Welt gingen, galten sie wiederum denjenigen, die an den «alternativlosen» Lockdowns der Regierungen Zweifel anmeldeten.

«Super-GAU»

Im Hinblick auf einen allfälligen Laborunfall reagierten viele Medien selbst dann noch mit der bewährten Diffamierungsstrategie, als die aus Hongkong geflüchtete Virologin Yan Limeng der These im Herbst 2020 neuen Auftrieb gab – mit neuen Indizien und tatkräftiger Unterstützung aus dem rechtskonservativen Lager in den USA. Wegen dieser Unterstützung überschlugen sich Journalisten und selbsternannte Faktenprüfer erneut mit Begriffen wie «Quatsch-Studie», «Verschwörungserzählung» und «Mythen», die von Trump persönlich verbreitet würden (womit offenbar alles gesagt war).

Das Interesse der Leitmedien erwachte allerdings neu, als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Ende März 2021 nach langen Recherchen ihres internationalen Forscherteams die Laborthese für äusserst unwahrscheinlich erklärte – und sich herausstellte, dass dieses Team vor Ort an wichtige Informationen gar nicht herangekommen war.

In dieser Situation legte in Deutschland der Nanophysiker Roland Wiesendanger nach. Er präsentierte nach einjährigen Recherchen seine Faktensammlung, die nach seiner Ansicht mit hoher Wahrscheinlichkeit die Labor-These bestätigt. Was ihm einen wilden Proteststurm aus allen möglichen Lagern eintrug. Darauf ruderte die Pressestelle der Universität Hamburg, die seine Studie zunächst promotet hatte, prompt zurück.

Der frühere Chefredakteur von «Bild der Wissenschaft», Reiner Korbmann, der heute als Blogger auf die Wissenschaftskommunikation Einfluss nimmt, erklärte nicht etwa den Labor-Unfall, sondern die Wissenschaftskommunikation über Wiesendangers Thesen zum «Super-GAU hoch drei». Als wäre ein GAU, also ein grösster anzunehmender Unfall, nicht schon genug und noch beliebig steigerungsfähig.

Anfällig für chinesische Propaganda

Dabei hatte Wiesendanger nur etwas getan, was Wissenschafter viel öfter tun sollten: Er hat interdisziplinär gearbeitet. Und er hat mit langem Atem sowie akribisch, wenn auch vielleicht bei der Quellennutzung etwas zu wenig wählerisch, zusammengetragen, was er an widersprüchlichen Erkenntnissen zur Herkunft des Covid-19-Virus finden konnte. Als Summe seiner Recherche präsentierte er dann die These, das Virus sei ein gentechnisches Laborprodukt.

Nicht an der These, sondern an der Vorgehensweise von Wiesendanger entzündete sich diesmal die mediale Kritik. Sie offenbarte dabei eigentlich nur die Hilflosigkeit der Öffentlichkeit im Umgang mit Wissenschaft. Moniert wurde, dass Wiesendanger fachlich nicht zuständig war, sein Thesenpapier eine «Studie» genannt hatte und dass er diese auf einer Plattform ohne Peer-Review veröffentlicht hatte.

Das stimmte alles, zielte aber an der Sache selbst vorbei und zeigte nur noch einmal, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Wenn es nämlich in der Wissenschaftskommunikation einen GAU gegeben haben sollte, dann bestünde er darin, dass in vielen Redaktionen seit Jahr und Tag Wissenschaftsjournalisten fehlen, die eine Meldung wie jene über Wiesendangers Nachforschungen angemessen einordnen können. Aber Hand aufs Herz: Dieser GAU ist längst Alltag.

Der zweite alltägliche GAU besteht darin, dass manche Redaktionen – auch weil sich in China Auslandskorrespondenten nicht frei bewegen können – ohne weitere Prüfung chinesische Propaganda weiterverbreiten. Sie haben so nicht nur mithilfe der WHO, an deren Unabhängigkeit von China man zweifeln darf, die offizielle chinesische Lesart zur Herkunft des Virus verbreitet.

Sie haben auch an der Legende gestrickt, China habe Massstäbe bei der Virusbekämpfung gesetzt. Beides – der Mangel an Kompetenz in manchen Redaktionen in Verbindung mit Propagandagläubigkeit gegenüber einer Diktatur – hat vermutlich dazu beigetragen, dass sich manche Regierungen von Lockdown zu Lockdown treiben liessen.

Ein bisschen Selbstkritik

In den US-Medien waren in den letzten Wochen zumindest einige selbstkritische Töne zu hören. Die «Washington Post» zum Beispiel hat einen Titel über «Verschwörungstheorien» abgeschwächt, andere publizieren Hinweise zu alten Artikeln, damit diese nicht allzu alt wirken. Die «New York Times» veröffentlichte Ende Mai einen Kommentar ihres konservativen Ex-Mitarbeiters Bret Stephens. Allzu viele mediale Gatekeeper, so schreibt Stephens, hätten lieber zensuriert und diffamiert, als die Labor-These ernst zu nehmen – und damit gezeigt, dass sich die schlimmsten Feinde der Wissenschaft auch unter jenen fänden, die gerne im Namen dieser Wissenschaft sprächen.

