Glosse

Vom Wolf in uns Menschen

Denkt man über das Verhalten von Wölfen nach, so kann man sich fragen, ob die berühmte lateinische Redewendung so überhaupt wirklich zutrifft?

Philipp Meier
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Eine, die es vorzieht, unter Wölfen statt unter Menschen zu leben: Prinzessin Mononoke. (Bild: pd)

Eine, die es vorzieht, unter Wölfen statt unter Menschen zu leben: Prinzessin Mononoke. (Bild: pd)

Meine neunjährige Tochter befasst sich zurzeit mit Wölfen. Da bekommt man mit, wie viel Gemeinsames wir Menschen mit diesen Urahnen unserer Hunde haben. Wölfe teilen sich zum Beispiel das Futter, Hunde würden so etwas nie tun. Hunde legen bezüglich Futterfrage gegenüber Hunden meistens ein Verhalten an den Tag, das man bei Menschen mit «homo homini lupus» umschreibt.

Wer sich indes ein wenig Grundwissen über Wölfe aneignet, dem fällt auf, dass die lateinische Redewendung so eigentlich gar nicht zutrifft. Sie besagt, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, für seinesgleichen einen gefährlichen Feind darstelle. Bei genauerer Betrachtung stimmt dies und stimmt auch nicht. Denn in der Tat verhalten sich Menschen wie Wölfe zueinander: nämlich, indem sie sich untereinander organisieren und sich gegenseitige Hilfestellung leisten.

Dem hier insinuierten Aspekt des lateinischen Sprichworts vom Menschen und vom Wolf, nämlich, dass der Mensch sich mit seinesgleichen solidarisiere, schenkte gleichsam der russische Anarchist Kropotkin grosse Beachtung. Er stellte mit seinem Werk «Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt» der sozialdarwinistischen These des Kampfes ums Dasein eine eigene gegenüber. Allerdings erachtete er beide Thesen als notwendig fürs Überleben und Fortkommen einer Gesellschaft, nur, dass er die seinige als die vorrangige verstanden haben wollte – dass sich also Menschen in erster Linie organisierten und erst in zweiter Linie bekämpften.

«Lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit», heisst es ursprünglich bei Plautus. Ein Wolf also ist der Mensch für den Menschen, sofern man sich nicht kennt. Wird einer nicht als Gleichgesinnter erkannt und anerkannt, weil er – ein «lonely wolf»? – fremd ist und ausserhalb steht, dann kann es wohl sein, dass Arglist, Gier und Gefährlichkeit eines Raubtiers in seine Züge hineingelesen werden, dann mag ein solcher Mensch dem Menschen als artfremd erscheinen.

Wir wissen heute zwar, dass alle Menschen auf der Welt derselben Gattung angehören. Dennoch aber bekämpfen sich die diversen «Rudel». Hobbes hat das Sprichwort «homo homini lupus» denn auch ausdrücklich auf Staaten bezogen. So gingen seit je Stämme auf Stämme los, Sippen und Familien befehden sich, Religionen ziehen gegeneinander in den heiligen Krieg. Das geht vom Grössten bis ins Kleinste, bis zur Scheinschlacht als Steinschlacht der Kinder vom Berg gegen jene vom Fluss. Und dabei macht es den Anschein, als ob sich die einen nur solidarisch zusammenrauften, um gegen die anderen die Oberhand zu gewinnen.

Um auf den Wolf zurückzukommen: Man könnte schon fast glauben, die Menschheit als Gesamtes sei in einer permanenten Phase der Rudelbildung begriffen, wo es andauernd von neuem die Hackordnung zu bestimmen gilt. Was aber den Wolf als Feindbild angeht, so trifft natürlich zu, dass der Mensch der grösste Feind des Wolfes ist und nicht umgekehrt. Dass hingegen in Umkehrung des Sprichworts der Wolf dem Wolf ein «Mensch» sein könnte, würde nur zur Hälfte stimmen: nämlich weil Wölfe sich gegenseitig beistehen, wie dies Menschen tun können, nicht aber weil Wölfe sich selber zu Feinden haben.

Sich selber ein Feind zu sein, und dann erst noch der grösste und heute wohl der einzig wahre, scheint das Exklusivrecht des Menschen zu sein. Der Mensch ist in seiner einzigartigen Ambiguität vor allem anderen eines: dem Menschen ein Mensch, und dies – ganz sprichwörtlich – wohl oder übel.