Dass jetzt ausgerechnet der neue amerikanische Präsident Joe Biden mit seinem Auftrag an die US-Geheimdienste, dem Ursprung des Virus nachzuspüren, der These vom «lab leak» neuen Auftrieb gibt, wird indes kaum der Wahrheitsfindung dienen. Dazu ist die Suche nach der Herkunft des Erregers politisch zu heikel. China fürchtet, als «Schuldiger» an der Pandemie angeprangert zu werden.

Wäre das Virus tatsächlich aus einem Labor entwichen, wäre das im Übrigen ein starker Beleg für unverantwortbare Forschungsaktivitäten. Dass dies zumindest möglich ist und dass vergleichbare Forschungsarbeiten wohl auch anderswo hinter verschlossenen Türen stattfinden, sind die eigentlichen beunruhigenden «News». Denn die Türen sind eben womöglich doch nicht 100-prozentig verschliessbar. Diese Nachricht ist freilich weder ganz neu noch wirklich nachgewiesen, sondern «nur» plausibel.

Sie könnte die nächste Pandemie auslösen, oder eben auch nur die nächste Infodemie. Dass nicht nur Aluhutträger und Verschwörungstheoretiker, sondern auch Journalisten ihr Geschäft mit der Angst betreiben und dabei auch immer wieder dem journalistischen Herdentrieb folgen, macht den Umgang mit solchen Nachrichten nicht leichter.

Obendrein dürfte es den meisten Menschen, die von dem Virus angesteckt werden, egal sein, ob es von Fledermäusen übertragen wird oder aus einem chinesischen Forschungslabor stammt. Für sie ist es wichtiger, dass es einen Impfstoff gibt.

Trotzdem hat Reiner Korbmann recht: «Allein diese Tatsache, dass niemand mit guten Argumenten den Laborunfall sicher ausschliessen kann, ist aufregend genug. Wir hatten eine Pandemie mit bisher über 3,5 Millionen Toten und unermesslichen Schäden weltweit. Welches wertvolle molekularbiologische Experiment könnte rechtfertigen, solche Risiken auch nur im extrem Unwahrscheinlichen in Kauf zu nehmen? Darüber muss die Wissenschaft mit der Gesellschaft diskutieren.»

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Thomas Seiler

Auch anhand der Sequenz der Erbsubstanz ist noch nicht nachweisbar wie dieses Virus entstand und in welchem Wirt es mutierte. Die Suche nach den Zwischenwirten ist die Suche nach der Nadel im Heuhaufen und unbeantwortet. Der Beweis einer Zoonose ist nicht vorhanden. Die WHO Expertenkommission formuliert in ihrem Schlussbericht mit "wahrscheinlich bis sehr wahrscheinlich". Damit ist weiterhin alles offen, auch der mögliche Laborunfall. Physiker Wiesendanger behauptet lediglich: "Solange kein Zwischenwirtstier identifiziert ist, gibt es keine wissenschaftliche Grundlage, um von einer Zoonose auszugehen". Völlig richtig. In einer Diskussion mit Studenten der Politikwissenschaften wurde ich für diesen Standpunkt regelrecht gekreuzigt, dabei bestand ich nur auf Ergebnisoffenheit und auch  Neugier nach der Wahrheit. Die Frage nach der richtigen "Haltung" ist gerade bei jungen, intelligenten Menschen furchtbar ausgeprägt und die "Älteren" sind die Rebellen.

Artur Kilian Vogel

Danke an Stephan Russ-Mohl. Viele Medien haben in dieser Sache eine jämmerliche Rolle gespielt und Skeptiker in die Ecke der Verschwörungstheoretiker relegiert, ohne selber über irgendwelche relevanten Erkenntnisse zu verfügen. Denn wir wissen, wie der Autor richtig schreibt, schlicht und ergreifend nicht, woher das Virus stammt. Es gibt Gründe für die These einer "natürlichen" Mutation, aber ebenso stichhaltige für einen Laborunfall. Luc Montagnier etwa, der kein obskurer Rauner ist, sondern der Mit-Entdecker des HIV-Virus, der deswegen den Nobelpreis für Medizin bekommen hat, ist dezidiert der Meinung, die COVID-19-Pandemie könne nur von einem Labor ausgegangen sein, denn im Genom des Coronavirus SARS-COV-2 befänden sich HIV-Elemente und Malariakeime, die nicht auf natürlichem Weg entstanden sein könnten. Dass Chinas kommunistisches Regime alles daran setzt, diese Theorie zu verunglimpfen und zu verheimlichen, versteht sich von selbst. Und dass die WHO das Spielchen mitmacht, obwohl ihre Delegation in China an freien und unabhängigen Recherchen gehindert worden ist, verwundert auch nicht, denn es handelt sich bei der WHO um eine durch und durch verpolitisierte Organisation. Dass hingegen auch sogenannt seriöse Medien ohne Besitz irgendwelcher zusätzlichen Erkenntnisse blindwütig auf Wissenschaftler eindreschen, die sich erdreisten, die gängige und billige Fledermaus-Theorie infrage zu stellen, stimmt mich als ehemaliger Journalist äusserst bedenklich.